Ellen Kositza – Rolf Bauerdick: Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk (352 S., 22.99 €). „Zuschreibungen, die das Eigene zum Maßstab zur Auseinandersetzung mit dem Anderen machen, durchdringen das gesamte Buch“: Ein typischer Vorwurf. Was wurde gekläfft gegen dieses so wache wie warmherzige Buch! Bauerdick kennt aus ungezählten Reisen durch elf Länder jene Ethnien, deren Bezeichnung umstritten ist. Bei aller Faszination sieht er die Mißstände klar und liest Leviten. Aus Bauerdicks Sicht gibt es drei Gruppen, die für die Lage der europäischen Zigeuner verantwortlich sind: Erstens die Betroffenen selbst, die jede Selbstverantwortlichkeit für ihre Umstände von sich weisen, zweitens die in Europa seit 1989 herrschenden wirtschaftlichen und politischen Systeme, drittens die „anti-antiziganistische“ Zigeunerlobby, eine moralische Avantgarde, die von der Schreibtischwarte aus einen „keimfreien Diskurs“ diktiert, der die Zigeuner zu Opfern einer rassistischen „Dominanzgesellschaft“ macht und der sie zu Objekten ihrer akademischen Fürsorge bestimmt.
Nils Wegner – Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik (331 Seiten, 39,80 €). Dieses Standardwerk mit seinem auratischen Titel ist nicht nur für „Haltungs-Schmittianer“ (van Laak) und solche, die es werden wollen, interessant. Auch und vielleicht noch mehr bezeugt die Arbeit, was bis in die frühen siebziger Jahre hinein auf (meta)politischer Ebene in der Bundesrepublik möglich war – und macht so klar, was wir heute alles abschreiben können.
Erik Lehnert - Christopher Clark erzählt uns in Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog eigentlich keine neue Geschichte. Daß Deutschland den Krieg nicht wollte, war bekannt. Mittlerweile gibt es über den Juli 1914 aber die abenteuerlichsten Vorstellungen, so daß Clark hier wertvolle (und quellengesättigte) Aufklärungsarbeit leistet. (896 Seiten, 39.99 €)
Martin Lichtmesz - Manfred Kleine-Hartlage: Die liberale Gesellschaft und ihr Ende. Über den Selbstmord eines Systems. Auf das Dschihad-System folgt das Komplementärstück, eine ausgefeilte, wasserdichte Kritik des Liberalismus und seiner fatalen Aporien. Kleine-Hartlage durchkämmt noch die kleinsten ideologischen Schlupfwinkel, und räumt dort mit messerscharfer Klarheit und Treffsicherheit auf. (200 Seiten, 19 €)
Felix Menzel – Paul Collier: Exodus. How Migration Is Changing Our World. Der englische Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier ist mir Anfang November durch ein FAS-Interview aufgefallen, in dem er zu den Lehren aus der Tragödie von Lampedusa befragt wurde. Collier antwortete: Indem Europa Anreize für eine Flucht nach Europa schaffe, treibe es die Menschen in den Tod. Er würde jeden, der illegal nach Europa einreist, sofort wieder zurückschicken, damit diese Praxis keine Nachahmer findet. Auf die multikulturelle Gesellschaft angesprochen, sagte Collier, diese sei nur möglich, wenn es eine sehr selektive Einwanderungspolitik gebe. Sein neuestes Buch Exodus möchte ich empfehlen, weil es zu einer Versachlichung der Migrationsdebatte beitragen könnte. Collier untersucht darin nicht nur die Folgen der Einwanderung für die Aufnahmeländer, sondern analysiert auch die Situation der Länder, aus denen es die Menschen wegzieht – mit einigen starken Thesen! (309 Seiten, 20.80 €)
Benedikt Kaiser – Jürgen Todenhöfer. Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden (448 S., 19.99 €). Wer Peter Scholl-Latours Reisebeschreibungen mag, wird Todenhöfers Nah- und Mittelost-Panorama lieben. Todenhöfer geht allerdings in einem Punkt über den Altmeister hinaus, denn er bezieht deutlicher Stellung: u. a. gegen westliche Interventionen und diese mit Lug und Trug vorbereitenden Falken, für das ehrliche Gespräch mit den als “Schurken” apostrophierten und – vor allem – mit den von ihnen beherrschten Menschen. Man möchte das Buch nach den ersten Seiten nicht aus der Hand legen und mit Todenhöfers sympathischer Mannschaft auf ereignis- wie risikoreiche Fahrt gehen. Spannend wie bewegend auch die zahlreich beigefügten Photographien aus den Krisenregionen. Der gelegentlich allzu selbstverliebte Ton vermag den begeisternden Gesamteindruck nicht zu trüben.
Raskolnikow – James Mollison: Escobar. Pablo Escobar war Kopf eines der einflußreichsten Drogenkartelle der Welt. Photos, Dokumente und berichtartige Texte zeichnen das Leben des Patrón anschaulich nach. 416 S., 16.00 €
(Bestellung der meisten Empfehlungen ist möglich per Epost: [email protected], telefonisch unter 034632–90941 bei Frau Drese oder über die Netzseite des Verlages Antaios.)
Revolte
Besten Dank. Da ist viel Bekanntes, aber auch manch neue Anregung dabei.
Erstaunt bin ich einzig über die Empfehlung von Herrn Kaiser. Will man sich mit einem liberal-humanistischen Schmieranten wie Todenhöfer (oder "Hodentöter", wie ihn liebe Freunde nennen) wirklich gemein machen? Die Selbstverliebtheit Todenhöfers ist übrigens keineswegs nur Peripherie, sie gehört zum zentralen Wesen dieses Mannes.
Wer ihn mal in Gesprächssendungen gesehen hat, kommt nicht umhin, seine ölige, anbiedernde und zugleich zutiefst niederträchtige Art mit einem Höchstmaß an Ekel und Abscheu zu quittieren.