Deutschland hat im letzten Jahrhundert gleich zwei schwere Niederlagen erlitten.
Mir erscheint unzweifelhaft, daß im Trauma, oder besser: in den verschiedenen, sich überlagernden Traumata von 1945 der psychologische Schlüssel zu den kollektiven Schichten der Seele der Deutschen liegt. Er liegt dort gänzlich abgesehen von (geschichts-)politischen und “Bewältigungs”-Aspekten, und wir finden ihn noch tief in der Generation der heute 20jährigen und darunter. Vielleicht sind wir allmählich in der Lage, einen gangbaren Weg durch das Labyrinth unserer eigenen Seelengeschichte zu finden.
Zum 8. Mai nun also eine kleine, innerlich zusammengehörige Sammlung von Zitaten, die mir aus diesem oder jenem Grund als bedeutsam erscheinen, als Bruchstücke dieser Seelengeschichte.
“Anonyma” (d.i. Marta Hillers, 1911–2001), “Eine Frau in Berlin” (1959), 13. Juni 1945:
Während der Heimfahrt sah ich die Menschen aus einem Kino kommen. Sofort stieg ich aus, begab mich zu der nächsten Vorstellung in dem ziemlich leeren Saal. Ein Russenfilm, Titel Sechs Uhr abends nach Kriegsende. Seltsames Gefühl, nach all der selbsterlebten Kolportage wieder in einem Kino zu sitzen, sich etwas vorspielen zu lassen. Unter dem Publikum noch Soldaten neben etlichen Dutzend Deutschen. Kindern zumeist. Kaum eine Frau; noch trauen sie sich nicht ins Dunkle unter all die Uniformen. Übrigens kümmerte sich keiner der Männer um uns Zivilisten, alle schauten zur Leinwand, lachten fleißig.
Ich fraß den Film. Er strotzte vor lebensstarken Typen: breiten Mädchen, gesunden Männern. Ein Tonfilm, er lief in russischer Sprache, ich verstand, da er unter einfachen Menschen spielte, ziemlich viel. Zum Schluß zeigte er als Happy End ein Siegesfeuerwerk über den Türmen von Moskau. Dabei soll er bereits 1944 gedreht worden sein. Das haben unsere Herren nicht riskiert, trotz aller vorweg genommenen Siegesfanfaren. Wieder bedrückt mich unser deutsches Unglück. Bin tieftraurig aus dem Kino gekommen und helfe mir, indem ich alles herbeirufe, was meinem Lebenstrieb das Feuer nimmt. Das Stückchen Shakespeare damals, aus meinem Pariser Notizbuch, als ich Oswald Spengler entdeckte und über seinen Untergang des Abendlandes betrübt war: “A tale told by an idiot, full of sound and fury, and signifying nothing.” Zwei verlorene Weltkriege sitzen uns verdammt tief im Gebein.
Helma Sanders-Brahms (*1940), “Sieger, Opfer, Schuldige” (1990, in: Das Dunkle zwischen den Bildern):
Wir sehen Filme aus dem Jahr 1945. Siegerfilme, Filme der verschiedenen Siegermächte, wir sehen sie jubeln in Warschau und Moskau, in Paris und London, in New York und in Washington, und der Jubel macht uns sterbenselend. Wir waren der Welt eine unerträgliche Last, die sie jetzt, 1945, abgeschüttelt hat. Wir waren die Mörder, die endlich das Gericht ereilt. Und unsere Opfer werden befreit. Wir sehen, immer wieder, die Hände des zum Skelett abgemagerten Juden, die er auf der Bahre zum Himmel reckt. Und das Blut ihrer Missetat soll über sie kommen und über ihre Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied. (…)
Wir sehen Feuerwerke aufsteigen in die Himmel von Moskau und Paris, von Warschau und Prag, von London und New York. Frei ist die Welt, frei von den Deutschen, die abgemagert und zerlumpt aus dem Krieg zurückkehren, in dem sie die Welt erobern wollten. Wollten? Sollten? Diese Frage haben wir uns zeitlebens gestellt. Was war mit unseren Eltern? Waren sie dafür oder dagegen, waren sie Mitläufer, Kämpfer, waren sie Nazis, ein bißchen, viel, gar nicht? Wir haben ihnen zugehört, wenn sie erzählten, nach Worten des Abscheus gesucht, um uns selbst mögen zu können, und wenn dafür Worte der Rechtfertigung kamen, konnten wir uns nicht mehr im Spiegel ansehen. Wir, ihre Kinder. (…)
Die Tore der KZs gingen auf. Wir sehen sie aufgehen im Kino, wir sehen die Verhungerten, die Gefolterten, die Überlebenden herausquellen, die Militärwagen der Sieger umringen. Wenn einmal ein Krieg gerechtfertigt war, hören wir sie im Kommentar sagen, dann war es dieser, der uns ermöglicht hat, diese Menschen zu befreien. In den Militärwagen: Amerikaner, Engländer, Franzosen, Russen. Die menschlicheren Menschen. Und die Geschichten, die ihre Liebesgeschichten erzählen, sind menschlichere Geschichten. Die aus den Nazi-Werkstätten wirken, als wären sie unter Anästhesie gedreht. Deutsche sind Teufel. Deutsche sind Schweine. Deutsche gehören ausgerottet. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. Ich bin eine Deutsche.
Sophie Dannenberg (* 1971), “Das bleiche Herz der Revolution” (2004):
“Was ist mit ihren Kindern? Kennen die Ihre Geschichte?”
Emil verzog den faltigen Mund. “Meine Kinder, ja doch, die kennen meine Geschichte, aber es ist nicht die ihre. So wie ich Eltern und Großeltern habe, so habe ich keine Kinder. Meine Kinder sind nicht meine Erben. Sie führen nicht fort. Sie sind fortschrittliche Menschen, stolze Besitzer eines selektiven Gedächtnisses, ohne Neugier, ohne Mitleid, ganz und gar gnadenlos. Irgendwann wollten sie wissen, was ich im Krieg gemacht habe. Ich habe begonnen, zu erzählen. Das Ritterkreuz war ein Schandfleck für sie, dafür sollte ich um Verzeihung bitten. Ich glaube, sie hätten darin ein Taufritual gesehen, nur umgekehrt. Danach bin ich verstummt. Und sie auch. Lange Zeit glaubte ich, daß sie unserer Generation den Krieg verübelt haben. Aber das haben sie nicht, wie ich später begriff.”
“Ach?” Captain Wesley beugte sich vor. “Was haben sie Ihnen denn verübelt?”
“Daß wir den Krieg verloren haben”, sagte Emil Caspari, “daß wir nicht die mächtigen Rächer waren, die wir gewesen sein sollten, sondern Krüppel und Deutsche, denen man das Rückgrat gebrochen hat. Daß wir voller Trauer sind und voller Heimweh, daß wir uns erinnern, das mögen sie nicht. Sie leben im Hier und Jetzt, in fröhlicher Verzweiflung.”
“Anonyma” (d.i. Marta Hillers, 1911–2001), “Eine Frau in Berlin” (1959), 26. April 1945:
Immer wieder bemerke ich in diesen Tagen, daß sich mein Gefühl, das Gefühl aller Frauen den Männern gegenüber ändert. Sie tun uns leid, erscheinen uns so kümmerlich und kraftlos. Das schwächliche Geschlecht. Eine Art von Kollektiv-Enttäuschung bereitet sich unter der Oberfläche bei den Frauen vor. Die männerbeherrschte, den starken Mann verherrlichende Naziwelt wankt – und mit ihr der Mythos “Mann”. In früheren Kriegen konnten die Männer darauf pochen, daß ihnen das Privileg des Tötens und Getötetwerdens fürs Vaterland zustand. Heute haben wir Frauen daran teil. Das formt uns um, macht uns krötig. Am Ende des Krieges steht neben vielen anderen Niederlagen auch die Niederlage der Männer als Geschlecht.
Armin Mohler (1920–2003), “Der Nasenring” (1990):
Für die weitere Entwicklung der Vergangenheitsbewältigung hatte es verhängnisvolle Folgen, daß der Deutsche von 1945, der doch so formbar gewesen wäre, mit einer manichäischen Weltsicht konfrontiert wurde, die ihm keine mit seinen Erfahrungen und seiner geistig-seelischen Verfassung übereinstimmende Reaktion erlaubte. Für Besiegte gibt es keine Nuancen. Die Deutschen hatten damals bloß die Wahl zwischen zwei Extremen und einem Ausweichen. Sie hatten die Wahl, entweder alle Beschuldigungen en bloc und im voraus zu akzeptieren oder alles als erfunden abzulehnen oder dann – einfach abzuschalten. Keiner, der eine nüchterne Sicht der Natur hat, wird darüber erstaunt sein, daß die Mehrheit den dritten Weg wählte. (Wobei anzumerken ist, daß das Abschalten durchaus mit dem Lippendienst vereinbar war – in jener Nachkriegszeit wurden die Deutschen, vielleicht erstmals in ihrer Geschichte, zu Schlaumeiern.)