Tatsächlich sind Sätze wie die zitierten Ausnahmen, genauso wie die dahinter stehenden Überzeugungen. Bei den Landsleuten Renans dürfte die Anerkennung und Bewunderung des deutschen Kampfes jedenfalls kaum auf Verständnis getroffen sein. Das war allerdings einer der Gründe, warum ihn Georges Sorel, ein anderer französischer Außenseiter, zusammen mit Manzoni zitiert hat. Sorel führte beide an, um seine eigene Auffassung zu bekräftigen, daß gerade der »Deutsche in außerordentlichem Grade mit dem Erhabenen genährt worden« sei, nämlich durch die Befreiungskriege, deren »epischer« Charakter einmal die Hinwendung zur nationalen Vergangenheit bewirkt hatte, dann die Entstehung einer neuen – der romantischen – Dichtung und schließlich noch die Geburt der idealistischen Philosophie.
Es soll hier nicht um die Frage gehen, ob Sorel damit Ursache und Wirkung im einzelnen richtig bestimmt hat, entscheidend ist vielmehr, daß er den Begriff des »Epos« in seinem ursprünglichen Sinn als Erzählung von Heldentaten verstand und der Meinung war, daß die Befreiungskriege auf die Deutschen jenen Einfluß hatten, den die Ilias für die antiken Griechen besaß. Damit wertete Sorel das Epos als Äquivalent des »Mythos«, denn beider Wirkung beruht nicht auf Einsicht und Begründbarkeit, sondern auf gefühlsmäßiger Zustimmung und Begeisterung. Bekannt ist, daß Sorel unter dem Mythos ein »Schlachtengemälde« verstand, ein »ungeschiedenes Ganzes«, das im Betrachter Überzeugungen schafft, »die ähnlich den religiösen hinlänglich absolut sind, um viele der materiellen Umstände, die bei der Wahl der einzuschlagenden Richtung des Handelns gewöhnlich in Erwägung gezogen werden, vergessen zu lassen«. Natürlich nicht in jedem Betrachter, nicht in den »schwachen Seelen« und nicht im »abstrakten Menschen«, denn der eine wird im Mythos immer nur das Gefährlich-Gefährdende sehen, der andere das Irrationale, womit beide sich aber auch zu erkennen geben als die, die von den Lebensgesetzen nichts verstanden haben. Denn die Geschichte lehrt, daß ohne den »achäischen Typus«, der seine Vorbilder im Epos findet, nicht auszukommen ist, und daß kein Volk überleben kann, das die Fähigkeit verliert, über den Mythos »in sich selbst zurückzukehren«.
Sorels These von der »Ohnmacht der Worte« hätte noch vor kurzem allfällige Empörung ausgelöst. Im Namen der »ersten« oder »zweiten Aufklärung«, der Moderne, der westlichen Werte etc. wäre Protest laut geworden. Mittlerweile ist er verstummt, oder doch fast unhörbar. Das hat nicht nur mit dem Bedeutungsverlust der Philosophie zu tun, sondern auch mit einer unmerklichen Verschiebung der Wirklichkeitswahrnehmung, die den Menschen immer weniger als animal rationale, immer stärker als Funktion aller möglichen Bedingungen ansieht, die er weder verstehen noch kontrollieren kann. Ein echter anthropologischer Neuansatz entstand daraus nicht, aber so wie mittlerweile ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß unsere genetische Disposition und die unbewußten Akte entscheidende Bedeutung für unser Dasein wie unser Handeln haben, so ist längst stillschweigend anerkannt, daß unsere Vorstellungen stärker durch Bilder als durch Begriffe geprägt werden.
Auch dahinter findet sich keine Theorie im genauen Sinn, aber es gibt eine Art Erklärungsmosaik, und in dessen Zentrum die Annahme, daß das Gehirn die meisten Eindrücke in einer Reihe automatisierter Prozesse umsetzt, von denen wir nichts bemerken, die aber unsere Einstellungen und Handlungen nachhaltig bestimmen. Interessanterweise wird der »Autopilot« im wesentlichen durch Bilder und Narrative geprägt, die wir wie selbstverständlich im Lauf unseres Lebens aufgenommen, mehr oder weniger verstanden, beurteilt und gemerkt haben. Unser Selbstverständnis bildet sich durch Rückgriff auf diesen Fundus, sofern er mit »stark emotional geprägten Erlebnissen« verknüpft ist: »Jeder von uns hat Hunderte bis Tausende solcher Bilder, aus denen er seine persönliche Identität zusammenstellt.« (Ernst Pöppel)
Übersehen wird allerdings häufig, daß diese Bilder nur zum Teil individuelle sind, sehr viele haben wir mit anderen gemeinsam. Insofern geht es hier auch nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, um »persönliche«, viel stärker um »kollektive Identität«. Denn die einflußreichsten Bilder sind kulturspezifische, deren Verankerung mit unserer Erziehung und Sozialisation zu tun hat. Sie gehören zu einem Gemeinschaftsgedächtnis, dessen Erforschung in den letzten Jahren zu einer Art wissenschaftlicher Mode geworden ist. Der Hinweis auf die Konjunktur sollte aber niemanden davon abhalten, sich mit den Ergebnissen zu befassen. Der Altmeister der Richtung, Jan Assmann, hat jedenfalls früh und zu Recht darauf hingewiesen, daß historisches Bewußtsein zu den Universalien gehört. Den Menschen interessiert die Vergangenheit seit je, ganz unabhängig von irgendeiner wissenschaftlichen Historiographie; er befaßt sich mit ihr offenbar aus einem tiefen Bedürfnis, das mit Neugier nicht ausreichend erklärt werden kann, sondern mit dem Bedürfnis nach Vergewisserung zusammenhängt. Schon die Stabilität des Ich hängt entscheidend davon ab, daß ihm mitgeteilt wird, wie es war, bevor seine eigene Erinnerung ansetzt, und es muß einen Entwurf vom Verlauf seines Lebens machen, der dazu sinnvoll in Beziehung gesetzt werden kann und eine schlüssige Begründung für die Wahrnehmung der eigenen Biographie liefert; mit einem Wort Napoleons: »Une tête sans mémoire est une place sans garnison« – »Ein Kopf ohne Erinnerung ist ein Platz ohne Garnison.«
Im Prinzip verhält es sich mit der Gemeinschaft nicht anders, deren Glieder darüber zu belehren sind, was mit den Ahnen war, in welchem Verhältnis die Heutigen zu ihnen stehen und welche Leitvorstellungen aufrechterhalten werden müssen, um die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart (und Zukunft) zu gewährleisten. Gemeinsame Erinnerung, so die These Assmanns, gehört zu den wesentlichen Voraussetzung jeder »Ethnogenese«, der Volkwerdung, und jeder »Ethnostase«, dem Bestand eines Volkes. Während es in der Ethnogenese zuerst darum geht, jene Menge an Erzählungen und Bildern zu bestimmen, die es erlaubt, die Geburt des Wir festzuhalten und verständlich zu machen und es hinreichend deutlich gegenüber dem Nicht-Wir abzugrenzen, sind in der Folge Institutionen zu schaffen, die das Tradieren sicherstellen, für eine Kanonisierung der Inhalte sorgen und damit die Ethnostase ermöglichen. Es gibt dabei ein Spektrum verschiedener Konzepte, aber einen Kernbestand, der sich sowohl in primitiven wie auch in komplexen Kulturen findet. Erwähnt sei schließlich, daß das Kollektiv- wie das Individualgedächtnis Momente der »Umwidmung« kennt, und weiter ist im Lauf der Zeit ein wachsendes Maß an Rigidität bemerkbar, falls der fixierte Bestand durch Gegen-Erzählungen oder Gegen-Bilder in Frage gestellt wird.
An den Befreiungskriegen als entscheidender Bezugsgröße der deutschen Gemeinschaftserinnerung ist das von Assmann Gesagte unschwer nachzuweisen. Zwar kann nicht von Ethnogenese gesprochen werden, da das deutsche Volk als Akteur schon auf dem Platz war, aber ohne Zweifel hat sich das moderne Nationalbewußtsein der Deutschen erst im Gefolge des Kampfs gegen Napoleon ausgebildet. Der nachhaltige Eindruck, den die revolutionäre Mobilisierung einerseits, die französische Besetzung andererseits, auf die Deutschen machte, erfaßte zuerst die Eliten, hat aber auch in den Massen die Vorstellung von einem gemeinsamen Schicksal aufgerufen, deren Hintergrund eine wenngleich unklare Idee gemeinsamer Herkunft und gemeinsamer Geschichte bildete. Dabei wurde die Deutung, die den Befreiungskrieg nicht als Aktion der beteiligten Monarchen oder als übliche Form eines Großkonflikts verstand, sondern als Tat der Nation, natürlich nur allmählich und gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt. Das erklärt die Zahl der Texte, in denen sich dieser Kampf um die Interpretationshoheit niedergeschlagen hat, etwa Ludwig Uhlands Gedicht »Am 18. Oktober 1816«, das den gefallenen Theodor Körner auftreten und am dritten Jahrestag der Völkerschlacht anklagend singen läßt.
Die Bitterkeit der Verse Uhlands hatte nicht nur mit den Machtverhältnissen im Zeitalter der Restauration zu tun, sondern auch mit dem Konflikt um das richtige Verständnis der Ereignisse. Denn die wurden im Vormärz verbreitet in konservativem Sinn aufgefaßt, so daß man dementsprechend von Befreiungskriegen sprach, als sei es lediglich um einen Kampf gegen den Landesfeind gegangen, wogegen die patriotische und liberale oder demokratische Sicht zuerst nur in einer relativ kleinen, aber immer einflußreicher werdenden Gruppe eine bestimmende Rolle spielte. Daß es ihr gelang, das eigene Epos und den eigenen Mythos – um die Begriffe Sorels noch einmal zu benutzen – allmählich durchzusetzen, war aber nicht nur auf Einsatzwillen zurückzuführen oder die starke Position unter den Meinungsbildnern, sondern auch auf die Gunst der historischen Umstände und den Abstieg der Gegner, die ihre eigene Vorstellung nicht länger glaubwürdig halten konnten. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß die Idee des Befreiungs- als Nationalkrieg bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine oppositionelle war, die sich selbst nach der Reichsgründung nicht vollständig durchgesetzt hatte. Die vor allem unter Großdeutschen und Deutschnationalen verbreitete Auffassung, daß 1871 gegen Frankreich erreicht wurde, was 1813 begonnen worden war, entsprach jedenfalls nicht der offiziellen Lesart. Und noch an der Säkularfeier von 1913, die mit großem Aufwand begangen wurde, konnte man eine deutliche Spaltung zwischen dem offiziell-monarchischen Verständnis – »Der König rief und alle, alle kamen« –, dem reichsnationalen – Sieg über den »Erbfeind« – und einem jungdeutschen – die »Ideen« von 1813 als Vermächtnis an die kommende Generation – wahrnehmen.
Am wirkmächtigsten hat sich überraschenderweise das jungdeutsche Verständnis erwiesen, weil es zukunftsfähig war, das heißt auch unter dramatisch veränderten Bedingungen ein plausibles Geschichtsbild gab. Das erklärt die Bedeutung für die Ikonographie und die politischen Zukunftsentwürfe nach dem Zusammenbruch von 1918, nicht nur im Bereich der Etablierten, sondern auch in der »nationalen Opposition« und dissidenten Teilen der Linken. Ein Erfolg, der noch ablesbar war am Pathos der »Weißen Rose«, das nicht zufällig an Körner erinnerte, oder der Vorstellung Stauffenbergs, man müsse auf Gneisenau zurückgreifen, aber auch in der Anlage des Kolberg-Films und der Aufbietung eines »Volks-« anstelle eines »Landsturms«.
Umgekehrt macht dieser Erfolg verständlich, warum nach 1945 nur die DDR (und auch die nur stark zensiert) versucht hat, sich dieser Tradition zu bedienen, während die Bundesrepublik einen seltsamen Zickzackkurs verfolgte, indem ihre Führung einerseits betonte, daß die Befreiungskriege zu den wenigen unbeschädigten Beständen der nationalen Geschichte gehörten, andererseits alles tat, um den neuen Alliierten Frankreich nicht zu düpieren, jeden Verdacht eines zweiten Tauroggen abzuwehren und keinesfalls den Eindruck zu erwecken, als ob man die eigene Situation mit der Preußens nach 1806 vergleiche, – was zwangsläufig zu dem Schluß hätte führen müssen, daß man sich auch auf ein neues 1813 vorbereite. Für längere Zeit ist die Unentschiedenheit kaum aufgefallen, da gewisse Teile älterer Geschichtsbilder einfach weitergeführt wurden, so daß die Gefährdung der Ethnostase auf diesem Feld nicht ins Gewicht zu fallen schien, aber spätestens nach der Kulturrevolution von 1968 riß die Überlieferung ab.
Man darf den Utopismus der Neuen Linken nicht dahingehend mißverstehen, als ob sie verkannt hätte, wie wichtig die Kontrolle über die Geschichtsbilder der Gemeinschaft ist. Ganz im Gegenteil: zu den entscheidenden Impulsen ihrer Bewegung gehörte sicher, das bestehende durch ein alternatives Geschichtsbild zu ersetzen. Am konsequentesten nahm das Gestalt an in jenen Entwürfen, die sich bemühten, die »progressiven« Stränge im ganzen der deutschen Vergangenheit zu bündeln: von den Bauernkriegen über die Aktivitäten der Mainzer Jakobiner, die Männer des Vormärz, die Radikalen von 1848, die Arbeiterbewegung bis zu den Novemberrevolutionären, den Antifaschisten der Weimarer Zeit und dem linken Widerstand vor und nach 1945. Ein Problem war dabei aber nicht nur die Ähnlichkeit zur »Erbe-Politik« der DDR, sondern auch die größere Zimperlichkeit der Westdeutschen, die anders als die SED-Führung nie wagten, Arminius, Luther neben Müntzer, schließlich noch Friedrich den Großen, Bismarck, die konservative Opposition gegen Hitler und selbstverständlich die Befreiungskriege mit einzubeziehen. Die Folge war ein völliger Mangel an Kontinuität und ein so angestrengtes Bemühen, jeden nationalen Zungenschlag zu vermeiden, daß das Projekt in den achtziger Jahren wegen fehlender Resonanz aufgegeben werden mußte. Das konnte man natürlich nur wagen, weil keine Gefahr bestand, daß der Gegner die Geschichtspolitik übernehmen würde. Es spielte allerdings auch der Eindruck mit, als ob die gesellschaftliche Entwicklung den Bedeutungsverlust der kollektiven Erinnerung förderte und man sich gefahrlos mit der Konsumgesellschaft wie der Geschichtsverdrossenheit abfinden dürfe.
Seit dem Beginn der siebziger Jahre war in bürgerlichen Kreisen über den »Verlust der Geschichte« geklagt worden, den man wahlweise auf die Verdrängung der Historiographie durch die Gesellschaftswissenschaften oder auf den Modernisierungsprozeß oder auf die Einflußnahme der Linken zurückführte. Aber die Verteidigung blieb im allgemeinen defensiv, bezog sich bestenfalls auf die »antiideologische Wirkung der Geschichte« (Thomas Nipperdey), nicht auf die Notwendigkeit ihrer sinnstiftenden Funktion. Zu den wenigen Ausnahmen von der Regel gehörte der Historiker Hellmut Diwald, der schon 1975 klarstellte, daß »ohne Geschichtsbewußtsein unser Lebensboden verkarstet«. Was Diwald vor Augen stand, wenn er »Mut zur Geschichte« forderte, war in erster Linie die Bereitschaft, sich neu und vertieft mit der eigenen Nationalgeschichte zu befassen, sie in ihrem Reichtum zur Kenntnis zu nehmen und die erzieherische Wirkung dieser Kenntnis wieder zu begreifen. Ein Programm, für das er zwar begeisterte Zustimmung unter seinen Lesern fand, aber keine Unterstützung in der eigenen Zunft, die sich wie kaum eine andere den politischen Vorgaben unterwarf und auch Handlangerdienste leistete bei jener Reduzierung der deutschen Vergangenheit auf Auschwitz als »Gründungsmythos« (Joschka Fischer) und einzigen Inhalt einer notwendig negativ bestimmten Identität.
Trotz des ungeheuren propagandistischen Aufwands, der betrieben wurde, um diese Vorstellung im Gedächtnis der Gemeinschaft zu verankern, wird man den Ansatz als gescheitert betrachten müssen. Das ist nicht nur an dem juristischen Aufwand zu erkennen, der zum Schutz der »richtigen« Deutungen betrieben wird, oder an den Ritualen der eigens entwickelten Zivilreligion, sondern stärker noch an der Hektik, mit der man Substitute anbietet. Längst hat die Bewußtseinsindustrie das Thema Identität wiederentdeckt und entwickelt Konzepte, um das entstandene Vakuum zu füllen. Deutlich ablesbar wird das etwa an der Gründung eines »Rats für Kulturelle Bildung« Ende des vergangenen Jahres. Denn dieses quasiamtliche Gremium soll mit Deckung der UNESCO und interessierter Wirtschaftskreise (selbstverständlich ist die Bertelsmann-Stiftung beteiligt) die Dekonstruktion aller überlieferten Bestände vorantreiben und eine Vorstellung von Identität forcieren, die die Atomisierung der Gesellschaft genauso voraussetzt wie die Bereitschaft des westlichen Menschen, sich permanent aus einem unüberschaubaren Angebot zu bedienen und »neu zu erfinden«. Um Bindung an die Geschichte, die traditionell der Ethnostase diente, geht es keinesfalls, vielmehr darum, die konkrete Vergangenheit auszulöschen und eine »ewige Gegenwart« (Jan Assmann) zu erzeugen, für die es nichts gibt als das Hier und Jetzt und zum Zweck des Kontrasts eine Menge schwarzer Legenden.
Der Versuch ist an sich nicht neu und typisch für hyperstabile Sozialformen, denen es gelingt, die Erinnerung auf einen geschichtlichen Punkt zu konzentrieren und dessen Deutung streng festzulegen. Aber er ist bisher regelmäßig an der subversiven Wirkung von Vergangenheitskenntnis gescheitert. Die steht heute in Hülle und Fülle bereit. Damit sei nicht behauptet, daß es genügt, auf die zersetzende Kraft zu warten oder darauf, daß das Netz oder die Reenactement-Szene jene Angebote schafft, die die zuständigen Institutionen nicht mehr zur Verfügung stellen wollen. Es genügt auch nicht die Kenntnis der großen Ereignisse, um jene Epen und Mythen wieder ins Gedächtnis der Nation zu rufen, von denen eingangs die Rede war. Aber es besteht nach wie vor die Möglichkeit, da anzuknüpfen, wo der Faden abgerissen wurde. Wer einmal Heranwachsende beobachten konnte, denen man eine Filmsequenz gezeigt hat, in der König Heinrich seinen Männern »Haltet stand!« zuruft, als die asiatischen Horden angreifen, oder die Württemberger während der Völkerschlacht bei Leipzig die Front wechseln und sich mit dem Ruf »Wir sind auch Deutsche!« gegen die Männer Napoleons stellen, wird wissen, wovon die Rede ist.
Es geht dabei selbstverständlich nicht um Geschichte als Gegenstand der Forschung oder kritischer Würdigung, sondern um die Imagination, die sie hervorrufen kann. Es geht heute aber vor allem um die »antagonistische Kraft« des Vergangenen, oder mit den Worten eines Autors, der hier kaum je zustimmend zitiert wird: »Die Erinnerung kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine Weise der ›Vermittlung‹, die für kurze Augenblicke die Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht. Das Gedächtnis ruft vergangenen Schrecken wie vergangene Hoffnung in die Erinnerung zurück.« (Herbert Marcuse)