Die große Erzählung

53pdf der Druckfassung aus Sezession 53 / April 2013

von Karlheinz Weißmann

Der erste der nebenstehenden Texte stammt von dem französischen Orientalisten, Religionswissenschaftler und politischen Theoretiker Ernest Renan, der zweite von dem italienischen Dichter Alessandro Manzoni. Es handelt sich um ungewöhnliche Zeugnisse, da man gemeinhin annimmt (und annehmen darf), daß die Befreiungskriege außerhalb Deutschlands kaum irgendeinen Widerhall gefunden haben, daß man sie selbst unter den Beteiligten als übliche militärische Operation betrachtet hat und nach den Kriterien »Sieg« oder »Niederlage« beurteilte.

Tat­säch­lich sind Sät­ze wie die zitier­ten Aus­nah­men, genau­so wie die dahin­ter ste­hen­den Über­zeu­gun­gen. Bei den Lands­leu­ten Ren­ans dürf­te die Aner­ken­nung und Bewun­de­rung des deut­schen Kamp­fes jeden­falls kaum auf Ver­ständ­nis getrof­fen sein. Das war aller­dings einer der Grün­de, war­um ihn Geor­ges Sor­el, ein ande­rer fran­zö­si­scher Außen­sei­ter, zusam­men mit Man­zo­ni zitiert hat. Sor­el führ­te bei­de an, um sei­ne eige­ne Auf­fas­sung zu bekräf­ti­gen, daß gera­de der »Deut­sche in außer­or­dent­li­chem Gra­de mit dem Erha­be­nen genährt wor­den« sei, näm­lich durch die Befrei­ungs­krie­ge, deren »epi­scher« Cha­rak­ter ein­mal die Hin­wen­dung zur natio­na­len Ver­gan­gen­heit bewirkt hat­te, dann die Ent­ste­hung einer neu­en – der roman­ti­schen – Dich­tung und schließ­lich noch die Geburt der idea­lis­ti­schen Philosophie.

Es soll hier nicht um die Fra­ge gehen, ob Sor­el damit Ursa­che und Wir­kung im ein­zel­nen rich­tig bestimmt hat, ent­schei­dend ist viel­mehr, daß er den Begriff des »Epos« in sei­nem ursprüng­li­chen Sinn als Erzäh­lung von Hel­den­ta­ten ver­stand und der Mei­nung war, daß die Befrei­ungs­krie­ge auf die Deut­schen jenen Ein­fluß hat­ten, den die Ili­as für die anti­ken Grie­chen besaß. Damit wer­te­te Sor­el das Epos als Äqui­va­lent des »Mythos«, denn bei­der Wir­kung beruht nicht auf Ein­sicht und Begründ­bar­keit, son­dern auf gefühls­mä­ßi­ger Zustim­mung und Begeis­te­rung. Bekannt ist, daß Sor­el unter dem Mythos ein »Schlach­ten­ge­mäl­de« ver­stand, ein »unge­schie­de­nes Gan­zes«, das im Betrach­ter Über­zeu­gun­gen schafft, »die ähn­lich den reli­giö­sen hin­läng­lich abso­lut sind, um vie­le der mate­ri­el­len Umstän­de, die bei der Wahl der ein­zu­schla­gen­den Rich­tung des Han­delns gewöhn­lich in Erwä­gung gezo­gen wer­den, ver­ges­sen zu las­sen«. Natür­lich nicht in jedem Betrach­ter, nicht in den »schwa­chen See­len« und nicht im »abs­trak­ten Men­schen«, denn der eine wird im Mythos immer nur das Gefähr­lich-Gefähr­den­de sehen, der ande­re das Irra­tio­na­le, womit bei­de sich aber auch zu erken­nen geben als die, die von den Lebens­ge­set­zen nichts ver­stan­den haben. Denn die Geschich­te lehrt, daß ohne den »achäi­schen Typus«, der sei­ne Vor­bil­der im Epos fin­det, nicht aus­zu­kom­men ist, und daß kein Volk über­le­ben kann, das die Fähig­keit ver­liert, über den Mythos »in sich selbst zurückzukehren«.

Sor­els The­se von der »Ohn­macht der Wor­te« hät­te noch vor kur­zem all­fäl­li­ge Empö­rung aus­ge­löst. Im Namen der »ers­ten« oder »zwei­ten Auf­klä­rung«, der Moder­ne, der west­li­chen Wer­te etc. wäre Pro­test laut gewor­den. Mitt­ler­wei­le ist er ver­stummt, oder doch fast unhör­bar. Das hat nicht nur mit dem Bedeu­tungs­ver­lust der Phi­lo­so­phie zu tun, son­dern auch mit einer unmerk­li­chen Ver­schie­bung der Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung, die den Men­schen immer weni­ger als ani­mal ratio­na­le, immer stär­ker als Funk­ti­on aller mög­li­chen Bedin­gun­gen ansieht, die er weder ver­ste­hen noch kon­trol­lie­ren kann. Ein ech­ter anthro­po­lo­gi­scher Neu­an­satz ent­stand dar­aus nicht, aber so wie mitt­ler­wei­le ganz selbst­ver­ständ­lich vor­aus­ge­setzt wird, daß unse­re gene­ti­sche Dis­po­si­ti­on und die unbe­wuß­ten Akte ent­schei­den­de Bedeu­tung für unser Dasein wie unser Han­deln haben, so ist längst still­schwei­gend aner­kannt, daß unse­re Vor­stel­lun­gen stär­ker durch Bil­der als durch Begrif­fe geprägt werden.

Auch dahin­ter fin­det sich kei­ne Theo­rie im genau­en Sinn, aber es gibt eine Art Erklä­rungs­mo­sa­ik, und in des­sen Zen­trum die Annah­me, daß das Gehirn die meis­ten Ein­drü­cke in einer Rei­he auto­ma­ti­sier­ter Pro­zes­se umsetzt, von denen wir nichts bemer­ken, die aber unse­re Ein­stel­lun­gen und Hand­lun­gen nach­hal­tig bestim­men. Inter­es­san­ter­wei­se wird der »Auto­pi­lot« im wesent­li­chen durch Bil­der und Nar­ra­ti­ve geprägt, die wir wie selbst­ver­ständ­lich im Lauf unse­res Lebens auf­ge­nom­men, mehr oder weni­ger ver­stan­den, beur­teilt und gemerkt haben. Unser Selbst­ver­ständ­nis bil­det sich durch Rück­griff auf die­sen Fun­dus, sofern er mit »stark emo­tio­nal gepräg­ten Erleb­nis­sen« ver­knüpft ist: »Jeder von uns hat Hun­der­te bis Tau­sen­de sol­cher Bil­der, aus denen er sei­ne per­sön­li­che Iden­ti­tät zusam­men­stellt.« (Ernst Pöppel)

Über­se­hen wird aller­dings häu­fig, daß die­se Bil­der nur zum Teil indi­vi­du­el­le sind, sehr vie­le haben wir mit ande­ren gemein­sam. Inso­fern geht es hier auch nicht nur, und nicht ein­mal in ers­ter Linie, um »per­sön­li­che«, viel stär­ker um »kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät«. Denn die ein­fluß­reichs­ten Bil­der sind kul­tur­spe­zi­fi­sche, deren Ver­an­ke­rung mit unse­rer Erzie­hung und Sozia­li­sa­ti­on zu tun hat. Sie gehö­ren zu einem Gemein­schafts­ge­dächt­nis, des­sen Erfor­schung in den letz­ten Jah­ren zu einer Art wis­sen­schaft­li­cher Mode gewor­den ist. Der Hin­weis auf die Kon­junk­tur soll­te aber nie­man­den davon abhal­ten, sich mit den Ergeb­nis­sen zu befas­sen. Der Alt­meis­ter der Rich­tung, Jan Ass­mann, hat jeden­falls früh und zu Recht dar­auf hin­ge­wie­sen, daß his­to­ri­sches Bewußt­sein zu den Uni­ver­sa­li­en gehört. Den Men­schen inter­es­siert die Ver­gan­gen­heit seit je, ganz unab­hän­gig von irgend­ei­ner wis­sen­schaft­li­chen His­to­rio­gra­phie; er befaßt sich mit ihr offen­bar aus einem tie­fen Bedürf­nis, das mit Neu­gier nicht aus­rei­chend erklärt wer­den kann, son­dern mit dem Bedürf­nis nach Ver­ge­wis­se­rung zusam­men­hängt. Schon die Sta­bi­li­tät des Ich hängt ent­schei­dend davon ab, daß ihm mit­ge­teilt wird, wie es war, bevor sei­ne eige­ne Erin­ne­rung ansetzt, und es muß einen Ent­wurf vom Ver­lauf sei­nes Lebens machen, der dazu sinn­voll in Bezie­hung gesetzt wer­den kann und eine schlüs­si­ge Begrün­dung für die Wahr­neh­mung der eige­nen Bio­gra­phie lie­fert; mit einem Wort Napo­le­ons: »Une tête sans mémoi­re est une place sans gar­ni­son« – »Ein Kopf ohne Erin­ne­rung ist ein Platz ohne Garnison.«

Im Prin­zip ver­hält es sich mit der Gemein­schaft nicht anders, deren Glie­der dar­über zu beleh­ren sind, was mit den Ahnen war, in wel­chem Ver­hält­nis die Heu­ti­gen zu ihnen ste­hen und wel­che Leit­vor­stel­lun­gen auf­recht­erhal­ten wer­den müs­sen, um die Ver­bin­dung von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart (und Zukunft) zu gewähr­leis­ten. Gemein­sa­me Erin­ne­rung, so die The­se Ass­manns, gehört zu den wesent­li­chen Vor­aus­set­zung jeder »Eth­no­ge­nese«, der Volk­wer­dung, und jeder »Eth­no­sta­se«, dem Bestand eines Vol­kes. Wäh­rend es in der Eth­no­ge­nese zuerst dar­um geht, jene Men­ge an Erzäh­lun­gen und Bil­dern zu bestim­men, die es erlaubt, die Geburt des Wir fest­zu­hal­ten und ver­ständ­lich zu machen und es hin­rei­chend deut­lich gegen­über dem Nicht-Wir abzu­gren­zen, sind in der Fol­ge Insti­tu­tio­nen zu schaf­fen, die das Tra­die­ren sicher­stel­len, für eine Kano­ni­sie­rung der Inhal­te sor­gen und damit die Eth­no­sta­se ermög­li­chen. Es gibt dabei ein Spek­trum ver­schie­de­ner Kon­zep­te, aber einen Kern­be­stand, der sich sowohl in pri­mi­ti­ven wie auch in kom­ple­xen Kul­tu­ren fin­det. Erwähnt sei schließ­lich, daß das Kol­lek­tiv- wie das Indi­vi­du­al­ge­dächt­nis Momen­te der »Umwid­mung« kennt, und wei­ter ist im Lauf der Zeit ein wach­sen­des Maß an Rigi­di­tät bemerk­bar, falls der fixier­te Bestand durch Gegen-Erzäh­lun­gen oder Gegen-Bil­der in Fra­ge gestellt wird.

An den Befrei­ungs­krie­gen als ent­schei­den­der Bezugs­grö­ße der deut­schen Gemein­schafts­er­in­ne­rung ist das von Ass­mann Gesag­te unschwer nach­zu­wei­sen. Zwar kann nicht von Eth­no­ge­nese gespro­chen wer­den, da das deut­sche Volk als Akteur schon auf dem Platz war, aber ohne Zwei­fel hat sich das moder­ne Natio­nal­be­wußt­sein der Deut­schen erst im Gefol­ge des Kampfs gegen Napo­le­on aus­ge­bil­det. Der nach­hal­ti­ge Ein­druck, den die revo­lu­tio­nä­re Mobi­li­sie­rung einer­seits, die fran­zö­si­sche Beset­zung ande­rer­seits, auf die Deut­schen mach­te, erfaß­te zuerst die Eli­ten, hat aber auch in den Mas­sen die Vor­stel­lung von einem gemein­sa­men Schick­sal auf­ge­ru­fen, deren Hin­ter­grund eine wenn­gleich unkla­re Idee gemein­sa­mer Her­kunft und gemein­sa­mer Geschich­te bil­de­te. Dabei wur­de die Deu­tung, die den Befrei­ungs­krieg nicht als Akti­on der betei­lig­ten Mon­ar­chen oder als übli­che Form eines Groß­kon­flikts ver­stand, son­dern als Tat der Nati­on, natür­lich nur all­mäh­lich und gegen erheb­li­che Wider­stän­de durch­ge­setzt. Das erklärt die Zahl der Tex­te, in denen sich die­ser Kampf um die Inter­pre­ta­ti­ons­ho­heit nie­der­ge­schla­gen hat, etwa Lud­wig Uhlands Gedicht »Am 18. Okto­ber 1816«, das den gefal­le­nen Theo­dor Kör­ner auf­tre­ten und am drit­ten Jah­res­tag der Völ­ker­schlacht ankla­gend sin­gen läßt.

Die Bit­ter­keit der Ver­se Uhlands hat­te nicht nur mit den Macht­ver­hält­nis­sen im Zeit­al­ter der Restau­ra­ti­on zu tun, son­dern auch mit dem Kon­flikt um das rich­ti­ge Ver­ständ­nis der Ereig­nis­se. Denn die wur­den im Vor­märz ver­brei­tet in kon­ser­va­ti­vem Sinn auf­ge­faßt, so daß man dem­entspre­chend von Befrei­ungs­krie­gen sprach, als sei es ledig­lich um einen Kampf gegen den Lan­des­feind gegan­gen, woge­gen die patrio­ti­sche und libe­ra­le oder demo­kra­ti­sche Sicht zuerst nur in einer rela­tiv klei­nen, aber immer ein­fluß­rei­cher wer­den­den Grup­pe eine bestim­men­de Rol­le spiel­te. Daß es ihr gelang, das eige­ne Epos und den eige­nen Mythos – um die Begrif­fe Sor­els noch ein­mal zu benut­zen – all­mäh­lich durch­zu­set­zen, war aber nicht nur auf Ein­satz­wil­len zurück­zu­füh­ren oder die star­ke Posi­ti­on unter den Mei­nungs­bild­nern, son­dern auch auf die Gunst der his­to­ri­schen Umstän­de und den Abstieg der Geg­ner, die ihre eige­ne Vor­stel­lung nicht län­ger glaub­wür­dig hal­ten konn­ten. Trotz­dem bleibt fest­zu­hal­ten, daß die Idee des Befrei­ungs- als Natio­nal­krieg bis in die zwei­te Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts eine oppo­si­tio­nel­le war, die sich selbst nach der Reichs­grün­dung nicht voll­stän­dig durch­ge­setzt hat­te. Die vor allem unter Groß­deut­schen und Deutsch­na­tio­na­len ver­brei­te­te Auf­fas­sung, daß 1871 gegen Frank­reich erreicht wur­de, was 1813 begon­nen wor­den war, ent­sprach jeden­falls nicht der offi­zi­el­len Les­art. Und noch an der Säku­lar­fei­er von 1913, die mit gro­ßem Auf­wand began­gen wur­de, konn­te man eine deut­li­che Spal­tung zwi­schen dem offi­zi­ell-mon­ar­chi­schen Ver­ständ­nis – »Der König rief und alle, alle kamen« –, dem reichs­na­tio­na­len – Sieg über den »Erb­feind« – und einem jung­deut­schen – die »Ideen« von 1813 als Ver­mächt­nis an die kom­men­de Gene­ra­ti­on – wahrnehmen.

Am wirk­mäch­tigs­ten hat sich über­ra­schen­der­wei­se das jung­deut­sche Ver­ständ­nis erwie­sen, weil es zukunfts­fä­hig war, das heißt auch unter dra­ma­tisch ver­än­der­ten Bedin­gun­gen ein plau­si­bles Geschichts­bild gab. Das erklärt die Bedeu­tung für die Iko­no­gra­phie und die poli­ti­schen Zukunfts­ent­wür­fe nach dem Zusam­men­bruch von 1918, nicht nur im Bereich der Eta­blier­ten, son­dern auch in der »natio­na­len Oppo­si­ti­on« und dis­si­den­ten Tei­len der Lin­ken. Ein Erfolg, der noch ables­bar war am Pathos der »Wei­ßen Rose«, das nicht zufäl­lig an Kör­ner erin­ner­te, oder der Vor­stel­lung Stauf­fen­bergs, man müs­se auf Gnei­se­nau zurück­grei­fen, aber auch in der Anla­ge des Kol­berg-Films und der Auf­bie­tung eines »Volks-« anstel­le eines »Land­sturms«.

Umge­kehrt macht die­ser Erfolg ver­ständ­lich, war­um nach 1945 nur die DDR (und auch die nur stark zen­siert) ver­sucht hat, sich die­ser Tra­di­ti­on zu bedie­nen, wäh­rend die Bun­des­re­pu­blik einen selt­sa­men Zick­zack­kurs ver­folg­te, indem ihre Füh­rung einer­seits beton­te, daß die Befrei­ungs­krie­ge zu den weni­gen unbe­schä­dig­ten Bestän­den der natio­na­len Geschich­te gehör­ten, ande­rer­seits alles tat, um den neu­en Alli­ier­ten Frank­reich nicht zu düpie­ren, jeden Ver­dacht eines zwei­ten Tau­rog­gen abzu­weh­ren und kei­nes­falls den Ein­druck zu erwe­cken, als ob man die eige­ne Situa­ti­on mit der Preu­ßens nach 1806 ver­glei­che, – was zwangs­läu­fig zu dem Schluß hät­te füh­ren müs­sen, daß man sich auch auf ein neu­es 1813 vor­be­rei­te. Für län­ge­re Zeit ist die Unent­schie­den­heit kaum auf­ge­fal­len, da gewis­se Tei­le älte­rer Geschichts­bil­der ein­fach wei­ter­ge­führt wur­den, so daß die Gefähr­dung der Eth­no­sta­se auf die­sem Feld nicht ins Gewicht zu fal­len schien, aber spä­tes­tens nach der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von 1968 riß die Über­lie­fe­rung ab.

Man darf den Uto­pis­mus der Neu­en Lin­ken nicht dahin­ge­hend miß­ver­ste­hen, als ob sie ver­kannt hät­te, wie wich­tig die Kon­trol­le über die Geschichts­bil­der der Gemein­schaft ist. Ganz im Gegen­teil: zu den ent­schei­den­den Impul­sen ihrer Bewe­gung gehör­te sicher, das bestehen­de durch ein alter­na­ti­ves Geschichts­bild zu erset­zen. Am kon­se­quen­tes­ten nahm das Gestalt an in jenen Ent­wür­fen, die sich bemüh­ten, die »pro­gres­si­ven« Strän­ge im gan­zen der deut­schen Ver­gan­gen­heit zu bün­deln: von den Bau­ern­krie­gen über die Akti­vi­tä­ten der Main­zer Jako­bi­ner, die Män­ner des Vor­märz, die Radi­ka­len von 1848, die Arbei­ter­be­we­gung bis zu den Novem­ber­re­vo­lu­tio­nä­ren, den Anti­fa­schis­ten der Wei­ma­rer Zeit und dem lin­ken Wider­stand vor und nach 1945. Ein Pro­blem war dabei aber nicht nur die Ähn­lich­keit zur »Erbe-Poli­tik« der DDR, son­dern auch die grö­ße­re Zim­per­lich­keit der West­deut­schen, die anders als die SED-Füh­rung nie wag­ten, Armi­ni­us, Luther neben Münt­zer, schließ­lich noch Fried­rich den Gro­ßen, Bis­marck, die kon­ser­va­ti­ve Oppo­si­ti­on gegen Hit­ler und selbst­ver­ständ­lich die Befrei­ungs­krie­ge mit ein­zu­be­zie­hen. Die Fol­ge war ein völ­li­ger Man­gel an Kon­ti­nui­tät und ein so ange­streng­tes Bemü­hen, jeden natio­na­len Zun­gen­schlag zu ver­mei­den, daß das Pro­jekt in den acht­zi­ger Jah­ren wegen feh­len­der Reso­nanz auf­ge­ge­ben wer­den muß­te. Das konn­te man natür­lich nur wagen, weil kei­ne Gefahr bestand, daß der Geg­ner die Geschichts­po­li­tik über­neh­men wür­de. Es spiel­te aller­dings auch der Ein­druck mit, als ob die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung den Bedeu­tungs­ver­lust der kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung för­der­te und man sich gefahr­los mit der Kon­sum­ge­sell­schaft wie der Geschichts­ver­dros­sen­heit abfin­den dürfe.

Seit dem Beginn der sieb­zi­ger Jah­re war in bür­ger­li­chen Krei­sen über den »Ver­lust der Geschich­te« geklagt wor­den, den man wahl­wei­se auf die Ver­drän­gung der His­to­rio­gra­phie durch die Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten oder auf den Moder­ni­sie­rungs­pro­zeß oder auf die Ein­fluß­nah­me der Lin­ken zurück­führ­te. Aber die Ver­tei­di­gung blieb im all­ge­mei­nen defen­siv, bezog sich bes­ten­falls auf die »anti­ideo­lo­gi­sche Wir­kung der Geschich­te« (Tho­mas Nip­per­dey), nicht auf die Not­wen­dig­keit ihrer sinn­stif­ten­den Funk­ti­on. Zu den weni­gen Aus­nah­men von der Regel gehör­te der His­to­ri­ker Hell­mut Diwald, der schon 1975 klar­stell­te, daß »ohne Geschichts­be­wußt­sein unser Lebens­bo­den ver­kars­tet«. Was Diwald vor Augen stand, wenn er »Mut zur Geschich­te« for­der­te, war in ers­ter Linie die Bereit­schaft, sich neu und ver­tieft mit der eige­nen Natio­nal­ge­schich­te zu befas­sen, sie in ihrem Reich­tum zur Kennt­nis zu neh­men und die erzie­he­ri­sche Wir­kung die­ser Kennt­nis wie­der zu begrei­fen. Ein Pro­gramm, für das er zwar begeis­ter­te Zustim­mung unter sei­nen Lesern fand, aber kei­ne Unter­stüt­zung in der eige­nen Zunft, die sich wie kaum eine ande­re den poli­ti­schen Vor­ga­ben unter­warf und auch Hand­lan­ger­diens­te leis­te­te bei jener Redu­zie­rung der deut­schen Ver­gan­gen­heit auf Ausch­witz als »Grün­dungs­my­thos« (Josch­ka Fischer) und ein­zi­gen Inhalt einer not­wen­dig nega­tiv bestimm­ten Identität.

Trotz des unge­heu­ren pro­pa­gan­dis­ti­schen Auf­wands, der betrie­ben wur­de, um die­se Vor­stel­lung im Gedächt­nis der Gemein­schaft zu ver­an­kern, wird man den Ansatz als geschei­tert betrach­ten müs­sen. Das ist nicht nur an dem juris­ti­schen Auf­wand zu erken­nen, der zum Schutz der »rich­ti­gen« Deu­tun­gen betrie­ben wird, oder an den Ritua­len der eigens ent­wi­ckel­ten Zivil­re­li­gi­on, son­dern stär­ker noch an der Hek­tik, mit der man Sub­sti­tu­te anbie­tet. Längst hat die Bewußt­seins­in­dus­trie das The­ma Iden­ti­tät wie­der­ent­deckt und ent­wi­ckelt Kon­zep­te, um das ent­stan­de­ne Vaku­um zu fül­len. Deut­lich ables­bar wird das etwa an der Grün­dung eines »Rats für Kul­tu­rel­le Bil­dung« Ende des ver­gan­ge­nen Jah­res. Denn die­ses qua­si­amt­li­che Gre­mi­um soll mit Deckung der UNESCO und inter­es­sier­ter Wirt­schafts­krei­se (selbst­ver­ständ­lich ist die Ber­tels­mann-Stif­tung betei­ligt) die Dekon­struk­ti­on aller über­lie­fer­ten Bestän­de vor­an­trei­ben und eine Vor­stel­lung von Iden­ti­tät for­cie­ren, die die Ato­mi­sie­rung der Gesell­schaft genau­so vor­aus­setzt wie die Bereit­schaft des west­li­chen Men­schen, sich per­ma­nent aus einem unüber­schau­ba­ren Ange­bot zu bedie­nen und »neu zu erfin­den«. Um Bin­dung an die Geschich­te, die tra­di­tio­nell der Eth­no­sta­se dien­te, geht es kei­nes­falls, viel­mehr dar­um, die kon­kre­te Ver­gan­gen­heit aus­zu­lö­schen und eine »ewi­ge Gegen­wart« (Jan Ass­mann) zu erzeu­gen, für die es nichts gibt als das Hier und Jetzt und zum Zweck des Kon­trasts eine Men­ge schwar­zer Legenden.

Der Ver­such ist an sich nicht neu und typisch für hyper­sta­bi­le Sozi­al­for­men, denen es gelingt, die Erin­ne­rung auf einen geschicht­li­chen Punkt zu kon­zen­trie­ren und des­sen Deu­tung streng fest­zu­le­gen. Aber er ist bis­her regel­mä­ßig an der sub­ver­si­ven Wir­kung von Ver­gan­gen­heits­kennt­nis geschei­tert. Die steht heu­te in Hül­le und Fül­le bereit. Damit sei nicht behaup­tet, daß es genügt, auf die zer­set­zen­de Kraft zu war­ten oder dar­auf, daß das Netz oder die Ree­nac­te­ment-Sze­ne jene Ange­bo­te schafft, die die zustän­di­gen Insti­tu­tio­nen nicht mehr zur Ver­fü­gung stel­len wol­len. Es genügt auch nicht die Kennt­nis der gro­ßen Ereig­nis­se, um jene Epen und Mythen wie­der ins Gedächt­nis der Nati­on zu rufen, von denen ein­gangs die Rede war. Aber es besteht nach wie vor die Mög­lich­keit, da anzu­knüp­fen, wo der Faden abge­ris­sen wur­de. Wer ein­mal Her­an­wach­sen­de beob­ach­ten konn­te, denen man eine Film­se­quenz gezeigt hat, in der König Hein­rich sei­nen Män­nern »Hal­tet stand!« zuruft, als die asia­ti­schen Hor­den angrei­fen, oder die Würt­tem­ber­ger wäh­rend der Völ­ker­schlacht bei Leip­zig die Front wech­seln und sich mit dem Ruf »Wir sind auch Deut­sche!« gegen die Män­ner Napo­le­ons stel­len, wird wis­sen, wovon die Rede ist.

Es geht dabei selbst­ver­ständ­lich nicht um Geschich­te als Gegen­stand der For­schung oder kri­ti­scher Wür­di­gung, son­dern um die Ima­gi­na­ti­on, die sie her­vor­ru­fen kann. Es geht heu­te aber vor allem um die »ant­ago­nis­ti­sche Kraft« des Ver­gan­ge­nen, oder mit den Wor­ten eines Autors, der hier kaum je zustim­mend zitiert wird: »Die Erin­ne­rung kann gefähr­li­che Ein­sich­ten auf­kom­men las­sen, und die eta­blier­te Gesell­schaft scheint die sub­ver­si­ven Inhal­te des Gedächt­nis­ses zu fürch­ten. Das Erin­nern ist eine Wei­se, sich von den gege­be­nen Tat­sa­chen abzu­lö­sen, eine Wei­se der ›Ver­mitt­lung‹, die für kur­ze Augen­bli­cke die Macht der gege­be­nen Tat­sa­chen durch­bricht. Das Gedächt­nis ruft ver­gan­ge­nen Schre­cken wie ver­gan­ge­ne Hoff­nung in die Erin­ne­rung zurück.« (Her­bert Marcuse)

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