geführt im Jahre 2012 von Christ und Welt. Anlaß war das “Schreibverbot”, das der Bischof von Augsburg dem Pfarrer Georg Alois Oblinger erteilte, weil dieser regelmäßig in der Jungen Freiheit publiziert hatte.
Damals stand wie üblich nicht der Inhalt von Oblingers Kolumnen zur Debatte, sondern es wurde lediglich der Publikationsort skandalisiert, als wäre die Meinung des Autors allein schon dadurch diskreditiert. Schützenhilfe bekam Oblinger damals von gewichtigen und hochrespektierten Köpfen des katholischen Lagers wie Robert Spaemann, Wolfgang Ockenfels und Walter Hoeres; genützt hat es freilich nichts.
Christ & Welt ließ zwei ehemalige Mitarbeiter des Rheinischen Merkur pro & contra “Schreibverbot” zu Wort kommen: Michael Rutz wollte “klare Schnitte” sehen, Peter Meier-Bergfeld dagegen plädierte:
Der Verstand und die Vernunft gebieten, alle Meinungen zu hören, weil es denkmöglich ist, daß sie etwas richtiges enthalten.
Nassehis Einwurf fand ich in vieler Hinsicht etwas seltsam. Ein paar Punkte (bei weitem nicht alle, die mir aufgefallen sind), will ich hier herausgreifen. Wenn man daraus etwas lernen kann, dann, daß es offenbar auch Soziologen schwerfällt, sich in eine andere Position und Perspektive hineinzuversetzen. Wie viele Liberale spricht auch Nassehi von einem “Fantasma eines ‘politisch korrekten’ Kesseltreibens”, von dem die Betroffenen, etwa die Junge Freiheit, am Ende nur “profitieren” würden, da es ihnen die Gelegenheit gäbe, sich als “Helden” oder “Opfer” zu präsentieren. Er versteigt sich sogar zu der Behauptung, die Junge Freiheit “nutze” diese Zensur, denn nun könne sie sagen: “Seht her, diese Dinge dürfen nicht ausgesprochen werden.”
Man hört diesen Einwand oft von liberaler Seite. Er klingt zwar als Einfall zunächst ganz witzig und hat gewiß auch ein Körnchen Wahrheit für sich – denn auch mit dem Ruf des “politisch Unkorrekten”, dessen heldenhafter Ruf nach Wahrheit unterdrückt wird, kann man sich profilieren, interessant machen und ein Publikum von einem gewissen Umfang gewinnen. Aber diejenigen, die das “Kesseltreiben” und seine größeren und kleineren Abarten am eigenen Leib erlebt haben, wissen nur zu gut, daß es sich hierbei um alles anderes als um ein “Fantasma” handelt, und daß die negativen Effekte bei weitem überwiegen.
Das gilt im Persönlichen ebenso wie im Schöpferischen und Sachlichen: denn mit wachsendem Druck, der auch das Private affiziert und ins Materielle wirkt, wird es natürlich auch schwieriger, eine anspruchsvolle, qualitativ hochwertige Publizistik zu schaffen: es fehlt dann an Geld, an Zeit, an Personal, an stützenden Strukturen, an Talenten, die sich zu den “wilden Kerlen” wagen, aber auch an dem notwendigen Resonanzraum, an Publikum und produktiver Auseinandersetzung und einem belebenden (nicht beliebigen) Pluralismus.
Ein großer Teil der notorischen Neigung des rechten bzw. “konservativen” Lagers, sich selbst für nichts und wieder nichts zu zerlegen und gegenseitig die Beine zu stellen, hat mit diesem Außendruck zu tun, der sich psychologisch vielfältig auswirken kann, und dem Willen zur Wahrheit und zur Qualität und der allgemeinen Redlichkeit äußerst abträglich werden kann. Trotz all ihrer inneren Zerstrittenheit hat es die Linke in ihrer Geschichte dagegen immer wieder fertiggebracht, im Zweifelsfall nach außenhin “zusammenzuhalten”, und das fällt ihr heute, da sie kulturell und metapolitisch absolut dominant ist, umso leichter.
Noch der wüsteste linksradikale Autonome weiß, daß er heute Freunde in der Presse, in den etablierten Parteien, in den Kirchen und in diversen humanitären Stiftungen hat, ein Riesenapparat, der ihm Sympathie, Unterstützung, Helden‑, Opfer- und Märtyrerstatus verschafft, auch wenn er nur ein stinknormaler, randalierender Tropf ist wie “Josef S.”. In einer solchen Lage hat man keinen großen Bedarf, sich zu “distanzieren” oder die eigene Position und seine Bündnispartner allzu skrupulös zu überdenken.
Auch letzteres mag aus geistiger Sicht ein Nachteil sein, verleitet es doch zur Faulheit, Selbstgerechtigkeit, Lagerblindheit, intellektueller Stagnation. Aber qualitative Fragen spielen umso weniger eine Rolle, je weniger sie nötig sind, um sich Aufmerksamkeit, Macht und Status zu verschaffen. Heute reicht dafür oft schon eine bloße linke oder sonstwie “korrekte” Gesinnung aus, um die Prämie zu bekommen.
Und dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt: wer die “falsche” Gesinnung hat, hat schon von vornherein verloren, egal, was er sonst noch zu sagen hat. Raoul Thalheim hat dieses Dilemma in seinem Roman “Hirnhunde” grandios dargestellt. Nassehi sollte nicht glauben, daß es einen so wahnsinnig großen Spaß macht, den “Helden” oder das “Opfer” zu spielen, wenn dafür kein ausreichend großer Lohn winkt und der allgemeine Applaus ausbleiben wird.
Apropos Robert Spaemann spricht Nassehi von einer “klassisch rechtskonservativen Polemik”, die in folgender Denkfigur besteht:
Man unterstellt einen Zwang, der verhindere, die Wahrheit zu sagen.
Unabhängig davon, ob man von der Wahrheit dieser Wahrheit überzeugt ist: der Verhinderungszwang besteht real, ob nun sachlich festgestellt oder “polemisch” angeprangert. Und das weiß Nassehi in Wirklichkeit selber. Auf die Frage, ob er einer “rechtskonservativen Zeitung” ein Interview geben würde, antwortete er:
Ich hatte schon Anfragen, aber ich habe sie abgelehnt. Das ist vielleicht feige, aber man müßte zuviel erklären, und das war mir dann doch zu kompliziert.
Womit Nassehi bestätigt hätte, daß an dem “Fantasma” eben doch etwas dran sein muß, denn ansonsten hätte er ja keinen Grund, “feige” zu sein oder müßte er keine Sorge haben, in Erklärungsnot zu kommen. Schizophrenien dieser Art sind unter liberalen Köpfen oft anzutreffen. Mich erinnern sie ein wenig an Zen-Koans: “Wie klingt das Klatschen der einen Hand?” Es ist ja nicht die Schuld der Jungen Freiheit, daß “solche Dinge nicht ausgesprochen werden dürfen” ohne Sanktionen, und wenn sie diese Tatsache nachher anklagt, dann eben deswegen, weil es, ähm, eine Tatsache ist, und weil sie das Recht hat, diese Tatsache anzuklagen.
Aber Nassehi tut so, als ob es hier um eine letzten Endes dem Business “nützliche” self-fulfilling prophecy seitens der JF ginge, als ob es darauf ankäme, sich in dieser Nische und diesem Markenzeichen des unverstandenen Kämpfers gegen den Maulkorb gemütlich einzurichten. Nur daß es dort nicht gemütlich ist, und das es letzten Endes eben doch um das Ziel des “Aussprechendürfens” dessen, was man für wahr hält, geht – und nicht um die Perpetuierung eines auf die Dauer zermürbenden Zustandes.
Die Betroffenen dürften sich angesichts solcher Argumentationsschleifen mitunter in einen Kafka-Roman versetzt fühlen. Ein Oblinger wird mundtot gemacht, muß sich rechtfertigen, muß um seinen Ruf fürchten, und plötzlich ist er, in den Worten Nassehis, “ein Marketingfachmann”, der alles “richtig gemacht” hat. Vielleicht hatte Oblinger aber auch gar keine Lust, ein “Held” oder “Opfer” zu werden, vielleicht hat er einfach gesagt und geschrieben, was ihm sein Gewissen eingeben hat, und darunter fand sich nichts, womit die Kirche ein Problem haben sollte.
Merkwürdig ist auch Nassehis Behauptung, Robert Spaemann übe eine “extreme” Dekadenzkritik , die er sogleich mit politischem Extremismus an “beiden Flügeln des politischen Spektrums” in Verbindung bringt. Was für ein Maßstab! Spaemann, ausgerechnet der so bedächtig formulierende Spaemann, bediene sich einer “extremen Sprache”! Spaemann, über den Ijoma Mangold geschrieben hat:
Wenn Sokrates’ Muttersprache Deutsch gewesen wäre, er hätte gesprochen, wie Spaemann schreibt.
Und warum erscheint Spaemann “extrem”?
Es geht hier ja nicht um die biblische Wahrheit, sondern die Wahrheit eines konservativen Diskurses, der immer schon weiß, was richtig ist, und damit weit hinter den Stand des religiösen und theologischen Denkens zurückfällt.
Abgesehen davon, daß es äußerst ungerecht ist, einem Spaemann dogmatische Rechthaberei oder Besserwisserei oder auch philosophisches Hinterwäldlertum vorzuwerfen, finde ich die Vorstellung ausgesprochen zweifelhaft (um es gelinde zu sagen), “religiöses” oder “theologisches” Denken wäre etwas, das man wie wissenschaftliche Forschungsergebnisse quasi auf einen neuesten, verbindlichen “Stand” bringen könne, nach dem sich dann jeder zu richten hätten.
Und von der wohltemperierten, jedem “Extremismus” abholden “Dekadenzkritik” der biblischen Propheten und des Neuen Testaments will ich an dieser Stelle schweigen. (Kann religiöse Dekadenzkritik denn überhaupt zu “extrem” sein? Welchen Maßstab setzt man hier an? (Die Hölle ist vielleicht nur vom Paradies aus gesehen die Hölle.)
Ich will die Betrachtung an dieser Stelle stehen lassen; sie bringt auch gewiß nicht viel Neues. Unter konservativen Katholiken kursiert das auf Kuehnelt-Leddihn (oder vielleicht auch auf Donoso Cortés) zurückgehende Bonmot, die achselzuckende Frage des Pilatus “Was ist Wahrheit?” sei der archetypische Leitsatz des Liberalen aller Zeitalter (was in diesem Zusammenhang negativ gemeint ist). In diesem Sinne bin ich wohl auch ein Liberaler. Vielleicht hat man nicht viel Wahl: Gómez Dávila sagte einmal, es gibt nur zwei mögliche Positionen: Skeptiker oder Katholik zu sein.
Jedenfalls: ich wünsche mir weiterhin täglich, die rechte Publizistik hätte eine solche Freiheit und Elastizität, wie sie die linke Publizistik heute hat. Da alle Welt heute irgendwie “links” ist oder sein will, kann sie sich einen enormen Pluralismus leisten, und niemand, der etwas zu sagen hat, braucht Berührungsängste zu haben. Nur von den “Rechten” wird ständig verlangt, daß sie sich exakt schubladisieren, kategorisieren, positionieren, abgrenzen, distanzieren und so weiter und so fort sollen. Warum? Wozu? Das erledigen ja schon die Bundeszentrale für politische Bildung, das DISS, die Antifa oder die Rosa-Luxemburg-Stiftung für mich, schönen Dank.
In einem anderen Interview sprach Nassehi von der “symmetrischen” Ausrichtung der heutigen Gesellschaft:
In unserer Kultur ist heute fast alles symmetrisch gebaut. Jedes Argument, jeder ästhetische Geltungsanspruch, jede Art von ethischer Orientierung, von Lebensform, von Kultur findet heute auf gleicher Augenhöhe statt. In dieser Gesellschaft gibt es ein großes Symmetrieversprechen.
Mir ist nicht ganz klar, wie das zu verstehen sein soll. “Egalitär” scheint mir der passendere Ausdruck zu sein, und einen solchen Anspruch kann man leicht erkennen: theoretisch soll es keine Wert- und Rangunterschiede ethischer, ästhetischer, kultureller Natur mehr geben. Ob ein solches “Versprechen” erfüllbar oder überhaupt wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt. In unserem Zusammenhang ist es jedenfalls offensichtlich so, daß zwischen “links” und “rechts” kulturell und politisch eine geradezu krasse Asymmetrie herrscht.
Das soll nach dem Wunsch der Nutznießer dieser Ordnung offenbar auch so bleiben, weshalb jedes “rechte” oder “konservative” Element oder was gerade dafür gehalten wird, möglichst isoliert, ausgegrenzt und die Begriffsquaränte gesteckt werden soll, und dies meistens auf eine krampfhafte, hysterische, reflexhafte, jedes freie Denken beleidigende Weise.
Es ist klar, daß sich an dieser Stelle wenig entwickeln und erweitern kann, wenn ständig irgendein Wächter und Alarmkläffer darauf achtgibt, wer was bei wem sagt. Oh, ich weiß, das hat auch und vor allem mit Macht und Machterhalt zu tun, und die Auseinandersetzungen um die Freiheit der Publizistik drehen sich immer zuerst um Macht und dann erst vielleicht um so etwas wie “Wahrheit”.
Aber manchmal träume ich von einer “Neuen Rechten”, die es noch gar nicht gibt, die heute allenfalls von ein paar Prototypen, Testläufern und Einzelgängern verkörpert oder vorweggenommen wird, eine “Neue Rechte”, die sich durch einen undogmatischen Pluralismus auszeichnet und mindestens so elastisch in der Bestückung ihrer Foren ist wie die asymmetrisch überzählige Linke. Daß es dazu einstweilen nicht kommen wird, ist zu einem erheblich Teil den politischen Machtverhältnissen zu verdanken, und sollte nicht allzu viel den wenigen verbliebenen Rechtsintellektuellen selbst angelastet werden.
der demograph
das ganze ist einfach nur traurig. Nassehi gehoert doch zu denen die, obwohl etabliert, noch am ehesten dazu in der Lage sein sollte verrueckte Gedanken zu denken, leidenschaftlich zu denken. Oder dieses vermeintliche Dogma des spaeten 20. Jdh einmal in die - denkerische - Tat umzusetzen: anything goes. Er ist Soziologe - wofuer soll es denn Soziologen geben wenn nicht dafuer zumindest in Erwaegung zu ziehen dass eine andere Sichtweise interessant sein koennte als jene die vetreten wird von der Bild Zeitung, der New York Times, der SZ und FAZ, der BBC und CNN, Arte und RTL, Coca Cola und Goldman Sachs, Hollywood und der Schule gegen Rassismus, auf der wir nach 1970 geborenen die Schukbank drueckten.
Fuer mich persoelich ist das auch deshalb traurig weil ich die Systemtheorie fuer ziemlich clever halte, und insgesamt die Soziologie nicht gerne abschreibe.