Literaturnobelpreis für Patrick Modiano – Sezession rezensierte 2010

Der französische Erzähler Patrick Modiano erhält den Nobelpreis für Literatur 2014. In der 37. Sezession besprach ich...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

das Werk Place de L’Etoile. Die Rezen­si­on wird aus aktu­el­lem Anlaß im fol­gen­den wiedergegeben:

Vier­zig Jah­re hat es gedau­ert, bis Patrick Modia­nos Erst­ling auf deutsch erschei­nen konn­te. Wer die­sen fran­zö­sisch-jüdi­schen Roman­cier nicht kennt, kann mit dem Roman Eine Jugend (1981) begin­nen. Die­ses Werk hat Modia­nos Ruhm begrün­det und ihn im deutsch­spra­chi­gen Raum bekannt gemacht, was nicht zuletzt am bereits berüch­tig­ten Über­set­zer – Peter Hand­ke – lag.

Place de L’Etoile erschien bereits 1968 in Frank­reich. Modia­no war 22 Jah­re alt, und sein Buch ist eine kras­se, ego­ma­ni­sche Selbst­zer­flei­schung. Sie wird stell­ver­tre­tend betrie­ben von Rapha­el Schle­mi­lo­vitch, der gleich dem ewi­gen Juden durch die Zeit geis­tert und je nach Stim­mung und Zustand Rol­len annimmt: Er spielt in sei­ner Erin­ne­rung unter ande­rem den anti­se­mi­ti­schen Gesta­po-Juden, den Reichs­vor­zei­ge­ju­den und Gelieb­ten Eva Brauns, einen Mäd­chen­händ­ler, einen Isra­el-Ein­wan­de­rer. Modia­no läßt ein Per­so­nen- und Orte-Gewit­ter auf den Leser los, manisch, hys­te­risch – jeden­falls spöt­tisch und zer­set­zend: ein Spiel mit all­dem, wor­auf ande­re Leu­te ihr Leben bau­en, und wor­auf er selbst bau­en könn­te, trie­be ihn nicht die Lust an der Zer­fa­se­rung dazu, jedem und vor allem sich selbst ins Gesicht zu treten.

Place de l’Etoile ist aus die­sem Grund ein hoch­in­tel­lek­tu­el­les wie hybri­des Pro­dukt jenes »jüdi­schen Selbst­has­ses«, von dem Theo­dor Les­sing (selbst Jude) in einer Abhand­lung von 1930 eben­so tref­fend wie ver­zwei­felt zu berich­ten wuß­te. Die Nei­gung zur geis­ti­gen Pul­ve­ri­sie­rung des Bestehen­den wird dar­in als etwas beschrie­ben, das auf den Intel­lek­tu­el­len selbst zurück­schla­ge: Ihm wer­den durch den genüß­lich zele­brier­ten, ätzen­den Intel­lekt zuletzt auch die Kno­chen weich, er zer­rüt­tet sei­ne eige­ne Iden­ti­täts­grund­la­ge. Ein grau­sa­mes Schick­sal, denn der »geis­tig hoch­ge­stimm­te Jude ist in eine Kas­te hin­ein­ge­bo­ren, die in Klug­hei­ten wie ein­ge­mau­ert lebt und inner­halb die­ser Mau­er sich nun gegen­sei­tig zer­reißt, wie Raub­tie­re in einem zu engen Käfig« (Theo­dor Les­sing, Intel­lekt und Selbst­haß, Schnell­ro­da 2007, vergriffen).

So muß sich Modia­no über das völ­lig ande­re Selbst­ver­ständ­nis der­je­ni­gen Juden lus­tig machen, die sich seit nun­mehr über sech­zig Jah­ren in Isra­el fest­kral­len und ihren durch die Jahr­hun­der­te tra­dier­ten Opfer­sta­tus abge­legt haben wie eine fal­sche Haut: »Wir wol­len nichts mehr wis­sen von kri­ti­schem jüdi­schen Geist, jüdi­scher Intel­li­genz, jüdi­scher Skep­sis … Das über­las­sen wir den jun­gen euro­päi­schen Ästhe­ten Ihres Schlags! Wir sind ener­gie­ge­la­de­ne Bur­schen, vier­schrö­ti­ge Ker­le, Pio­nie­re«, sagt der Gene­ral zu dem nach Isra­el ein­rei­sen­den Schle­mi­lo­vitch, bevor er ihm die Deka­denz aus dem Leib zu fol­tern beginnt. Aber auch dies bleibt ein Spiel, eben­so die Erschie­ßung zuletzt.

Es lag, glaubt man dem Nach­wort der Über­set­ze­rin Eli­sa­beth Edl, an sol­chen isra­el­kri­ti­schen Pas­sa­gen, an der Ent­lar­vungs­lust Modia­nos im Bezug auf die hemds­ärm­li­gen Kib­buz-Krie­ger, daß in Deutsch­land eine frü­he Über­tra­gung und Ver­öf­fent­li­chung von Place de L’Etoile nicht rat­sam erschien: Immer­hin focht Isra­el gera­de den Sechs­ta­ge­krieg aus, und man woll­te in Deutsch­land kei­ne Stim­mung gegen die­sen jun­gen Staat machen, auch nicht obwohl der Spott aus jüdi­scher Feder stamm­te. Dies ist ja bis heu­te so geblie­ben: Da macht einer wirk­lich lus­ti­ge Wit­ze über sein eige­nes klei­nes Völk­chen, lacht laut her­aus – aber die Deut­schen lachen nicht mit und blei­ben unsi­cher, ob ihnen das gestat­tet sei, nach alledem.

Nun, im Jah­re 2010, sind wir anschei­nend reif für das frü­he Zeug­nis einer an Céli­nes Gei­fern geschul­ten Selbst­zer­le­gung, für einen ekli­gen, zyni­schen, spöt­ti­schen Wir­bel. Ande­re Rezen­sen­ten sehen dar­in eine ver­zwei­fel­te Iden­ti­täts­su­che. Viel­leicht lie­gen sie rich­tig. Viel­leicht ist es aber auch ein wei­te­rer aller Hem­mun­gen ledi­ger Schritt hin zu einer »Auf­lö­sung aller Din­ge«: So benann­te der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hans-Diet­rich San­der die Wir­kung jener destruk­ti­ven Auf­klä­rung, als deren Trä­ger er vor allem die jüdi­sche Intel­li­genz aus­mach­te. Im Ergeb­nis läuft das auf Zer­set­zung des Kon­kre­ten durch Abs­trak­ti­on und Gleich­gül­tig­keit hin­aus. Kern sol­chen Den­kens ist die Bin­dungs- und Ort­lo­sig­keit. Euro­päi­sches Den­ken läuft dem dia­me­tral ent­ge­gen: »In der grie­chi­schen Spra­che bedeu­tet topos dop­pel­sin­nig Ort und Gesichts­punkt, deutsch ver­tieft im Dop­pel­sinn von Grund als Boden und Ursa­che«, oder for­mel­haft: »Alles, was auf Erden lebt, braucht sei­ne Umwelt« (Hans-Diet­rich Sander).

Modia­nos Prot­ago­nis­ten grap­schen nach Orten, Räu­men, Men­schen, ohne den Grund fin­den zu kön­nen oder dies auch nur zu wol­len. Der Autor selbst ist sich im kla­ren über die Kon­se­quen­zen die­ser irren Hast, die sich zuletzt gegen das Juden­tum selbst und sei­ne Tra­di­tio­nen wen­det: Der auf die Psych­ia­ter-Couch nie­der­sin­ken­de Held Schle­mi­lo­vitch bekommt von Freud höchst­per­sön­lich eine »Jüdi­sche Neu­ro­se« attes­tiert. »Auf­klä­rung bis zum Zynis­mus« nann­te Oswald Speng­ler das und mach­te zu sei­ner Zeit noch eine irri­tie­ren­de Hem­mung inner­halb der jüdi­schen Intel­li­genz aus, näm­lich »schroffs­ten Athe­is­mus gegen­über der frem­den Reli­gi­on, wäh­rend die fel­la­chen­haf­ten Gebräu­che der eige­nen davon ganz unbe­rührt blei­ben.« – bei Modia­no aller­dings auch dies nicht mehr.

Patrick Modia­no: Place de L’Etoile. Roman, Mün­chen: Han­ser 2010. 189 S., 17.90 €

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