das Werk Place de L’Etoile. Die Rezension wird aus aktuellem Anlaß im folgenden wiedergegeben:
Vierzig Jahre hat es gedauert, bis Patrick Modianos Erstling auf deutsch erscheinen konnte. Wer diesen französisch-jüdischen Romancier nicht kennt, kann mit dem Roman Eine Jugend (1981) beginnen. Dieses Werk hat Modianos Ruhm begründet und ihn im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht, was nicht zuletzt am bereits berüchtigten Übersetzer – Peter Handke – lag.
Place de L’Etoile erschien bereits 1968 in Frankreich. Modiano war 22 Jahre alt, und sein Buch ist eine krasse, egomanische Selbstzerfleischung. Sie wird stellvertretend betrieben von Raphael Schlemilovitch, der gleich dem ewigen Juden durch die Zeit geistert und je nach Stimmung und Zustand Rollen annimmt: Er spielt in seiner Erinnerung unter anderem den antisemitischen Gestapo-Juden, den Reichsvorzeigejuden und Geliebten Eva Brauns, einen Mädchenhändler, einen Israel-Einwanderer. Modiano läßt ein Personen- und Orte-Gewitter auf den Leser los, manisch, hysterisch – jedenfalls spöttisch und zersetzend: ein Spiel mit alldem, worauf andere Leute ihr Leben bauen, und worauf er selbst bauen könnte, triebe ihn nicht die Lust an der Zerfaserung dazu, jedem und vor allem sich selbst ins Gesicht zu treten.
Place de l’Etoile ist aus diesem Grund ein hochintellektuelles wie hybrides Produkt jenes »jüdischen Selbsthasses«, von dem Theodor Lessing (selbst Jude) in einer Abhandlung von 1930 ebenso treffend wie verzweifelt zu berichten wußte. Die Neigung zur geistigen Pulverisierung des Bestehenden wird darin als etwas beschrieben, das auf den Intellektuellen selbst zurückschlage: Ihm werden durch den genüßlich zelebrierten, ätzenden Intellekt zuletzt auch die Knochen weich, er zerrüttet seine eigene Identitätsgrundlage. Ein grausames Schicksal, denn der »geistig hochgestimmte Jude ist in eine Kaste hineingeboren, die in Klugheiten wie eingemauert lebt und innerhalb dieser Mauer sich nun gegenseitig zerreißt, wie Raubtiere in einem zu engen Käfig« (Theodor Lessing, Intellekt und Selbsthaß, Schnellroda 2007, vergriffen).
So muß sich Modiano über das völlig andere Selbstverständnis derjenigen Juden lustig machen, die sich seit nunmehr über sechzig Jahren in Israel festkrallen und ihren durch die Jahrhunderte tradierten Opferstatus abgelegt haben wie eine falsche Haut: »Wir wollen nichts mehr wissen von kritischem jüdischen Geist, jüdischer Intelligenz, jüdischer Skepsis … Das überlassen wir den jungen europäischen Ästheten Ihres Schlags! Wir sind energiegeladene Burschen, vierschrötige Kerle, Pioniere«, sagt der General zu dem nach Israel einreisenden Schlemilovitch, bevor er ihm die Dekadenz aus dem Leib zu foltern beginnt. Aber auch dies bleibt ein Spiel, ebenso die Erschießung zuletzt.
Es lag, glaubt man dem Nachwort der Übersetzerin Elisabeth Edl, an solchen israelkritischen Passagen, an der Entlarvungslust Modianos im Bezug auf die hemdsärmligen Kibbuz-Krieger, daß in Deutschland eine frühe Übertragung und Veröffentlichung von Place de L’Etoile nicht ratsam erschien: Immerhin focht Israel gerade den Sechstagekrieg aus, und man wollte in Deutschland keine Stimmung gegen diesen jungen Staat machen, auch nicht obwohl der Spott aus jüdischer Feder stammte. Dies ist ja bis heute so geblieben: Da macht einer wirklich lustige Witze über sein eigenes kleines Völkchen, lacht laut heraus – aber die Deutschen lachen nicht mit und bleiben unsicher, ob ihnen das gestattet sei, nach alledem.
Nun, im Jahre 2010, sind wir anscheinend reif für das frühe Zeugnis einer an Célines Geifern geschulten Selbstzerlegung, für einen ekligen, zynischen, spöttischen Wirbel. Andere Rezensenten sehen darin eine verzweifelte Identitätssuche. Vielleicht liegen sie richtig. Vielleicht ist es aber auch ein weiterer aller Hemmungen lediger Schritt hin zu einer »Auflösung aller Dinge«: So benannte der Literaturwissenschaftler Hans-Dietrich Sander die Wirkung jener destruktiven Aufklärung, als deren Träger er vor allem die jüdische Intelligenz ausmachte. Im Ergebnis läuft das auf Zersetzung des Konkreten durch Abstraktion und Gleichgültigkeit hinaus. Kern solchen Denkens ist die Bindungs- und Ortlosigkeit. Europäisches Denken läuft dem diametral entgegen: »In der griechischen Sprache bedeutet topos doppelsinnig Ort und Gesichtspunkt, deutsch vertieft im Doppelsinn von Grund als Boden und Ursache«, oder formelhaft: »Alles, was auf Erden lebt, braucht seine Umwelt« (Hans-Dietrich Sander).
Modianos Protagonisten grapschen nach Orten, Räumen, Menschen, ohne den Grund finden zu können oder dies auch nur zu wollen. Der Autor selbst ist sich im klaren über die Konsequenzen dieser irren Hast, die sich zuletzt gegen das Judentum selbst und seine Traditionen wendet: Der auf die Psychiater-Couch niedersinkende Held Schlemilovitch bekommt von Freud höchstpersönlich eine »Jüdische Neurose« attestiert. »Aufklärung bis zum Zynismus« nannte Oswald Spengler das und machte zu seiner Zeit noch eine irritierende Hemmung innerhalb der jüdischen Intelligenz aus, nämlich »schroffsten Atheismus gegenüber der fremden Religion, während die fellachenhaften Gebräuche der eigenen davon ganz unberührt bleiben.« – bei Modiano allerdings auch dies nicht mehr.
Patrick Modiano: Place de L’Etoile. Roman, München: Hanser 2010. 189 S., 17.90 €