Nach verbreiteter traditioneller Anschauung von Zeugung und Empfängnis wird beim Geschlechtsverkehr das mütterliche Menstrualblut durch das väterliche Sperma zum Koagulieren gebracht (deshalb das Ausbleiben der Regel). „Koagulationsresultat” ist der kindliche Embryo. Durch fortgesetzten Verkehr mit der Schwangeren, durch „Begießen” der Frucht, erhält der Fötus seine Vitalseele. Eine weitere Seele, die Exkursionsseele, kommt dem werdenden Kind meist aus dem Reiche der Ahnen zu, indem sie während der Schwangerschaft bei einer günstigen Gelegenheit (etwa beim Baden der Schwangeren in einem Gewässer: die Wörter „Seele” und „See” sind etymologisch verwandt) in den Mutterleib eindringt und sich im belebten Fötus einnistet. Damit wäre der Mensch (Vitalseele = Leben; Exkursionsseele = Ich-Bewußtsein; von weiteren Seelenvorstellungen sehen wir ab) biologisch komplett.
Aber Menschsein hängt für traditionelle Gesellschaften nicht an der Biologie. Tote bleiben Mitglieder der Gemeinschaft, Menschen, wenn sie von ihr rituell korrekt bestattet wurden. Lebende werden erst zu Menschen, wenn sie durch ein Adoptionsritual Mitglieder der Gemeinschaft geworden sind: Umarmung durch den Vater, Schoß-Setzung, Übergießen mit Wasser, Namengebung und anderes mehr. Vorher können sie bedenkenlos „entsorgt”, ausgesetzt werden. Gründe, den kleinen Lebewesen die rituelle Anerkennung als Menschen zu verweigern, sind etwa Mißwuchs, Vielgeburt (Zwillinge gelten oft als Resultat von Mehrverkehr der Mutter; häufig läßt man auch nur das Kräftigere von beiden am Leben).
Die Vitalseele (Lebenskraft) des Kleinkindes ist noch schwach. Sie kann vom Leib abstrahlen, durch Körperöffnungen und ‑ausscheidungen abfließen, was man durch Bebänderung und Umschnürung verhindert; das „Wickelkind” erinnert noch an diesen Zusammenhang. Verbrauchte Lebensenergie muß durch krafthaltige Nahrung ersetzt werden. Als die Kraftnahrung „der Wahl” gilt Muttermilch (die Stillzeit kann bis zu fünf Jahre währen); daneben treten bald Körner, zu Brei zerstoßen und verkocht (sie enthalten besonders viel Vitalität, weil aus ihnen ausgewachsene Pflanzen entstehen können). Auch bestimmte Talismane (aus Knochen, Haar, Steinen), dem Kind umgehängt, führen ihm Vitalität zu. Die Exkursionsseele, aus dem Bereich der Ahnen stammend, ist im Kleinkind noch nicht fest verankert. Oft verläßt sie den kleinen Leib und weilt bei den Ihren im Jenseits: dann schläft es. Damit die Exkursionsseele wieder zurückkehrt, darf sie nicht erschreckt werden: Lärm und Streit sind tabu. Liebevolle Zuwendung läßt sie am ehesten zum dauerhaften Aufenthalt im Leib und bei den Lebenden bewegen. Wenn sich am Schädel die Hauptfontanelle geschlossen hat, hält man die Gefahr, daß die Exkursionsseele definitiv entweicht und das Kind stirbt, erst einmal für gebannt. Um das Kind vor dem Einfluß böser Geister zu schützen, die die Kenntnis seines Namens zu Schadenzauber mißbrauchen könnten, verheimlicht man oft den wirklichen Namen (Rumpelstilzchen-Effekt!) und ruft es (einige Zeit) mit einem Decknamen, der die Unheilsmacht irreführt oder vergrault („Fleischfliege”, „Kehricht”).
Bis etwa zum 5. Lebensjahr (Entwöhnung!) bleiben die Kinder in der Obhut der Frauenwelt. Von nun an beginnen die Knaben sich aus dem „weiblichen Dunstkreis” zu lösen, schließen sich den Männern an. Beide Geschlechter nehmen (entsprechend ihren Kräften und Möglichkeiten) teil an den geschlechtsspezifischen Tätigkeiten der Erwachsenen, die sie bis zum Übertritt ins Erwachsenendasein beherrschen müssen.
Dieser Übertritt erfolgt, rituell streng kontrolliert und von den Erwachsenen gesteuert, durch eine Initiation. Wiederum sind es nicht biologische Daten (Mutation, Menarche), die den Übergang vom Jugendalter in den Erwachsenenstatus markieren, sondern das Ritual. Es beinhaltet: Absonderung von der Altersklasse der Jugendlichen, Geschlechtsdifferenzierung durch Beschneidung (Vorhaut, Klitoris), Einweisung in die Traditionen der Erwachsenenwelt, ekstatische Erfahrung von Transzendenz, Mutproben (unter Umständen das Töten eines Stammesfremden, das Verzehren von Menschenfleisch), festliche Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen, oft erster Geschlechtsverkehr und sofortige Verheiratung, oft Einzug ins Männerhaus, wo die Junggesellen gemeinsam leben und den kriegerischen Schutz der Gemeinschaft übernehmen, bevor sie in den Ehestand treten.
Initiationsrituale stabilisieren traditionelle Gesellschaften, indem sie die jugendliche „Adoleszenzkrise” mit ihrer „Neophilie” (Neuerungssucht) dramatisch ausagieren und damit frühzeitig entschärfen. Denn in traditionellen Gesellschaften sind es die älteren Erwachsenen, die mit ihrer Kenntnis von Überlebensstrategien und von überlebenswichtigen Traditionen den Fortbestand der ganzen Gemeinschaft garantieren.
Quellen, die uns über Jugend und Kindheit bei den Germanen berichten, stammen mehrheitlich aus dem nordgermanischen Bereich (Sagas, Edda). Eine gewisse Glorifizierung kriegerischer Ideale mag auf die sitzende Lebensweise nostalgischer Klosterschreiberei zurückgehen (Saxo Grammaticus). Das Wenige, was wir aus Tacitus wissen, stimmt im Wesentlichen mit den anderen Quellen überein. Die taciteische Bewunderung für die kriegerischen Tugenden der Germanen entspringt dem pädagogischen Bemühen, seinen Römern vorzuhalten, wie sie selbst einst waren und wieder sein müßten. Historisch zutreffend dürfte der kriegerische „Migrationshintergrund” aller Quellen zu Kindheit und Jugend der von ihnen geschilderten Personen sein.
Welcher „Migrationsdruck” auf Kindheit und Jugend zur Zeit der Wikingerzüge lastete, illustriert eine Episode aus einer Isländer-Saga des 13. Jahrhunderts. Die Szene spielt im 11. Jahrhundert; ein Vater schilt seinen Sohn einen faulen Nesthocker: „Anders treiben’s heute die jungen Männer als in meiner Jugend … Das war der großen Herren Art, … unseresgleichen, auf Kriegsfahrt zu liegen und sich Reichtum und Ruhm zu erkämpfen. Und die Beute sollte nicht zum Erbe geschlagen werden und der Sohn sie nicht nach dem Vater übernehmen, sondern sie sollte neben den Toten in den Grabhügel gelegt werden. Und wenn nun auch die Söhne die Höfe bekamen, so konnten sie sich doch nicht halten … Sie müßten sich selbst und ihre Mannen in Wagnis und Wikingsfahrt dransetzen und sich Reichtum und Ruhm erstreiten, einer nach dem andern, und so traten sie in ihrer Ahnen Fußspur.” Das heißt doch: Der Totenteil, den der Vater mit ins Grab nimmt (Gold, Silber, Wertgegenstände), ist so groß, daß der vererbte Rest (der Grundbesitz und etwas zugehörige Fahrhabe) den Nachkommen keine ausreichende Grundlage zum Leben bietet, wodurch sie ihrerseits gezwungen sind, mit gleichaltrigen Schicksalsgenossen auf Beutezüge, Wikingfahrten, zu gehen und auf diese Art Vermögen zu erwerben. Und da ihnen das so Erworbene (Erbeutete!) mit ins Grab folgt, vererben sie ihre Lebensweise auf die folgende Generation und so fort. Damit mag der Hintergrund skizziert sein, auf dem sich uns Kindheit, Jugend und Initiation der Nordgermanen vor ihrer Christianisierung darstellt. Über Entsprechendes zum weiblichen Geschlecht schweigen die Quellen.
Mit der bloßen Geburt ist ein Neugeborenes noch nicht Mitglied der Gemeinschaft (Familie, Sippe). Das bewirkt erst ein besonderes Adoptionsritual: Das Kind wird vom Erdboden aufgenommen, dem Vater auf die Knie gesetzt (Schoß-Setzung), mit Wasser besprengt (Wasserweihe). Es erhält einen Namen und zur „Befestigung des Namens” (nafn-festr) ein Geschenk. Geschenke binden Geber und Beschenkte dauerhaft aneinander, denn ein Geschenk enthält „Seele” von dem, der gibt. Oft erhält das Kind den Namen des verstorbenen Großvaters; denn man dachte sich im Kind denjenigen Verstorbenen wiedergeboren (endr-borinn), dessen Name das Neugeborene erhält („Enkel” ist eine Verkleinerungsform von „Ahn” und bedeutet „kleiner Ahn”).
Solange das Ritual noch nicht vollzogen ist, kann das Neugeborene ohne weiteres ausgesetzt werden. Auch hier ist Mehrgeburt unerwünscht weil unter dem Verdacht mütterlichen Mehrverkehrs (oft läßt man aber auch das Kräftigere von Zwillingen leben). Das Recht auf Kindesaussetzung hatten sich die Isländer bei der Einführung des Christentums bezeichnenderweise ausdrücklich vorbehalten.
Bei der negativen Einstellung der Germanen zu dem, was wir „Arbeit für andere” nennen und der positiven Einschätzung von Krieg und Beute (das altisländische Pendant zu unserem Wort „Arbeit” ist vinna – „gewinnen”, obsiegen, erobern) werden wir uns nicht wundern, wenn Kinder (Knaben) dann als besonders verheißungsvoll galten, wenn sie sprechfaule Nichtstuer („Aschenhocker”) waren, die keinen Finger rührten, in Haus und Hof mitzuhelfen, oder gar schon „im zarten Alter” einen oder mehrere Menschen (Männer) erschlugen, was ihnen den besonderen Stolz der Mutter eintrug. Mit zwölf Jahren war der Knabe auf Island mündig und durfte bewaffnet zum Thing reiten. Damit enden Kindheit und Jugendalter. Der mündige und waffenfähige junge Mann war nun frei, sich der Gefolgschaft eines Mächtigen anzuschließen oder Wikingern, wozu ihn reiche Eltern mit einem Schiff ausstatteten. Er verbrachte also einige Jahre auf Heerfahrt, sei es im Dienste eines Königs, sei es auf privaten Wikingerzügen (sprich: Raubzügen). In beiden Fällen lebte er kriegerisch, männerbündisch organisiert, erotisch freizügig (Vergewaltigung, Mädchen-bzw. Frauenraub und ‑handel). Hatte er genug Beuteanteil oder Raub- und Plündergut zusammen, kehrte er zum väterlichen Hof zurück oder erwarb sich selbst einen und heiratete. Er konnte seßhaft werden, besaß er doch nun eine ökonomische Basis, die ihn von einer väterlichen Erbschaft unabhängig machte (deren Totenteil ihm vorenthalten blieb). Gelegentlich beteiligte er sich auch jetzt noch an Kriegs- oder Wikingfahrten außer Landes, wo er seine kriegerische Erfahrung an Jüngere weitervermitteln konnte.
Gefolgschaft und Wikingerbanden waren, wie gesagt, männerbündisch organisiert. Unter „Männerbund” soll hier ein sippenübergreifendes System sozialer Bindung verstanden werden, das die mündigen, waffenfähigen Jungmänner zu einer Kult- und Lebensgemeinschaft zusammenschließt und durch initiatorisches Aufnahmeritual konstituiert wird. Die Initiations- und Kultgottheit ist Odin: „Hängegott” (hanga-guð) und, als Kriegs- und Totengott, Anführer des „wilden Heeres”. Durch Scheinhängen (Hängen bis zur Bewußtlosigkeit) und Speermerkung (Speerstich) wird der Initiand Eigentum Odins und Angehöriger seiner ekstatischen „wilden Jagd”. Im Männerbund erlernt er die Ekstasetechnik der Berserkerwut (berserks-gangr), die ihn (auf bestimmte Zeit) unverwundbar durch Feuer und Eisen macht und ihm die Kampfeigenschaften eines wütigen Bären oder reißenden Wolfes verleiht. Der kriegerische Männerbund verschwört die Kultgenossen zu Waffenbrüderschaft in Wikingerzug oder Gefolgschaft, stellt die Elitetruppe bei kriegerischen Auseinandersetzungen von sippenübergreifendem Interesse und interzediert, wenn sippenübergreifende Rechtsmechanismen versagen oder familistischer Partikularismus überbordet, ist also Träger der Rügejustiz.
Am „Beispiel der Germanen” konstatierten wir eine Verschiebung in der Wertigkeit der Altersstufen. Waren für die „sedentäre” traditionelle Gesellschaft die Alten und ihre Traditionen Garanten für das Überleben der Gemeinschaft, so werden es im „komitativen” (gefolgschaftlich orientierten) Migrantenverband die jungen Kämpfer mit ihrer Mobilität und Schlagkraft. Altentötung ist bezeugt, und es heißt nun: „Jungen Baum soll auf man ziehen, alten fällen.”
Es steht zu hoffen, daß eine ähnliche Werteverschiebung von Alt zu Jung heute einen Kulminationspunkt erreicht hat und man sich auf die Funktion von Überlieferungen zurückzubesinnen beginnt: man braucht die Welt nicht immer neu erfinden.