Es ist sinnvoll, sich vor jeder weiteren Beschäftigung mit der italienischen Parteipolitik folgenden Sachverhalt vor Augen zu führen: Seit 1946 haben in Rom 63 Kabinette unter 27 Ministerpräsidenten zu regieren versucht. Die Epoche Berlusconi war mit über 2200 Amtstagen für italienische Verhältnisse extrem stabil. Aber auch über ihr schwebte ein gewisser Unernst:
Die Politik scheint vor allem etwas Inszeniertes zu sein. Sie berührt das vitale metapolitische Leben nicht wirklich.
Wo waren wir also wirklich, Ellen und ich? Rein formal: als PEGIDA-Versteher auf Einladung der Lega Nord zu Gast bei einem Kongreß, auf dem es um die “Identität” als zentrale politische Fragestellung der Zukunft ging. Außerdem: zu Gast auf einer riesigen Demonstration der Lega auf der Piazza del Popolo.
Die ertragreichsten Begegnungen und Gespräche fanden aber außerhalb der großen Parteiveranstaltungen statt, in einem metapolitischen Milieu, das Verzahnungen in alle Richtungen hat: in die Partei sowieso, aber auch zu regionalen, identitären Gruppen, zu Querfrontverlagen, Aktivisten, zur CasaPound und eben auch ins Ausland.
Am Freitagabend etwa, wir trafen uns mit rund dreißig Intellektuellen in einem – ausgerechnet! – bayrischen Restaurant. Die Wurstberge waren absurd, aber inmitten dieses Abgesangs auf die deutsche Küche war das im Gegensatz zu Deutschland unverkrampfte Selbstbewußtsein der Runde zu spüren: Man steht hier nicht am Rande, im Abseits oder unter schwerem sozialem Druck, wenn man sich geistig und von der Symbolsprache her rechts gibt.
Jenseits von Phrase und Floskel ist gleich das erste Gespräch: Lorenzo Fontana sitzt für die Lega im Europaparlament – ein ruhiger, gebildeter, katholisch vorkonziliar gläubiger Mann, der sich für die PEGIDA interessiert und den Unterschied der politischen Ausgangsbedingungen in Deutschland und Italien zu begreifen versucht.
Diese grundsätzlichen Antworten mußten wir im Verlauf der Gespräche oft wiederholen:
- Längst nicht das ganze deutsche Volk steht hinter der Politik Merkels. In Italien wird das aber so dargestellt und angenommen.
- Die PEGIDA ist keine Partei, sondern eine Bewegung mit flachen Strukturen.
- Sie ist kein Aufmarsch radikaler Rechter, sondern ein friedliches Protestbündnis, das dem Konservatismus des Dresdner Bürgertums auf den Leib geschneidert ist.
- Die PEGIDA startete als Protestbündnis gegen die Islamisierung und meinte damit von Anfang an den radikalen, politischen Islam, nicht aber die Weltreligion an sich. Mittlerweile ist aber an der PEGIDA etwas ganz anderes deutlich geworden: die Distanz der politischen Klasse zum Volk und die Distanz der Gesellschaftsexperimente (Gender, Multikulturalismus, political correctness) zu dem, was das Volk für normal und seiner Zukunft zuträglich hält.
- Zuletzt, und das sorgte bei Lorenzo Fontana und jedem anderen Gesprächspartner für ungläubiges Nachhaken: Keine einzige große deutsche Zeitung und keine einziger Sender stehen auf der Seite der PEGIDA, und so sei aus dem Wort “Lügenpresse” mittlerweile ein Synonym für die Distanz zwischen medialer Klasse und Volk geworden.
Für die etwas besser über die Situation in Deutschland informierten Gesprächspartner kam noch eine weitere Desillusionierung dazu:
- Die AfD kann keinesfalls als die parteipolitische Vertretung der PEGIDA gelten, obwohl sie das geradezu natürlicherweise sein müßte. Ein anfängliches Zögern ist mittlerweile in eine klare Abgrenzung umgeschlagen, es gibt keinen Spitzenpolitiker innerhalb der AfD, der die PEGIDA öffentlich gegen die Angriffe aus Politik und Medien in Schutz nimmt.
- Grund dafür ist die internalisierte politische Hygiene nach rechts.
Die angeführten Punkte bildeten den Kern eines Vortrags, den ich im Rahmen eines Kongresses am Samstag hielt. Dort war auch der Andrang an Journalisten groß, ich gab Interviews, eines davon hat La Repubblica in einem Filmbericht hier bereits veröffentlicht.
Mein Vortrag führte inhaltlich natürlich weit über diese Situationsbeschreibung der PEGIDA hinaus: Er mündete in der Überzeugung, daß die Frage nach der Identität die entscheidende politische Frage der kommenden Jahre werden dürfte, und zwar mit einer doppelten Frontstellung:
- Nach innen gerichtet ist die Frage nach der Bindungskraft des Liberalismus amerikanischer Prägung zu stellen. Die Identität der Deutschen, der Italiener usf. kann sich auf keinen Fall mit der Rolle begnügen, den “kleinen Amerikaner” zu spielen oder seine Karikatur abzugeben. Es komme vielmehr auf entschiedene Gegnerschaft zu folgenden Fehlentwicklungen an: Globalisierung im Sinne einer Herauslösung des Einzelnen aus seinen Bindungen; Abwertung des Menschen zu einem konsum- und kommunikationsfähigen Rohstoff; Übernahme der amerikanischen Anmaßung, die ganze Welt müsse westlich werden.
- Nach außen gerichtet ist Front zu machen gegen die Überfremdung: Sie fordert in ihrer Wucht einen identitären Widerstand, zu dem die geschwächten europäischen Nationen derzeit nicht in der Lage sind. Sie folgt außerdem ideologisch genau jener losgelösten Individualisierung, die oben skizziert ist. Den aus allen Bindungen gelösten Einwanderer zu seiner Entfaltung zu bringen, ist das Projekt einer blinden Linken, die damit seltsamerweise dem von ihr doch so vehement abgelehnten Amerikanismus auf den Leim kriecht.
Es war für Kositza und mich verblüffend, daß die anderen Referenten dieses Problem genau erkannten und dieselbe Stoßrichtung verfolgten. Genannt seien hier Philippe Vardon vom Bloc Identitaire aus Frankreich, Sebastiano Caputo, der die Jugendzeitung Intellettuale Dissidente herausgibt, Lorenzo Vitelli (Verleger des Circolo Proudhon) oder auch der fulminant sprechende italienische Journalist Pietrangelo Buttafuoco: Sie alle betonten, daß die Frage nach der Identität die antiamerikanische Gemeinsamkeit zwischen links und rechts herausschälen und die künstliche Gegnerschaft beider Lager aufheben könnte.
Für die Italiener ist schwer zu verstehen, daß man sich in Deutschland so sehr scheut, zunächst einmal jeden möglichen Mitstreiter einzubinden – zumal in einer so frühen Phase des politischen Aufbruchs: Der potentiellen und tatsächlichen Gegner der AfD, der PEGIDA und aller anderen konservativen Initiativen sind so viele, daß dieser Druck zusammenschweißen müßte – tatsächlich aber trennt.
Für uns ist das kalter Kaffee und traurige Realität. Für Deutschland bleibt einmal mehr zu vermerken, daß selbst jene konservativen Vordenker, die sich seit je Fernsehsender und Großveranstaltungen herbeiwünschen, um endlich, endlich “die Massen zu agitieren”, die PEGIDA bereits wieder verpaßt haben: Nicht fein genug? Nicht hygienisch genug? Noch nicht der sichere Sieger? Fragen über Fragen, die am Ende nur eines beweisen: Das Establishment diktiert die Handlungsspielräume noch immer, weil die deutsche Gegenaufklärung Teil des Establishments sein möchte – trotz aller markigen Sprüche.
Vor solchen Problemen stehen die Italiener nicht. Das ist der seelische, herzerfrischende Ertrag der Reise. Der intellektuelle Ertrag wird nun sondiert, wir haben große Lust, an dem ein oder anderen internationalen Projekt mitzuarbeiten. Derlei Projekte halten nämlich auch in Italien deutlich länger als politische Bündnisse und Arrangements, und mit der ein oder anderen Übersetzung haben wir ja bereits gute Erfahrungen gemacht.
Heute Abend werde ich dann übrigens in Dresden aus Rom berichten. Auf nach Dresden!
Nihil
Erfreulich, dass die deutsche "Neue Rechte" auch zunehmend europäisch wird, genau das was die „Nouvelle Droite“ für mich immer so interessant gemacht hat.