In seiner Kolumne für die Junge Freiheit beschrieb der katholische Publizist Mathias von Gersdorff Pontius Pilatus als “Prototypen des korrupten Opportunisten”. Damit hat er meiner bescheidenen Ansicht nach dem Prokurator von Judäa, der den Ausgang der Passion Christi entschied, ziemlich unrecht getan.
Gersdorff hat während der Fastenzeit über den römischen Statthalter meditiert, um zu verstehen, “wie es zu seinem verbrecherischen Richterspruch kam.” Seine Interpretation der Vorgänge ist etwa so: Pilatus erkennt schnell, daß Jesus “Opfer einer Verschwörung und daher unschuldig” ist.
Während der Unterhaltung zeigt Pilatus Interesse für Jesus und beginnt, sein Herz zu öffnen. Jesus deutet ihm seine Mission an und sagt ihm, er sei ein König, aber nicht von dieser Welt. Doch das Gespräch endet ungünstig, denn Widerstand bäumt sich im Herzen Pilatus’ auf, als Jesus ihm sagt, er sei gekommen, Zeugnis von der Wahrheit abzulegen. Pilatus’ berühmte und folgenschwere Antwort darauf: „Was ist Wahrheit?“
Diese Infragestellung ist der entscheidende Wendepunkt im Prozeß gegen Jesus. Ab diesem Zeitpunkt ist Pilatus von Angst erfüllt und nicht mehr primär interessiert, die Wahrheit herauszufinden und ein gerechtes Urteil zu fällen. (…)
Nach dem ersten Verhör geht Pilatus zu den Klägern und stellt fest: „Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.“ Pilatus hätte Jesus freilassen müssen, doch er fürchtete sich. So bot er an, den Verbrecher Barrabas anstatt Jesus hinrichten zu lassen.
Ein seltsamer Lapsus, der dem Autor hier unterlaufen ist: denn Pilatus bietet dem Volk an, Barrabas anstelle Jesu freizulassen, nicht ihn “hinrichten zu lassen”. Allerdings wäre diese Fassung weitaus logischer, denn die besagte Szene des Neuen Testaments scheint nicht ganz stimmig zu sein (weshalb auch ihre historische Authentizität oft angezweifelt wurde): denn der Mob ist doch offenbar deswegen aufgewiegelt, weil er Jesus gekreuzigt, und nicht freigelassen sehen will.
Warum denkt also Pilatus, er könne das Volk beruhigen, indem er ihm die Freilassung von Jesus oder Barrabas anbietet? Sieht er darin eine Möglichkeit, Jesus doch noch zu retten, weil er sich nicht vorstellen kann, daß die Menge den Schurken Barrabas bevorzugen würde? Auch das ergibt nicht so recht Sinn.
Gersdorff weiter:
Das Angebot wurde abgelehnt. Immer noch wollte Pilatus Jesus freilassen, doch damit die Gegner Christi auf ihre Kosten kommen, ordnete er eine Geißelung an.
Wie wir alle aus dem Film von Mel Gibson wissen oder zu wissen glauben, handelte es sich dabei um eine äußerst grausame Strafe, die wie die Peitschenhiebe im heutigen Saudiarabien zum Tode des Verurteilten führen konnte. Die Anordnung dieser Strafe hält Gersdorff für besonders verwerflich und als Ausweis für den schwachen Charakter des Prokurators:
Halten wir fest: Pilatus’ Schwäche war kein Hindernis, eine solche Tortur anzuordnen. Ganz im Gegenteil: Weil er nicht Manns genug war, den Gegnern Jesu die Stirn zu zeigen, ordnete er ungerechterweise – aus purer Feigheit – – eine Folter an.
Der Satz „Was ist Wahrheit?“ zeigt aber, daß Pilatus nicht nur schwach war, sondern auch unfähig, sich feste Urteile zu bilden. Er war ein Wendehals, der es demjenigen Recht tat, der den größten Druck ausübte. Weil er unfähig geworden war, die Wahrheit zu erkennen, war er auch nicht mehr fähig, gerecht zu urteilen und zu handeln. Allein die Angst um den Verlust seines Postens war die Richtschnur seines Lebens.
Noch einmal versucht Pilatus, Jesus zu retten, indem er an das Mitleid der Menge appelliert, und ihr den Gemarterten vorführt: “Ecce homo!” – “Seht, welch ein Mensch!” Aber auch das fruchtet nichts.
Pilatus’ Vorgehen erzeugte aber kein Mitleid, sondern genau das Gegenteil. Die Forderungen nach einer Hinrichtung wurden noch heftiger vorgetragen. Der Evangelist berichtet: „Als Pilatus das hörte, wurde er noch ängstlicher.“
Das Resümee Gersdorffs:
Pilatus gab jeden Widerstand auf und verkündete prompt das verbrecherische Todesurteil. Sein Verhalten soll uns eine Warnung sein: Er gab sich in dieser Situation seiner Schwäche hin, weil er nicht zur Bildung von Gewißheiten fähig war. Das machte ihn zu einem ängstlichen Menschen, wodurch er zu grausamen und ungerechten Entscheidungen imstande war. Sein eigener Nutzen war sein Leitfaden. Um diesen zu verteidigen, war er zu allem fähig.
Dadurch ist Pilatus zum Prototyp des korrupten und eigensüchtigen Politikers geworden. Er ist so etwas wie das Vorbild aller Politiker, denen die Wahrheit und die Gerechtigkeit egal sind und die sich nur nach Eigennutz richten. Er war sogar bereit, abzustreiten, daß es eine Wahrheit gibt, wenn ihm das nützlich erschien: Solche Politiker sind zu den größten Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten fähig.
Als ich das las, regte sich in mir sofort ein profunder Widerspruch. In der Tat zählte Pilatus seit jeher zu meinen Lieblingsgestalten in der Bibel. Ich werde nun freilich nicht so weit gehen wie Nietzsche, der ihn die “einzige Figur” des Neuen Testaments nannte, “die man ehren muß”:
Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Missbrauch mit dem Wort ‚Wahrheit‘ getrieben wird, hat das neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Werth hat, — das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist: ‚was ist Wahrheit!‘
Unter den vielen genial verknappten Szenen des Neuen Testaments ist jene, in der das berühmte Wort “Quid est veritas?” fällt, wohl eine der genialsten. Ihr Reiz liegt in der Lakonik, mit der Pilatus und mit ihm eine ganze Welt des Denkens und Seins charakterisiert wird. Ein guter Teil seiner Suggestivkraft resultiert aus dem geradezu filmischen Schnitt, mit dem der Verfasser des Johannes-Evangeliums zur nächsten Szene übergeht.
Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.
Ein Effekt, der etwa im apokryphen Nikodemus-Evangelium deutlich verloren geht, da der Dialog zwischen Jesus und Pilatus weitergesponnen wird:
Da erwidert ihm Jesus: Die Wahrheit stammt vom Himmel.Da fragt Pilatus: Gibt es auf Erden keine Wahrheit? Da spricht Jesus zu Pilatus:Du siehst doch, wie die, welche die Wahrheit sagen,von den irdischen Machthabern gerichtet werden.
Zu deutlich ist hier didaktische Absicht des Verfassers, und ein guter Filmcutter würde sofort spüren, wie die Szene immens gewinnt, wenn die Frage offen bleibt – die mit sehr unterschiedlicher Betonung gespielt werden kann.
Erik von Kuehnelt-Leddihn, der unserem Blog das Motto “Right is right, and left is wrong” gab, liebte es, Pilatus als Beispiel für den ewigen (im schlechten Sinne) Liberalen hinzustellen: der Relativist und Unentschlossene, der nichts von “Wahrheit” wissen will und der, frei nach Donoso Cortès, jede Frage nach ihr mit der Forderung nach “Vertagung des Parlaments” umschifft.
Gegen diese und Gersdorffs Interpretation ließe sich einwenden, daß es nicht die Aufgabe des Statthalters war, über die “Wahrheit” im weltanschaulichen Sinne zu entschieden. Denn es ging bei seiner berühmten Frage eben nicht um die “Wahrheit”, ob Jesus schuldig oder unschuldig im Sinne der Anklage sei, sondern um “Wahrheit” in einem übergreifenden, metaphysischen Sinne.
Und hier stand er als Repräsentant des antiken Leviathan als ordnende Instanz gegenüber all den jüdischen Sekten, die einander im Eifer um die Rechtgläubigkeit bekämpften. Das ging ihn, so sind sich die Berichte einig, nichts an. Er hatte als Römer alles Recht der Welt gegenüber einem weiteren jüdischen Propheten, der behauptete, um Gott und die Wahrheit Bescheid zu wissen, mit der Schulter zu zucken.
“Für den echten Staatsmann”, bemerkte Spengler, “gibt es nur politische Tatsachen, keine politischen Wahrheiten. Die berühmte Frage des Pilatus ist die eines jeden Tatsachenmenschen.” So gesehen kann man in Pilatus auch einen kühlen Konservativen sehen, einen Gehlen der Antike, einen Technokraten, dessen Gepflogenheiten dem Usus seiner Zeit entsprachen. “Seelenheil” und “Wahrheit” sind Dinge, um die sich zu kümmern er nicht nötig hat; seine Bestimmung ist zu herrschen, gemäß den Versen des Vergil:
Du aber, Römer, gedenke die Völker der Welt zu beherrschen. Darin liegt deine Kunst, und schaffe Gesittung und Frieden. Schone die Unterworfnen und ringe die Trotzigen nieder.
Hans Blüher schrieb in seinem gewaltigen Werk “Die Aristie des Jesus von Nazareth” (1921):
Pontius Pilatus war noch ein echter alter Römer (“die sympathischte Figur des Neuen Testaments”, wie Nietzsche nicht sehr unbegründet sagt), dem jener seelenverkündende Schwärmer, den das Volk der Juden ihm peinlicherweise zur Aburteilung übergeben hatte, absonderlich vorkam.
Besonders peinlich sei ihm Jesu Satz “Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll” gewesen:
Das ist Pilatus wieder zuviel; er wendet sich mit einer verächtlichen Handbewegung ab und sagt die (…) wahrlich tiefgreifenden Worte: “Was ist die Wahrheit…!” Er nimmt ihn [Jesus] schon nicht mehr ernst und läßt ihn ruhig auspeitschen und dann kreuzigen, wie das so Römersitte ist.
In der Tat: auspeitschen und kreuzigen, das gehörte quasi zur Routine der römischen Besatzungsmacht. Geißelung und Folter waren etwas “Normales”, mit dem jeder zu rechnen hatte, der sich der Autorität Roms in den Weg stellte. Pilatus hatte vor allem eine Pflicht zu erfüllen, und die lautete schlicht, Unruhen in Jerusalem und Judäa zu vermeiden, und wenn nötig, niederzuschlagen. Von diesem Gesichtspunkt aus hat er konsequent gehandelt; es gibt keinerlei Anlaß, ihn als “feige” oder “korrupt” zu bezeichnen.
Denn die tobende Menge, angeheizt von den Pharisäern, drohte – laut der Erzählung der Evangelisten – außer Kontrolle zu geraten. Damit war die Lage allerdings längst von der religiösen Ebene, die ihn – “Was ist die Wahrheit und erst recht die Wahrheit der Juden?”- nichts anging, auf die politische Ebene übergegangen, für die er allerdings zuständig war. Und vielleicht war doch mehr dran an dieser Rede vom “König der Juden” als ein Reich im Wolkenkuckucksheim eines unsichtbaren Gottes.
Pilatus läßt auf die Tafel schreiben: “Jesus von Nazareth, König der Juden.” Die Pharisäer protestieren, er solle schreiben: “Der sich ausgab als König der Juden.” “Quod scripsi, scripsi – was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben,” antwortet Pilatus, vielleicht, um den Pharisäern noch eins auszuwischen. Vielleicht hatte er auch nur keine Lust, die Tafel in drei Sprachen nochmal anfertigen zu lassen.
Nicht nur seine Stelle, auch der Friede im ohnehin von Aufständen gebeutelten Land schien Pilatus also wichtiger als ein närrischer Prophet mehr oder weniger. Manche Historiker sind der Ansicht, daß Barrabas und die beiden “Diebe” zur Linken und Rechten des Herrn in Wahrheit politische Gefangene waren, eher Aufständische als Wegelagerer, oder auch beides zusammen.
Der besondere Reiz der im Neuen Testament überlieferten Begegnung zwischen Jesus und Pilatus liegt eher in der unerwarteten Irritation des Prokurators angesichts dieses seltsamen “Königs”, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, was sich kein Römer vorstellen kann. Er gerät ins Zweifeln und Wanken, wie nur ein paar Jahrhunderte später das römische Kaiserreich, ehe es reif zur Übernahme durch das Christentum wird.
Es soll uns hier nicht beschäftigen, ob es sich auch tatsächlich so zugetragen hat oder haben kann, oder ob es sich, wie viele Wissenschaftler behaupten, nur um eine nachträgliche Bearbeitung der Evangelisten handelt, um die Römer zu ent- und die Juden zu belasten; hier soll es vor allem um die Kraft und den Sinn der Erzählung gehen.
Es passiert nämlich etwas Ungeheuerliches: diesen trockenen und harten, heidnisch-aufgeklärten Technokraten der Macht scheint also ein Strahl von der Göttlichkeit Christi zu treffen, der durch seinen selbstsicheren Panzer fährt; so sehr, daß sich sogar so etwas wie ein Gewissen und Mitleid regen. Er hat vielleicht weniger Angst vor den Pharisäern, der Masse oder dem Cäsar, als vor dem Geheimnis des Mannes, der vor ihm steht. Es geht hier nicht so sehr um Gerechtigkeit; es geht um die Ahnung einer numinosen Präsenz, und dies wiegt umso mehr, als sogar ein Mann wie Pilatus von ihr angerührt wird.
In manchen Versionen des Stoffes scheint Pilatus dunkel zu ahnen, daß seine Entscheidung tiefgreifende, erschütternde Konsequenzen haben wird – so etwa in der (übrigens sehr klugen) Rockoper “Jesus Christ Superstar” oder in Gibsons “The Passion of the Christ”, wo auch die Warnungen seiner wahrträumenden Frau Claudia, die als eine der frühesten Konvertitinnen gilt, eine Rolle spielen. Auch darum sträubt er sich, Christus zu verurteilen.
Die Geißelung erscheint in den meisten Dramatisierungen des Stoffes als ein Versuch, Christus vor der Kreuzigung zu bewahren und gleichzeitig den Blutdurst der Menge zu stillen. Als dies nichts fruchtet, wendet sich Pilatus angewidert ab, und gibt dem Pöbel und den Pharisäern, was sie wollen.
Ich habe nie so recht verstanden, wie man gerade als Gläubiger im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu von “einem verbrecherischen Richterspruch” oder einem “politischen Verbrechen” sprechen kann. Wird die ganze Erzählung dann nicht zu einem bloßen Justizkrimi banalisiert, der als Anschauungsbeispiel für moralische Empörung, etwa über Pilatus’ Verhalten, seine “Korruption” und “Feigheit” dienen soll? Die Rede von einem “Verbrechen” klingt ganz so, als sei hier etwas geschehen, das nicht geschehen hätte dürfen, ja das von Rechtswegen hätte unterbunden werden müssen.
Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Denn offenbar war dieses “Verbrechen” durchaus von Gott als notwendiges Geschehen gewollt, um den Heilsplan zu erfüllen, woraus folgt, daß Pilatus ebenso wie Judas Iskariot nichts anderes als ein Werkzeug der Vorsehung war. So auch der Hohepriester Kaiaphas, der vom Standpunkt seiner geglaubten Wahrheit völlig im Recht war, in Jesus einen Gotteslästerer zu sehen und darum, nach Sitte der alten Juden, seinen Tod zu fordern.
Die entsprechenden Szenen der Evangelien zeigen, daß Jesus keinem von ihnen eine Chance ließ, sich dieser Rolle zu entziehen. Jeder Satz, den er vom letzten Abendmahl ab spricht, gleicht einem Schachzug, der ihn unerbittlich und gezielt ans Kreuz bringt, wo ihm der Opfertod für die Sünden der Menschen vorherbestimmt ist. Der Kreuzestod ist aber auch die Vorbedingung für die Auferstehung, an der seine Göttlichkeit offenbar wird.
Wir befinden uns in der Passionsgeschichte also nicht mehr in einer Welt aus Moral und Verbrechen, aus Dingen, die etwa deshalb ein Skandalon sind, weil sie illegal und unmoralisch sind. Wir sind allerdings auch nicht mehr in der Welt der griechischen Tragödie, deren Figuren oft schuldlos und gegen ihren Willen schuldig werden, nichtsdestotrotz den Preis des Frevels zahlen müssen. Nein, wir sind im Neuland des christlichen Mysteriums, der “felix culpa”, die die Welten der Juden (Gesetz und Moral), der Römer (Justiz und Politik) und der Griechen (Tragödie und Schicksal) aufhebt und übersteigt.
Der große österreichische Schrifsteller Alexander Lernet-Holenia (1897–1976) hat übrigens der Ehrenrettung des Pilatus eines seiner späten Werke gewidmet. “Pilatus – Ein Komplex” (1967) rollt die Passionsgeschichte als dreifach verschachtelte und mehrfach dramatisch übermalte Rückblende auf. Der Erzähler, auf der Suche nach einem Gottesbeweis, besucht den Olmützer Domherrn Donati, der sich als in der historischen Bibelkritik hochversierter Skeptiker und Zweifler erweist, und der ihm eine seltsame Geschichte aus der Zeit seines Theologiestudiums erzählt.
Damals sei es unter den Studenten üblich gewesen, sich zum Zwecke der geistigen Schärfung in der vollständigen Aneignung eines Gegenstandpunktes zur eigenen Position zu üben. Denn es sei doch so,
…“daß nicht nur Argumente, sondern auch Gegenargumente im Falle einer jeden solchen Auseinandersetzung, die man zuletzt auch in sich selber führen kann, durchaus berechtigt sind, denn anders findet man die Wahrheit überhaupt nicht. Auch wir in unserem Seminar bildeten mithin zwei Parteien, denen es nicht gestattet war, ihre Standpunkte frei zu beziehen oder gar zu wechseln. Sie hatten sich vielmehr an genau festgelegte Voraussetzungen zu halten. Die eine Partei war die der Gläubigen und hatte den Glauben zu verteidigen, so gut sie nur konnte, und die andre, die Partei der Zweifler oder überhaupt Glaubenslosen, hatte die Pflicht, sich während der Dauer des Disputs streng auf den Standpunkt des Unglaubens zu stellen und gegen den Glauben ins Treffen zu führen, was immer sie an Argumenten vorzubringen vermochte.”
Um der Frage nachzugehen, “ob es Gott gibt oder nicht”, führten die Studenten eines Abends ein Stegreifspiel auf, in dem Donati die Rolle des nunmehr pensionierten, ehemaligen Prokurators von Judäa bekam. Pilatus wurde als zentrale Figur des Spiels gewählt, weil dieser die einzige Figur des Neuen Testaments sei, die sich einwandfrei historisch verifizieren läßt.
In der Ich-Erzählung des Domherrs, die den Großteil des Buches füllt, verschmilzt der einstige Darsteller immer wieder mit seiner damaligen Rolle. Die Übergänge sind fließend, blenden ineinander über; mal scheint Donati zu sprechen, ob als Dogmatiker oder historisch-kritischer Forscher, mal der “historische” Prokurator a.D. selbst, freilich so, wie Donati ihn als Student gespielt hat.
Dieser entdeckt zu seiner Verblüffung, daß er an einem Jahrzehnte zurückliegenden Gottesmord schuldig sein soll, der noch dazu zum Ursprung einer neuen Religion geworden ist, der inzwischen auch seine Sklaven und Diener angehören. Als er beginnt, den Fall aufzurollen, entdeckt er ein undurchdringliches Gewebe aus Überlieferungen, Legenden und Mystifikationen, das sich längst verselbstständigt hat.
Dieser Pilatus wird schließlich im Laufe des Spiels vor ein von Christen angeführtes Tribunal gestellt, demgegenüber er bestreitet, jemals einen Jesus von Nazareth gekannt, geschweige denn gekreuzigt zu haben. Und er stellt seine Frage “Was ist Wahrheit?” – an die er sich gar nicht mehr erinnern kann, und die ihm vermutlich vom Evangelisten unterschoben wurde – ein weiteres Mal in Form eines Plädoyers:
“Ist es an dem?” sprach ich nämlich. “Ist es also an dem? Ihr wollt, ich solle zugeben, daß ich Gott gesehen, gesprochen, verurteilt habe? Ihr wollt, ich solle bezeugen, daß Gott wirklich sei, daß es ihn wirklich gibt? Ja, ihr würdet sogar wollen – seid doch offen! -, daß ich dieses Zeugnis auch dann ablegte, wenn ich ihn nie gesehen, gesprochen, verurteilt hätte? Ihr wollt, selbst um den Preis der Unwahrheit, dieses Zeugnis von mir um jeden Preis, denn die Sache ist euch wichtig genug, und, bei Gott, was ist da noch Wahrheit!
Aber niemand wird euch dergleichen bezeugen, und am wenigsten werde ich selbst es tun. Wenn ihr nämlich schon an Gott glaubt, so werdet ihr euch darein schicken müssen, daß ihr an ihn zu glauben habt, obwohl, ja eben weil es ihn nicht gibt. Denn was wäre das für ein Gott, den es gäbe und der sich beweisen ließe wie dieser Estrich hier, dieses Haus, wie ihr da alle! Nein, ihr Guten, niemals werde ich ihn euch, nie auch werdet ihr ihn euch selber beweisen können, da hilft euch keine Gewißheit eines Aurelius Augustinus und keine Logik eines Thomas von Aquin, ja da hilft euch nicht einmal Gott selbst.
Denn er ist nicht die Gewißheit, sondern das Ungewisse, nicht die Folgerichtigkeit, sondern das Wunder, nicht die Sicherheit, sondern die Gefahr, nicht das Mögliche, sondern das Unmögliche schlechthin! Und niemals, solange seine Kirche stehen wird, werden selbst die Gläubigsten aufhören, in den Tiefen ihrer Herzen und in ihren geheimsten Stunden daran zu zweifeln, daß es ihn gibt.”
Übrigens wurde Pontius Pilatus in den ersten christlichen Jahrhunderten als Konvertit oder gar Heiliger betrachtet; die Kopten verehren ihn gar als Märtyrer – sein Gedenktag ist der 25. Juni.
Sepp Tember
Guten Tag,
vielen Dank für den Beitrag zu Ostern, dem Auferstehungsfest.
Hier ein ebenso bescheidener Kurzbeitrag von mir:
Ich finde es relativ müßig sich bei der Passionsgeschichte Gedanken über die Rolle des Pilatus zu machen. Ob korrupt oder nicht, Pilatus hätte nicht die Macht gehabt Jesus zu kreuzigen, wäre sie ihm nicht von diesem selbst gegeben worden.
Erhellend dazu der Bericht des Matthäus: Als Jesus in der religiösen Verhandlung vor dem Hohen Rat angeklagt wird, gelingt es den Klägern nicht eine entscheidende Aussage für Jesu Verurteilung zu finden. Die entscheidende Aussage, die zu Jesu Verurteilung führte kam von ihm selbst (Kap. 26 V.63-67). Dann steht Jesus vor Pilatus. Hier verzichtet er auf eine Verteidigung, er verweigert nicht einfach die Aussage. (Kap.27,11-14).
Sogar als Christus absolut schwach erscheint, hält er das Heft in der Hand. Kein Hoher Rat, kein Pilatus hätte Christus ohne dessen eigene Zustimmung töten können.
Mit herzlichen Grüßen
Sepp T.