Die Völker Osteuropas beklagen seit langem, daß für die westeuropäisch-amerikanische Gedenkkultur nur die Opfer des Nationalsozialismus etwas zählen und ihr Leiden unter dem Kommunismus der Rede nicht wert ist. Auch die Armenier waren davon betroffen. Dem Zsolnay Verlag ist es zu danken, dieses politisch zutiefst unkorrekte Buch in deutscher Sprache herausgebracht zu haben.
Der Autor gruppiert den Schicksalsweg der Armenier, insbesondere in Rumänien und der Sowjetunion nach dem türkischen Genozid rund um die Geschichte seiner eigenen Familie. Daraus ergibt sich kein durchgängig gestalteter Roman, sondern mehr eine Art „Erinnerungsbuch“, wie wir es aus der deutschen Heimatvertriebenenliteratur gut kennen, wo für den Außenstehenden oft allzu sehr im Detail die Schicksale jeder einzelnen Familie, jedes Hauses und jedes Handwerkers im Herkunftsdorf beschrieben werden.
Vosganians Buch hat gewiß einen höheren literarischen Anspruch, ist stark mit Sprachbildern, Parabeln und Gleichnissen durchsetzt, aber es ist eben auch ein solches Erinnerungsbuch, in dem teils auf einer Seite nur die Namen armenischer Geschäfte und deren Inhaber in einer bestimmten Stadt aufgezählt werden. Und dennoch: Die hier ausgebreitete Geschichte des armenischen Volkes, bei uns fast völlig unbekannt, macht das Werk unbedingt lesenswert, zumal alle bedeutenden historischen Protagonisten ihren Auftritt haben – bis hin zu Ceauşescu, der, damals noch ein niedriger Funktionär, den Widerstand der Armenier eines Dorfes gegen die Kollektivierung in Rumänien unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit brutalsten Mitteln – und vielen Toten – brechen ließ.
Die Massaker in der Türkei von 1895 mit 200.000 Toten und von 1915, wo 1,4 Mio. Armenier (von 1,85 Mio.) deportiert und 90 % von ihnen ermordet wurden, sowie jenes in Aserbaidschan von 1918 mit erneut 20.000 Toten bilden nur die Vorgeschichte dieses Buches. Die Verantwortlichen für den Völkermord im osmanischen Reich wurden 1919 in der Türkei zwar verurteilt, ihnen aber die Flucht ins Ausland ermöglicht – wo sie zum großen Teil von einer armenischen Untergrundbewegung getötet wurden, was bereits ein Kapitel im „Buch des Flüsterns“ ausmacht.
Hauptsächlich aber geht es um das Leben der Armenier in Rumänien und Rußland nach dem Ersten Weltkrieg. Es geht darum, warum die „Blüte der armenischen Intellektuellen“ — „wie hätte es auch anders sein können“ — Kollaborateure mit dem Dritten Reich waren. Es geht um General Drastamat Kanayan, genannt „Dro“, der die armenische Legion an der Seite Deutschlands im Zweiten Weltkrieg befehligte, die teils mit Fallschirmen hinter den sowjetischen Linien abgesetzt wurde, der 1956 in den USA starb und in den 1990er Jahren feierlich „von Zehntausenden“ in Armenien beigesetzt wurde.
Von einem armenischen Träger des Eisernen Kreuzes spricht der Autor ohne jede Einschränkung als „Held im Krieg gegen den Bolschewismus“. Die Rache der Bolschewiki an den Armeniern, die Deportation ihrer Anführer nach Sibirien, die falschen Versprechungen, mit denen so viele zur Rückkehr in die Sowjetrepublik Armenien bewegt worden waren, und das grausame Schicksal dieser Unglücklichen sind weitere Schwerpunkte dieses Buches. Sogar eine organisierte Bücherverbrennung hat es im kommunistischen Rumänien gegeben.
Keine symbolische, wie es jene im Dritten Reich gewesen war, sondern eine, bei der alle Haushalte mittels postzugestellter Liste aufgefordert wurden, die verbotenen Bücher aus ihrem Besitz zum Stichtag abzuliefern. Zur deutschen Besatzung seiner Heimatstadt heißt es, sie habe sich „wohlgeordnet abgespielt. Die Deutschen ließen die Stadtbewohner in Ruhe, betranken sich nicht und machten keinen Krach. Ganz anders aber war es, als die Sowjets kamen.“
Das „Buch des Flüsterns“ ist ein Buch der Schatten; der Schatten, die sich nach dem Ersten Weltkrieg erneut über das armenische Volk legten. Ein weiterer Schatten zieht kurz durchs Buch, auf gerade einmal zwei Seiten, wenn nämlich von den „Zeithändlern“ die Rede ist.
„Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen, durch gastfreundliche Gesetze begünstigt, von Osten her auch die jüdischen Kaufleute und ließen sich an der Hauptstraße nieder. Sie begannen eine völlig ungewöhnliche Ware zu verkaufen, die bis dahin noch niemand auf seinen Verkaufstisch gelegt hatte: Die Zeit. Die Zeithändler hatten keine Regale, ihre Schaufenster, zur Hälfte von Rollläden bedeckt, wirkten nicht einladend, die Räume waren düster und die Tische schmal. … Jene Kaufleute hatten forschende Augen, die einen durchbohrten. Sie saßen gekrümmt, die Schultern über die sich fortwährend wie Walzen reibenden Hände gebeugt. … Wer Zeit kaufen gekommen war, erfuhr den Preis erst später. Wenn er verbrauchte, was er gekauft hatte, nämlich den Aufschub, verwandelte sich die scheinbare Ruhe in Unruhe, die Sorglosigkeit in Besorgnis. … Die Zeit erwies sich stets als teurere Ware, als sie beim ersten Blick zu sein schien. … Je mehr Zeit man benötigte, umso höher waren die Zinsen. Die Zeit fließt mit dem Blut. Eine Welt ohne Blut ist eine Welt ohne Zeit. Die Kunden hatten bleiche Wangen, und ihr Blut war verdünnt wegen der zu geringen Zeit, die ihnen zur Verfügung stand. Die Kaufleute schätzten sie mit den Blicken ab. Dann zogen sie verstohlen und mit im Dunkeln leuchtenden Augen die polierten Münzen hervor.“
Diese hier auszugsweise wiedergegebenen Ausführungen über jüdische Geldverleiher und den, vom Autor so benannten, „Zinswucher“ gelten heute als eindeutig antisemitisches Klischee.
Wie immer man dazu stehen mag, die kurze Textstelle schmälert nicht den Wert des ganzen Buches. Doch es verwundert, daß gerade der Zsolnay Verlag so etwas unkommentiert publiziert, ohne daß dies zu kritischen Bemerkungen in den Medien führt, während gegen einen Autor unseres [Ares-]Verlages, den General des österreichischen Bundesheeres Jordis von Lohausen, eine Kampagne wegen angeblichen Antisemitismus entfacht wurde, weil er in einem Buch in eineinhalb Sätzen geschrieben hatte, daß es eine Macht im Hintergrund gäbe, die die Herrschaft auf der Welt erstrebe, und diese Macht sei das Geld. Lohausen hatte nirgendwo behauptet, diese „Geldmacht“ sei eine jüdische Macht, trotzdem durfte sein Buch als „antisemitisch“ bezeichnet werden. Für den Zsolnay Verlag scheinen diesbezüglich andere Maßstäbe zu gelten.
Dem literarischen und insbesondere dokumentarischen Wert des Buches von Varujan Vosganian tut eine solche Stelle natürlich keinen Abbruch. Neben dem historischen Wert finden sich in ihm auch Bilder über das Leben des armenischen Volkes als Händler zwischen Ost und West, die in Erinnerung bleiben, Schilderungen der armenischen Diaspora, wo Briefmarken aus aller Welt zu Symbolen für die Schicksale von Familienangehörigen werden und grundsätzliche Gedanken über das Wesen eines Volkstums wie jener: „Wenn es heißt, zwei Menschen gehörten zum gleichen Volk, so bedeutet dies, daß sie die gleichen Geschichten gehört haben.“
Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns. Roman, Wien: Zsolnay 2013. 510 S., 26 €.
Eine weitere Besprechung (aus der Feder Götz Kubitscheks) erschien in der 57. Sezession, die für 5 € bestellt werden kann.
Holger
Ein wenig frage ich mich ja, was der Author mit dem ausführlichen Zitat und diversen weiteren Hinweisen bezweckt. Irgendwie muß ich an die nicht ganz uninteressanten Ausführungen von , na wie heißt der ,Storch-Heinar'-Typ noch gleich, denken. Da ging es um G. K. und Tontaubenschießen. Offenbar gibt es ein Detail, welches der Mainstream-Presse bisher entgangen ist. (Kein Wunder, es geht ihr nicht gut ...) Die Berichterstattung ist aktuell von taz bis faz eindeutig pro-Armenier. Wir können allerdings sicher sein, daß Röpke&Co hier mitlesen. Es ist tatsächlich interessant, ob das hier verbreitete Wissen durchsickert, und wie die Reaktion sein wird.
Es wäre immerhin denkbar, daß dem Zsolnay Verlag daraus Ungemach entsteht. Falls das der Fall ist, wird er bei weiteren Veröffentlichungen jedenfalls vorsichtiger sein. Dann hätte die Tontaube versagt...