Sie hat damit eine der schärfsten im diplomatischen Verkehr üblichen Maßnahmen ergriffen, sonst gebräuchlich bei Kriegsdrohungen, schweren außen- oder wirtschaftspolitischen Verwerfungen oder dem Bruch internationaler Vereinbarungen. Der Grund war in diesem Fall allerdings weitaus – scheinbar – harmloser:
wie in den Jahren zuvor schon Frankreich, die Schweiz und etwa 20 weitere Staaten hatte das Parlament der Alpenrepublik am Vortag die Verfolgung und Ermordung von etwa 1,5 Mio. orientalischen Christen im Ersten Weltkrieg als Völkermord anerkannt. Der Kulturmensch mag sich fragen, warum dies überhaupt nötig war oder, wenn schon, warum es so lange gedauert hat, wo doch die wesentlichen Tatsachen seit fast 100 Jahren jedem bekannt sein können, der sie kennen will; er könnte sich auch fragen, ob man wirklich eine mit der Verantwortung des Augenblicks offensichtlich überforderte Politikerin nach einer Schweigeminute davon schwadronieren lassen muß, man solle auch ertrunkener afrikanischer Wirtschaftsflüchtlinge gedenken – es ist einerlei:
Die Türken störten sich an klaren Aussagen wie „Völkermord verjährt nicht“ und vor allem an der Bezeichnung als „Genozid“. Während die Armenier sich begreiflicherweise begeistert zeigen, warnte der türkische Außenminister vor negativen Folgen für die bilateralen Beziehungen.
Schon Papst Franziskus hatte sich von beleidigten Türken vorwerfen lassen müssen, „Rassismus zu schüren“, weil er in relativ sachlichen Worten die – außerhalb turkophiler Kreise – allgemeine Auffassung dieser Untaten wiedergegeben hatte. Auch der türkische Botschafter beim Heiligen Stuhl war daraufhin abberufen worden. Die Ereignisse, die in der deutschen Literatur unter anderem als „historisches Vorbild für den Holocaust“, „blutigste Christenverfolgung der Neuzeit“ und „größtes Verbrechen des Ersten Weltkrieges“ bezeichnet werden, werden in der Türkei weithin nicht einmal als solche anerkannt.
Eine starke Lobby haben Armenier in Mitteleuropa nicht, anders als in Frankreich oder den USA. Der kleine und arme Kaukasusstaat (das Bruttoinlandsprodukt liegt unter dem von Bremen) weigert sich seit seiner Gründung, unterzugehen und aus der Geschichte verdrängt zu werden; die christlichen Armenier, wenngleich weitgehend in die Diaspora verstreut, geben ihr Kultur und ihr Volkstum zum großen Teil nicht auf.
Im Jahr des großen Gedenkens an den „Armenozid“ hat der armenische Staat sich mit einer „panarmenischen“ Deklaration erneut selbstbewußt gegen die im Vergleich gigantische und militärisch potente Türkei gestellt. Auch die geschichtspolitische Kontroverse wird mit einer multimedialen Kampagne geführt.
Diese Debatten und Auseinandersetzungen blieben auch auf unsere Große Mutter, die Frau Bundeskanzler, nicht ohne Wirkung:
In der klaren und verbindlichen Art, die sie beim Volke so beliebt macht, ließ sie (bzw. die von ihr geführte „große Koalition“, die offenbar als solche mindestens zwei der drei Staatsgewalten inkorporiert hat), erst verkünden, es werde keine Anerkennung des Völkermordes geben. Als dies deutsche Medien irritierte, verkündeten die aufrechten Koalitionäre, man wolle nun doch das „V“-Wort benutzen.
Bei den Terroristen von ISIS, deren Schuldkonto bei aller Gewaltsamkeit denn doch noch weitaus weniger belastet ist, war Merkel da weniger zimperlich. Aber da ging es auch um den Rüstungsexport, Sie verstehen… Gestern abend sprach der Bundespräsident endlich aus, worauf so viele Armenier warteten. Wir dürfen gespannt sein, ob nun auch Botschafter abberufen oder ernste Konsequenzen angedroht werden. Bei Millionen von Türken im Land eine durchaus sicherheitsrelevante Frage.
Zur geschichtspolitischen Auseinandersetzung um den Völkermord an den Armeniern, der fast zur Ausrottung dieses ältesten christlichen Volks der Erde geführt hätte, wird in der nächsten Druckausgabe der Sezession ein Beitrag erscheinen. Für heute sei nur noch auf die Demonstrationen hingewiesen, die heute und morgen in den beiden deutschen Hauptstädten stattfinden: in Wien heute um 18:30 Uhr (Kundgebung) bzw. 19:15 Uhr (Schweigeminute und Marsch) am Karlsplatz/Resselpark, in Berlin morgen um 15:00 Uhr vor dem Bundeskanzleramt. Der 24. April 1915 gilt als Beginn des Genozids, der sich bis in die 1920er Jahre hinzog.
Weltversteher
Ich finde dieses Moralisieren auf staatlicher Ebene trotzdem unerträglich. Das mag man alles erforschen, aufarbeiten, auch in jeder gesellschaftlichen Form würdigen.
Daß Staaten, zu deren Wesen das Austragen solcher "Konflikte" naturgemäß gehört, sich derartige Urteile über andere anmaßen, nur weil sie zufällig bei gewisser Betrachtung etwas makel-ärmer erscheinen, ist verlogen und ohnehin nur ein politisches Instrument.