»Wertkonservativ« hat die CDU seitdem die Aufgabe all ihrer Prinzipien legitimiert, und »wertkonservativ« wird sich schließlich auch noch das volle Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partnerschaften als ein konservatives Projekt entpuppen.
»Konservativ« war einst Ersatzwort für das geächtete »rechts«. Nun ersetzt »wertkonservativ« konservativ. Der AfD-Europaabgeordnete Bernd Kölmel hat bei seiner Bewerbungsrede für die Liste zur Europawahl im März 2014 in Aschaffenburg mit dem Satz reüssiert, er sei nicht erzkonservativ, sondern wertkonservativ. Nach eben jener Logik wird zwar früher oder später »wertkonservativ« das gleiche Schicksal ereilen, aber eben das kümmert den echten Wertkonservativen wenig. Indem er sich so nennt, hat er doch schon seinen Willen zum Zurückzuweichen vor einem Zeitgeist bekundet, der auf seinem Weg durch die Sprache verbrannte Begriffe hinterläßt.
Sobald das konservative Prinzip um das Prinzip des Wertes ermäßigt wird, scheint es nichts oder zumindest nur noch sehr viel weniger wert zu sein. Wer »wertkonservativ« sagt, der sagt damit: Es gibt das ent-wertete, wert-lose, reine Konservativsein und daneben das wert-volle, diesen Begriff deshalb auch vor sich hertragende Wertkonservativsein. Der Fall ist klar, und mehr müßte gar nicht gesagt werden. Aber die Sache reicht tiefer, weshalb es sich doch lohnt, ein paar Worte zu verlieren.
Carl Schmitt entwickelt in seinem Aufsatz Die Tyrannei der Werte (1960) eine Kritik des Wertdenkens überhaupt, die an den Werten bemängelt, daß sie gerade die Orientierung, die sie vorgaukeln, nicht geben können. »Ob etwas Wert hat und wie viel, ob etwas wert ist und wie hoch, läßt sich nur von einem – gesetzten – Standpunkt oder Gesichtspunkt aus bestimmen.«
Der Wert, das wußte schon Saussure so gut wie Marx, bestimmt sich allein durch seine Relation zu anderen Werten. Wert an sich ist nichts. Wert ist etwas nur durch seine Stelle in einem System von Beziehungen. Der Wert hat keine Substanz, und er ändert sich ständig. Jede Veränderung in seinem System verschiebt das gesamte Gefüge der Relationen. Verändert sich ein Wert, verändern sich alle Werte mit. Der Wert hat kein Sein, sondern eine höchst volatile Geltung. Er ist nicht, sondern er ist in Kraft – oder auch nicht.
Der Wert beruht auf Wertungen, die ihrerseits auf Interessen verweisen, die sich in stetig wandelnden Kontexten immer wieder neu und also immer wieder anders geltend zu machen suchen. Werte sind Auslegungssache, und als solche sind sie unvermeidbar und immer schon am Werk, egal wie wir uns dazu verhalten. Ein Erfolgsrezept der abendländischen Kultur wiederum scheint darin zu liegen, daß sie dieses ständige Schwanken der Werte erkennt und anerkennt. Das ständige Relativieren, zu deutsch: In-Beziehung-Setzen, ist ihr Charakteristikum.
Anders als im Islam, wo zumindest im orthodoxen Denken die Auslegung die Aufgabe hat, den äußeren Buchstabensinn – oder was man dafür hält – gegen den Angriff der Kontexte durch den Wandel der Zeiten hindurch festzuhalten, beruht die abendländische Auslegungskultur auf der Annahme, daß kanonische Texte von der Bibel bis zum Grundgesetz ständiger Neuauslegung bedürfen, um in Geltung, das heißt wert- und sinnhaltig, zu bleiben. Der äußere Wortsinn gilt jeweils nur für seine Zeit. Veränderte Umstände entwerten ihn, ist er doch nichts als Relation. Sobald der Text auf eine neue Zeit angewendet werden soll, bedarf er deshalb der Neuauslegung, die den Wortsinn übersteigt und sich dadurch rechtfertigt, daß allein so dem Text zu neuer Wertgeltung verholfen werden kann.
Wir begegnen dieser Einstellung im Neuen Testament, in den Umdeutungen der Bergpredigt. Jenes »Ihr habt gehört, daß gesagt ist ›Du sollst nicht ehebrechen‹. Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen« ist nicht nur eine gesinnungsethische Forderung, es ist auch die wertbezogene Relativierung einer überlieferten und in ihrem äußeren Sinn als überlebt erkannten Vorschrift, die neu in Wert gesetzt werden muß. So deuten wir unsere Gesetze, unsere heiligen Texte und unsere Traditionen: im Absehen auf etwas, was hinter dem Wort zu stehen scheint – ein von dem Zeitumständen abstrahierter Sinnwille, ein sich durchhaltendes Prinzip der Auslegung, das alles Sagbare zwangsläufig übersteigt.
Wir finden diese Vorstellung in Augustins Lehre vom verbum interius, vom »innerem Wort«, das prinzipiell immer mehr umfaßt als das jeweils geäußerte Wort. Und wir begegnen ihr in der platonischen Ideenlehre. Dasjenige, was ständiger Umwertung bedarf, um sich zu erhalten, ist wie die Idee hinter den Dingen.
Doch ist das keine Konstruktion? Finden wir hinter den verschiedenen Umwertungen und Auslegungen tatsächlich einen festen Halt oder ist es nicht die Illusion einer Kontinuität? Was ist das, worauf bei der Umdeutung Bezug genommen wird? Ist da überhaupt etwas, worauf sich Bezug nehmen läßt? Ist es nicht die reine Beliebigkeit, die sich nur einbildet, über einen Halt zu verfügen, weil sie sich immer am selben Begriff oder Text festmacht?
Die Antwort scheint mir im Widerstand zu liegen, den jede Umdeutung überwinden muß. Um noch als Aktualisierung des Prinzips hinter den Wertungen und eben nicht als beliebige Deutelei zu gelten, muß sie sich in Bezug setzen zu den vergangenen Auslegungen. Sie kann nicht beliebig verfahren und verschiebt, ist sie erfolgreich, am Ende den Deutungsrahmen nur – sie setzt ihn nicht neu. So erweist sie der Tradition Respekt.
Daß wir eben so konstruieren und nicht anders, daß wir nicht am Äußeren festhalten, sondern auf einen Sinn und Zweck hinter Texten und Traditionen absehen und sie von dort her verändern, begründet die Dynamik und Anpassungsfähigkeit unserer Kultur. Deuten heißt immer schon Umdeuten.
Jene erzkonservative Haltung, die an dem Buchstaben haftet und ihn um nichts in der Welt preisgibt, die Traditionen als genau festgelegte Rituale versteht und sie bis ins kleinste Detail zu reproduzieren sucht, jene Haltung ist unserer Kultur so fremd, daß überhaupt keine Gefahr besteht, wir könnten jemals in eine derartige Starre geraten. Nicht ständig umzudeuten erschiene uns als Verstoß gegen das Leben selbst.
Eher droht uns Gefahr aus der anderen Richtung. Wer ein Prinzip gerade nicht neu in Geltung setzen, sondern ein für allemal erledigen will, auch der wird vorgeben, ihm durch aktualisierende Umdeutung nur wahrhaft gerecht werden zu wollen, es an die veränderten Zeitumstände anpassen und so seine Geltung sichern zu wollen. Die Politik ist reich an Beispielen dafür, und wie ich meine, gehören die meisten Fälle des Gebrauchs von »wertkonservativ« hier her.
Es ist eine Gratwanderung, die wir immerwieder meistern müssen: die falsche Berufung auf die Notwendigkeit des Umdeutens von der richtigen, der aufrichtigen unterscheiden. Das Wertkonservativsein hilft hier nicht weiter. Auch und gerade der Konservative akzeptiert den Wandel der Tradition, so lange sie sich wandelt und nicht gewaltsam gebrochen wird, sei es durch eine technokratisch-manipulative Politik, sei es durch revolutionäre Eruption. Der Konservative lehnt nicht den Wandel ab, sondern die Manipulation, nicht das lebendige Wachsen und Werden, sondern den technokratischen Eingriff, die Steuerung, das Gesellschaftsexperiment.
Es ist daher keine Präzisierung, wenn wir das konservative Prinzip mit dem Begriff des Wertes verbinden, sondern es ist redundant und entwertet das, was Konservativsein ausmacht, in einer doppelten Relativierung. Sie löst das Bemühen, der Tradition immer wieder neu Geltung zu verschaffen, auf in die reine Beliebigkeit eines »Alles ist möglich«.
Weshalb diese Ermäßigung und Relativierung von etwas, das Maßhalten und Umsichtigkeit schon in sich schließt? Geschieht dies etwa, um ein Gebundensein an die Tradition vorzutäuschen, hinter dem in Wahrheit der Vorsatz steht, sich an gar nichts mehr gebunden zu fühlen? Verbirgt sich hinter der Relativierung des Wertkonservativen nicht der Vorsatz, um keinen echten Bezug zur Tradition mehr zu ringen, sondern nur so zu tun, als bemühte man sich darum?
Monika
Ein sehr schöner Beitrag....Danke
Im Nachlass meiner kürzlich verstorbenen Mutter fand ich ihr Poesiealbum.
Deren Mutter, also meine Oma schrieb dort am 5. Dezember 1940:
Im Matthäusevangelium lese ich dieser Tage ob aufwühlender Familienzwistigkeiten sehr häufig.
Dort auch ( Mt 12,46-50)
Diese Freiheit von archaischen und starren Familienbeziehungen ( durch Umdeutung) ist nur im christlichen Kulturkreis möglich.
Weswegen mir vor einer Islamisierung des Abendlandes nicht bange ist.
( allerdings: illegale Masseneinwanderung ist ein anderes Thema)
Der Autor der Hirnhunde bezeichnete das Mattäusevangelium übrigens als das wichtigste Buch für diese Zeit. Im besten Sinne wertkonservativ.