Das war nicht nur ein spontaner Akt. Der Zorn hatte sich lange angestaut. Wieso das? Und, überhaupt, gerade sie! Selbst eine Zugewanderte! Shumona Sinha, geboren 1973 in Kalkutta, läßt in ihrem kurzen Roman Erschlagt die Armen! eine Namenlose ihre Geschichte erzählen: Wie es so weit kommen konnte.
Romanautorin Sinha arbeitete genau wie ihre Protagonistin als Dolmetscherin in einer französischen Asylbehörde. Nachdem – nach mehreren Gedichtbänden – 2011 ihr asylkritisches Buch (Original: Assommons les pauvres!) in Frankreich erschienen war, verlor sie ihre Arbeit.
Ihr Büchlein hingegen wurde mehrfach ausgezeichnet. Die Frau im Buch ist aus Liebe zur französischen Sprache nach Frankreich gekommen. Und aus Verachtung für ihre bäuerische, einfältige Familie in jenem „Land aus Lehm“.
Unsere Dolmetscherin geht hart ins Gericht mit dem Asylsystem, dessen fauler Atem sie aus allen Ecken und Enden anhaucht.
Sie lügen alle: Die elenden Flüchtlinge, die Schlepper- und Fälscher-Industrie, die Willkommensbürger und ebenso (die am gemeinsten!) die Anwälte, die für das Bleiberecht der Betrüger prozessieren. Gelegentlich (letztlich: selten) empfindet die Dolmetscherin jähes Mitleid für denjenigen, dessen Leidensgeschichte sie übersetzen soll.
Meistens bleibt ihr nur Verachtung für die Dreistigkeit, mit der die elenden Glücksritter sich ihr vorgeblich politisch verfolgtes Schicksal zusammenlügen:
Wir hatten eine gemeinsame Sprache, aber es war, als schrie ich aus dem neunten Stock zu einem Passanten auf den Gehsteig hinunter, zu einem zusammengekauerten, in seinen Lumpen verborgenen Bettler.
Sie hört vielhundertmal, wie ein angeblich verfolgter Christ keinen Schimmer vom Weihnachtsfest hat; wie akademische und politische Zusammenhänge dreist und ohne Kohärenz erfunden werden; wie harmlose Narben aus Kindertagen zu Beweisen von Folter werden sollen; wie Chili und Zwiebeln zerrieben werden, um Tränenfluß zu begünstigen; wie Säuglinge bös gezwickt werden, um den Eindruck von Elend zu verstärken.
Ferner kennt sie die Tricks der Migrantencommunities, wonach es am günstigsten sei, möglichst schnell Vater eines weißen Kindes zu werden: Von den zurückgelassenen Ehefrauen in der Heimat kann man sich problemlos Sterbeurkunden beschaffen.
Im Exilland (hier: Frankreich) sei nämlich ein ganzer Markt gewachsen, „eine Fabrik für Geschichten und gefälschte Papiere – Geburtsurkunden und Diplome, Mitgliedsausweise der Partei A oder der Partei B.“ Die schwarze Asylindustrie versorge ihre Klientel mit Lügenaccessoires, die (fast immer aus wirtschaftlichen Gründen) Geflüchteten arbeiten im Gegenzug für ihre „Retter“. Sinha (besser: ihre Ich-Erzählerin) nennt das: “Die Mikroökönomie der europäischen Großstadt. Der Parasit am Körper des Wirts.“
Sie verachtet auch das Drumherum der Gutmenschen, der “Künstler und Aktivisten“, die anders als jeder Mensch von Verstand die städtischen, multikulturellen Randzonen als „voller Leben, so pulsierend“ empfinden. In gewissen Vereinen flattern alte und junge Frauen mit schlechtem Gewissen um die Flüchtlinge „wie Vogelmütter um ihre Jungen.“ Sie gerieren sich wie Avatare von Mutter Teresa,
„nur, dass sie die berühmte Gosse nicht kannten. Weit weg vom Chaos und vom Lärm phantasierten sie ein Land herbei und öffneten ihre Arme weit, um es zu retten.”
Die Arbeit der Dolmetscherin hingegen wird von den Leuten, deren Sprache sie übersetzt, angefeindet und kritisiert – weil eine echte Frau nicht arbeitet.
„Keine Frau, die sie von Nahem und Weitem kannten, keine Nachbarin im Dorf, war so tief gesunken, dass sie sich der Welt aussetzte und ihren Lebensunterhalt mühevoll allein verdiente, als gäbe es auf der Welt keine Männer mehr! Und dann erdreistete sich diese Frau, sie, die Männer, auszufragen. (…) Es war absurd, dass eine Frau Fragen stellte und sie, die Männer antworteten. In diesem Augenblick hätte ich einen Schädel einschlagen wollen.“
Eine andere Dreistigkeit zeigen jene Asylforderer aus ehrgeizigeren Ländern. Sie jammern weniger, sie bauen sich drohend auf. Keinesfalls wollen sie „Speichellecker“ des Westens/Nordens sein!
Unsere bengalische Dolmetscherin sympathisiert immer stärker mit den Beamtinnen, die „die Gesetze, die Aufrichtigkeit, die Autorität verkörperten. Mein schweres Herz zog es zu diesen vom unaufhörlichen Strom der Männer erschöpften Frauen.“
Die asylfordernden Männer (Frauen stellen eine Minderheit dar) hingegen stellen für sie immer mehr eine „Beleidigung“ dar, deren Leid nicht „ihre Lügen, ihre Aggression, ihre Mittelmäßigkeit“ rechtfertige.
Keineswegs mittelmäßig hingegen agieren die Asylanwälte – meistens sind es Anwältinnen. Über deren „Fähigkeit zu lügen und ihre Skrupellosigkeit“ kann die Dolmetscherin nur staunen. Unverblümt wird sie aufgefordert, nicht stur zu übersetzen, sondern Widersprüchlichkeiten des Mandanten herauszuhalten und direkt auf das anwaltliche Plädoyer hinzuwirken. Eine Juristin brüllt auf dem Flur:
„Sie werden schon sehen! Alle Anwälte sind gegen Sie. Ich werde Ihnen zeigen, was das heißt…“
Shinhas Buch ist brisant. So unverblümt könnte kaum ein Autochthoner die Mißstände der Asylindustrie schildern. Oder, nein, doch: Er könnte es schon. Aber sein Buch würde nicht mit Preisen ausgezeichnet. Und kein dezidiert linker Verlag (Nautilus) würde es verlegen.
Darüber hinaus, man sollte es erwähnen, ist das Buch kein Lesevergnügen, keine Lektüre für Freunde des packenden Romans. Daß die Autorin blumig schreibt, wäre freundlich formuliert. Daß Träume, Gefühle, Sehnsüchte, Rückblicke den Gang der Handlung maßgeblich prägen und erschweren (im Wortsinne), ist nur das eine. Darüber hinaus hat es hier schiefe Bilder und mißglückte Metaphern im Übermaß: Die Asylsuchenden haben hier „Träume traurig wie Lumpen“; ein Klient steht vor Beamtin und Dolmetscherin „wie ein blankes Schwert“, „Regen lief über die Scheiben, wie Katzenhaare“, und nach erfolgreichem Sex ist es hier so, „dass wir mit offenen Mündern, stumm, schluchzend zurückblieben.“ Eine wirklich schöne Vorstellung ist das nicht. Aber darum geht’s ja gar nicht. Im Gegenteil, Sinha schreibt gerade gegen die schöne Vorstellung.
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Hamburg: Edition Nautilus 2015, 128 S., 18 € – hier bestellen!
S. D.
Der Typus des "Fluchthelfers" wird im "Heerlager der Heiligen" treffend beschrieben: