Kevork Almassian
Der 1987 geborene Kevork Almassian stammt selbst aus der umkämpften Metropole Aleppo. Seine Eltern besaßen dort ein Ladengeschäft, das den Bomben der »Rebellen« zum Opfer fiel. Er stammt aus einer christlich-armenischen Familie, die seit Generationen in Syrien lebt. Nach einem Studium der Internationalen Beziehungen an der University of Kalamoon (Syrien) wechselte er zu einem Vertiefungsstudiengang in den Libanon. Nach seinem Abschluß in »Middle Eastern Politics« ging er nach Deutschland, wo er als Analyst und Projektkoordinator arbeitet, zudem ist er Nahost-Experte für das von Manuel Ochsenreiter geleitete »German Center for Eurasian Studies«. Sein Vortragsthema »Die geopolitischen Gründe hinter dem neo-osmanischen Projekt der Türkei in Syrien« ergab sich gewissermaßen durch den Zwang der Verhältnisse.
In Nord-Aleppo, also der ländlich geprägten Gegend im Norden der Großstadt, rücken derzeit türkische Soldaten mit syrischen Islamisten gegen kurdische Separatisten und den Islamischen Staat vor, während in Süd-Aleppo und in der Stadt Aleppo selbst die syrische Armee gegen – ehedem ebenfalls von der Türkei gesponserte – Dschihadisten kämpft. Die komplizierte Situation besonders in Nord-Aleppo konnte von Almassian anschaulich erklärt werden. Den Türken geht es dabei vor allem um die Verhinderung einer zusammenhängenden Kurdenregion, weniger um einen totalen Sieg über den IS, mit dem man bis vor kurzem Ölgeschäfte abwickelte. Es kam so zur bizarren Situation, daß syrisches Öl, das aufgrund der Sanktionen gegen Damaskus nicht direkt importiert werden darf, vom IS in die Türkei gelangte und von dort an westliche Staaten weiterverkauft wurde. Sanktionen gegen Syrien also, die dem Terrorismus direkt zugute kommen.
Almassian ging präzise auf die einzelnen Interessen der Türkei ein. Er unterschied die strategischen Vorgehensweisen der Soft und Hard penetration, stellte türkische Bündnispartner vor und analysierte die Bedeutung der Handelsmetropole für imperiale Ambitionen Ankaras. Als ironische Begleitmusik zum Vortrag meldete die arabische Nachrichtenseite Al-Masdar, daß Erdogan just an ebendiesem 23. Oktober verkündete, Aleppo (und Mossul) stehe dem türkischen Volk zu. Die Millionenstadt Aleppo sei indes einstweilen nicht in türkischer Reichweite. Denn Rußland als Schutzmacht Syriens werde nicht zulassen, daß die Türkei ihre »Euphrat-Schutzschild«-Kampagne, die sich gegen Kurdenmilizen und den IS richtet, auf syrische Regierungsgebiete ausweite. Dennoch bleibe die Situation mehr als angespannt, da innerhalb weniger Kilometer die Herrschaftsgebiete des IS, Türkei-finanzierter Dschihadisten, syrischer Armee und kurdischer Separatisten aneinander grenzen. Die Fronten bleiben volatil, Änderungen sind täglich zu erwarten.
Maram Susli
Nach Almassian sprach mit Maram Susli (Damaskus/Sydney) eine junge Frau, die in einigen westlichen Medien als ultimatives Feindbild fungiert, wenn es um den syrischen Krieg geht. Sie wird wahlweise als »Assad-Fangirl« oder gar als »Antisemitin« diffamiert. Der Grund für diesen Haß auf die Journalistin, deren Spitzname »Partisangirl« lautet, liegt darin begründet, daß die Expertin mehrerer arabischer Fernsehsender kein Blatt vor den Mund nimmt und nicht selten polemisch und harsch auf westliche oder israelische Expansionspolitik reagiert. Zur »Migrationskrise aus syrischer Sicht« war sie geladen, und es war denn auch eine syrische Sicht, keine »assadistische«. Denn ganz unpassend zum Label als »Assad-Propagandistin« hatte Suslis (sunnitische) Familie nach der Machtübernahme der Baath-Regierung das Land verlassen: Die Familie galt aufgrund ihres Landbesitzes als »bourgeois« und unzuverlässig. Das hindert Maram Susli freilich nicht, einen dezidierten Standpunkt bezüglich der Legitimität der »Rebellion« einzunehmen.
Ihr Einstieg regte zum Nachdenken an: »Aus syrischer Perspektive begann die Flüchtlingskrise, als Europäer illegal nach Syrien einreisten« und Terrorstrukturen unterstützten. Angesichts Tausender europäischer Islamisten unterschiedlicher Couleur, die seit 2011 nach Syrien sickerten und allmählich wieder zurück nach Europa strömen, ist es in der Tat hervorhebenswert, daß der Terror zuerst aus Europas Problemstadtteilen nach Syrien wanderte, bevor er nun den Westen heimsucht. Das werde, so Susli, nicht zuletzt von europäischen Rechtspopulisten vergessen. Sie zitierte eine UKIP-Verlautbarung, wonach »die« Syrer nach einem »guten Leben in Europa« streben würden. Nein, meinte Susli, die meisten Syrer hatten bereits ein gutes Leben, bevor westliche und Golf-Staaten das Land mit Krieg überzogen. Sie wies in diesem Zuge ebenfalls darauf hin, daß nach unterschiedlichen Schätzungen rund 80 Prozent der Flüchtlinge in Europa gar nicht aus Syrien stammen, sondern u. a. aus dem Sudan, Afghanistan, Pakistan oder Libyen.
Susli griff die These bellizistischer Westmedien auf, die propagierten, man müsse »Assad wegbomben«, um die Flüchtlingskrise zu lösen. Ihre Frage in Richtung von BILD und Co.: Wenn das Gros der syrischen Flüchtlinge in die von Assad gehaltenen Gebiete flüchtete (sieben Millionen), um sich in Sicherheit vor unterschiedlichen Terrormilizen islamistischer und dschihadistischer Färbung zu bringen: Wie löse man die Flüchtlingskrise, indem man nun diese Schutzbastion (die sich von Damaskus über Tartous bis Latakia streckt) bombardiere? Wie helfe man den sieben Millionen Flüchtlingen, wenn man sie erneut mit Krieg heimsuche?
Die Referentin, die in wenigen Tagen auch in Linz sprechen wird, hob zudem die Rolle Syriens vor 2011 hervor. Millionen Palästinenser und Irakis wurden aufgenommen und gänzlich integriert in den Arbeitsmarkt, in das Bildungs- und auch Gesundheitssystem, erhielten allerdings keine syrische Staatsbürgerschaft. Da Identität zum Wesenskern eines jeden Menschen zähle und die nationalkulturelle Identität ein wesentlicher Baustein der Persönlichkeit sei, war und ist es der Standpunkt des syrischen Staates, daß die Menschen, die nach Syrien flüchteten, zwar gleichberechtigt leben können, aber weiterhin sehen sollten, daß Palästina oder der Irak ihr Heimatland bleiben, in das sie eines Tages zurückkehren würden. Sie empfahl dieses identitäre Verständnis von Flucht und Aufnahmebereitschaft auch Europa.
Tim Anderson
Der dritte Referent dieses thematischen Blocks war der in Sydney lehrende Politikwissenschaftler Tim Anderson. Sein Vortrag orientierte sich am jüngst ins Deutsche übertragenen Werk Der Schmutzige Krieg gegen Syrien. Andersons Ziel ist die Offenlegung der »Desinformationskampagne der USA und der Golfmonarchien im Krieg gegen Syrien«. Entsprechend dieser Prämisse nahm er sich einzelner »Höhepunkte« des Syrienkrieges an. 2011, so Anderson, habe – den westlichen Mythen nach – ein friedlicher Aufstand gegen eine Despotie im südsyrischen Daraa begonnen, der brutal niedergeschlagen wurde, woraufhin syrische Soldaten, die das Leid der geschundenen Bevölkerung nicht mehr ertrugen, die Seiten wechselten und die »Freie Syrische Armee« gründeten. So sei der Bürgerkrieg ins Rollen gekommen, weil das Regime zu keinen Zugeständnissen bereit gewesen sei. Anderson betonte: Nichts davon sei wahr. Der Aufstand in Daraa sei von Anbeginn von sunnitischen Extremisten geführt worden, Vermittlungsangebote wurden ausgeschlagen, Sicherheitskräfte von Insurgenten getötet. Doch die Golfmedien und ihre Kollegen im Westen waren ganz im »Arabischen Frühling« gefangen und vermittelten den Nachrichtenkonsumenten, hier sei ein weiterer Sturz eines Tyrannen durch das Volk im Gange.
Der Bürgerkrieg nahm seinen Lauf, der Westen und die Golfstaaten heizten islamistische Gruppen an, die Rede von einer »humanitären Intervention« wurde lanciert. Dafür mußten unterschiedliche Mythen herhalten, darunter Giftgaseinsätze, Faßbombenmassaker oder die Behauptung, Assad führe einen Krieg gegen sein eigenes Volk. Anderson betonte, daß Assad – nach Umfragen aus West und Ost, nach Mitteilungen von Geheimdiensten und Spitzeln – bei der Mehrzahl der Syrer beliebt sei. Nur haben diese Menschen keine Lobby in Berlin und Washington, während die Mär vom »Schlächter Bashar« wider besseres Wissen über alle Kanäle läuft, um die Anti-Assad-Grundstimmung der westlichen Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, damit weitere Schritte gegen Syrien (Sanktionenverlängerung, Rußland-Schelte usw.) geboten erscheinen. Anderson griff sich einige besonders prominente Greuelmärchen über syrische Verbrechen heraus und wies (wie im Buch Schritt für Schritt und quellengesättigt nachvollziehbar!) nach, daß das Schema (leicht vereinfacht dargestellt) so ablaufe: US-Kräfte und Islamisten behaupten eine schreckliche Tat des Regimes, der Medienblock verbreitet es global, nach ein paar Wochen kommt die Wahrheit heraus, aber nun blockieren die Medien die Richtigstellung, weshalb bei den Bevölkerungen das Ursprungsbild gefestigt bleibe. Anderson wies demgegenüber – durchaus in Übereinstimmung mit der Referentin vom Vortag, Schwester Hatune – auf die »Genocide mentality« der sunnitisch-dschihadistischen Regierungsgegner hin, und zwar von »moderater« FSA bis hin zum IS.
Andersons Fazit lautet wie folgt: Desinformation gegen Syrien ist nötig, um die »eigene« (westliche) Legitimität in diesem internationalen Stellvertreterkonflikt zu wahren. Würde man jetzt die Genozidmentalität der Opposition einräumen, würde man den Mythos der friedlichen Erhebung gegen einen Tyrannen fallen lassen müssen. Fällt aber dieser Mythos, fällt der US-Plan eines Neuen Mittleren Ostens! Und für dieses hegemoniale Projekt ist man offenbar bereit, Hunderttausende Tote, Millionen Flüchtlinge und endlose humanitäre Katastrophen in Kauf zu nehmen.
Diskussion Almassian, Susli, Anderson
Der Einstieg in die lebhafte Diskussion gelang dem Moderator, Oberstleutnant a. D. Jochen Scholz, mit seiner Bemerkung, man dürfe nicht vergessen, daß die Syrer schon eine Hochkultur hatten, als die Germanen noch vorzivilisatorisch lebten. Das werde im Westen zu oft vergessen.
Diskutiert wurde hernach im einzelnen:
– die peinliche Rolle vermeintlich linker, kriegskritischer Medien im Einklang mit der bürgerlichen Mainstreampresse
– die personellen Überschneidungen zwischen NGOs wie Human Rights Watch und westlich-hegemonialen politischen Strukturen, etwa dem State Department
– die Rolle des Aleppo-Ringens in diesem Krieg (Almassian: Assad will, anders als die Islamisten, keine »Apokalypse«, daher könne er nicht all in gehen, da er noch Männer braucht, die das Syrien von morgen bauen werden)
– die Funktion der Al-Qaida-nahen »NGO« der Weißhelme, die bekanntermaßen von den USA und Großbritannien finanziert wurden
– die Position Israels: Susli verwies in ihrer Antwort auf einen Fragesteller, daß Israel mit seiner islamistenfreundlichen Politik in Syrien Verschiedenes erreichen möchte: dauerhafte Sicherung der syrischen (aber israelisch besetzten) Golanhöhen, Balkanisierung Syriens, Unterstützung kurdischer Separatisten, dauerhafte Schwächung der Achse Beirut-Damaskus-Teheran
– die Bedeutung der Sanktionen gegen das syrische Volk (Anderson: einzige positive Ausnahme im Westen ist Tschechien)
– die Rolle der Moslembruderschaft in der Türkei, in Syrien, in Ägypten
– die Heuchelei des Westens, wonach US-Angriffe auf Zivilisten ständig als bedauerliche, fehlerhafte »Einzelfälle« relativiert werden, während syrisch-russische Bombardements pauschal als Verbrechen dargestellt werden, selbst wenn sie sich nachweislich gegen Terroristenstrukturen richten.
Nachmittags referierten u. a. noch Dr. Salem El-Hamid und William Engdahl. El-Hamid, der kein gutes Haar an der destruktiven Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ließ, veröffentlicht in diesen Tagen seine deutsch-syrische Lebensgeschichte, während Engdahl zuvor die Heartland-Theorie sowie die Geschichte der US-Hegemonie und ihr zuarbeitender Denkfabriken wiedergab. Er hob zudem die Rolle der Öl-Konzerne hervor, die eng verschränkt mit der US-Politik agieren würden. Aufschlußreich waren auch seine Ausführungen zum Projekt Neue Seidenstraße und der Shanghai Cooperation Organisation (SCO). Man darf gespannt sein, was Rußland, China und weitere Staaten auf dem Weg zu einer neuen multipolaren Weltordnung leisten werden. Die USA sieht Engdahl jedenfalls am Anfang vom Ende: »Amerika ist ein Hegemon im Untergang.«
Die Gesellschaft für Internationale Friedenspolitik bereitet eine DVD der Veranstaltung vor. Die GIF-Vorsitzende Friederike Beck, die aus gesundheitlichen Gründen der Veranstaltung fernbleiben mußte, hat außerdem ein neues Buch veröffentlicht, das bei Interesse am Thema »Massenzuwanderung« über Antaios zu beziehen ist. 2017 soll ein weiterer Kongreß stattfinden, der sich am Niveau der diesjährigen Tagung zu orientieren hat.
Der_Jürgen
Ganz herzlichen Dank, Benedikt Kaiser, für diesen hervorragenden Bericht.
Bezüglich der in Ihrem Artikel erwähnten trüben Rolle, die Israel bei der syrischen Tragödie spielt, sei auf folgendes hingewiesen: 1982 veröffentlichte der israelische Journalist Oded Yinon in der Zeitschrift "Kivunim" (Richtlinien) einen Aufsatz mit dem Titel "Einne Strategie für Israel in den achtziger Jahren", der vom Antizionisten Prof. Israel Shahak unter dem Titel "The Zionist Plan for the Middle East" ins Englische übersetzt wurde und leicht im Netz zu finden ist. Als Hauptfeind Israels ortete Yinon den Irak, dessen Auflösung für Israel "noch wichtiger als die Syriens" sei.
In vollem Übereinklang mit diesem Plan hetzten die Neokonservativen (Norman Podhoretz,Douglas Feith, Charles Krauthammer, Paul Wolfowitz, Richard Perle, Elliott Abrams, Bernard Lewis etc.) jahrelang zum Krieg gegen den Irak, der durch das gnadenlose Lebensmittelembargo (Madame Albright, 1937 als Tochter jüdischer Eltern in Prag geboren, zur Journalistin Leslie Stahl als Antwort auf deren Frage, ob der Tod von bis zu 500.000 irakischen Kindern durch Hunger kein zu hoher Preis sei: "Nun, es ist eine harte Wahl, aber ich denke, es ist es wert") schon schwer gebeutelt war. Unter dem lügenhaften Vorwand der "irakischen Massenvernichtungswaffen" führte Bush junior die Invasion des Irak durch, nachdem die unter falscher Flagge inszenierten Anschläge vom 11. September 2001 in der US-Öffentlichkeit ein interventionistisches Klima geschaffen hatten.
Am 9. April, dem Tag, an dem Bagdad fiel, schrieb der israelische Pazifist Uri Avnery: "Amerika kontrolliert die Welt, und wir kontrollieren Amerika. Nie zuvor haben Juden einen dermassen unermesslichen Einfluss im Zentrum der Weltpolitik ausgeübt."
(www. counterpunch.org/2003/04/09/the-night-after)
"Propagandistischer Antizionismus", nicht wahr, lieber Pirmin Meier?
Das Ergebnis: 2,2 Billionen Dollar Kosten für die USA allein bis März 2013; bisher über 5.000 gefallene und ca. 100. 000 verwundete Amerikaner. Die Zahl der irakischen Toten wird auf bis zu 1,4 Millionen geschätzt. Als Ergebnis der Anarchie entstand mit ISIS eine Terrororganisation, wie sie die Welt seit den Roten Khmer nicht mehr sah.
In Syrien wurde dasselbe versucht, mit bisher ca. 300.000 Toten oder mehr und vielen Millionen Entwurzelten. Und dies in einem Land, wo die Christen unter der Baath-Regierung volle Glaubensfreiheit hatten, wie früher unter Saddam im Irak. Aber der russische Bär lässt Assads Sturz Gott sei Dank nicht zu.
Zum Schluss eine durchaus nicht rhetorische, sondern sehr
ernst gemeine Frage an Pirmin Meier, der die Schweizer Politik zehnmal besser kennt als ich:
Mit welchen Mitteln die BRD-Lügenpresse kontrolliert wird, wissen wir (Atlantikbrücke, Aspen Institute etc. sowie direkte Bestechung, man lese Stefan Scheil, Eva Herman, Udo Ulfkotte). Wie wird denn in der Schweiz erreicht, dass (fast) alle Journalisten dieselben Lügen verzapfen, sei es über Syrien, die Ukraine oder die "Flüchtlinge"? (Rühmliche Ausnahme "Die Weltwoche"). Wie wird die Gleichschaltung bei uns durchgesetzt? Ich frage ja nur; vielleicht wissen Sie als ehemaliger Berater von Politikern es.
(Den von Ihnen im letzten Strang erwähnten Dr. Schlüer kenne ich übrigens; er ist ein wackerer Mann, hält sich aber auch an die roten Linien des Systems, ebenso wie der schneidige Roger Köppel. Man muss halt Realist sein.)