…nach denen die deutschen Schüler viel zu geringe Kenntnisse über die NS-Zeit besäßen. Wieviel Kenntnisse Jugendliche von Karl dem Großen oder Bismarck hatten, wurde dabei nie gefragt oder in Relation gesetzt.
Schon damals wirkten die Kassandra-Rufe penetrant und angestaubt. Sie kamen primär aus der Alt-68er-Ecke und somit sei einmal entlastend in Erwägung gezogen, daß das Bewußtsein jener Wissenschaftler und Meinungsforscher schlicht in ihrem Heimatkundeunterricht der 50er Jahre steckengeblieben sein mochte. Mittlerweile sind die Warnrufe aus dieser Ecke weitgehend verstummt, allzu peinlich und weltfremd wäre es heute wohl, mangelnde NS-Aufarbeitung ausgerechnet dem Schulunterricht noch anlasten zu wollen.
Ganz im Gegenteil, die Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust scheint ein zentraler Gegenstand der schulischen Gegenwart. Das war natürlich schon in den 80er Jahren so. In meinem Gymnasium erfuhr ich damals intensiv von jenem Themenkomplex in den Fächern Geschichte, in Gesellschaftskunde, in Deutsch und in Religion. Andere Bereiche der deutschen Historie kamen faktisch schon nicht mehr vor, glichen weißen Flächen. Die Römerzeit wurde nur bis zur Hälfte aufgearbeitet, das Mittelalter hat nie wirklich stattgefunden.
Die Menschen sind seitdem nicht besser oder die Welt friedlicher geworden. Dennoch aber scheint heute jene damals bereits erreichte ideologische Situation ins Extreme verschärft. Der Nationalsozialismus scheint der beherrschende Fetisch des Schulunterrichts geworden zu sein. Zumindest mancherorts. Ein solcher Ort ist das Maximilian-Kolbe-Gymnasium (mkg) in Köln, über dessen Webpräsenz ich unlängst zufällig stolperte. Man muß nur das Archiv der beiden zurückliegenden Jahre durchscrollen und stößt auf eine Fülle von geschichtspädagogischen Angeboten, die sich aber fast alle um ein Thema drehen:
+ Die 9b unternahm eine Projektexkursion in das Gremberger Wäldchen und die Wahner Heide. Dazu gehörten Besichtigungen des jüdischen Friedhofs in Zündorf, des ehemaligen SA-Lagers am Hochkreuz, der Baracken des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Hoffnungsthal, des russischer Kriegsgefangenenfriedhofs am Kalmusweiher in Rösrath und des Gedenksteins für die wegen Meuterei im I. Weltkrieg in der Wahner Heide erschossenen Marineangehörigen Max Reichpietsch und Albin Köbius.
+ Es kam in einem anderen Projekt zu intensiven Zeitzeugen-Videokonferenzen mit einem Holocaust-Überlebenden, aufgezeichnet vom technischen Administrator des israelischen Dokumentationszentrums Yad Vashem.
+ Es gab eine Prag-Reise mit Exkursion nach Lidice und Theresienstadt.
+ Die 10b absolvierte eine Exkursion zum “Zug der Erinnerung”, mit Endziel Konzentrationslager Buchenwald. Die Schul-Webseite verrät die Belohnung nach Abschluß des Pflicht-Programms: „Nach der Rückkehr aus Opladen gab es für ganz Eifrige noch ein optionales Ergänzungsprogramm, nämlich einen Besuch in der ehemaligen Kölner Gestapo-Zentrale, im EL-DE-Haus.“
+ Ebenso beteiligte sich das Gymnasium Januar 2008 gemeinsam mit neun weiteren Schulen der Region Köln am „Schülergedenktag“. Mit diesem Gedenktag erinnern Schüler an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Auch der Schüler Dinh Fu Van und die Schülerin Yaparak Ükten wurden in diesem Zusammenhang für ihr eifriges Engagement bei der Erstellung von kritischen Schautafeln zur Hitler-Zeit – zum Beispiel zu den „Baumeistern von Auschwitz“ oder über „Das Krematorium“ – auf der Webseite der Schule positiv herausgestellt.
Damit die Lehrer des Maximilian-Kolbe-Gymnasiums auch wachsam bleiben und das Unterrichtsziel nicht aus den Augen verlieren, scheint stete Fortbildung gefragt. Im Juni 2008 jedenfalls reiste ein Oberstudienrat der Schule mit zahlreichen anderen Lehrern aus Nordrhein-Westfalen anläßlich der 60-Jahr-Feier des Staates Israel zu einer Konferenz über „Erziehung nach Auschwitz“ ins israelische Dokumentationszentrum Yad Vashem, um dort das Unterrichtsprojekt „Der jüdische Friedhof in Zündorf“ vorzustellen. Auch Ministerpräsident Jürgen Rüttgers war das Thema so wichtig, dort persönlich seine Aufwartung zu machen. Im November 2008 beteiligten sich Lehrer der Kölner Schule an einer anläßlich des 70. Jahrestages der „Reichskristallnacht“ in Wien stattgefundenen Konferenz der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) in Zusammenarbeit mit dem israelischen Dokumentationszentrum Yad Vashem.
Gegenwärtig läuft am Maximilian-Kolbe-Gymnasium das Projekt „Minderheiten in Porz 1870 bis heute“, mit dem Unterprojekt „Fremd- und Zwangsarbeiter in Porz (1939–1945)“. Das ganze wird wiederum gefördert durch das Dokumentationszentrum Yad Vashem in Israel und durch die EU-Agentur für Grundrechte in Wien.
Betrachtet man das Fotomaterial genau, so offenbart sich die Eindimensionalität und Künstlichkeit der ganzen Situation. Man sieht die Kinder dieses Gymnasiums vor irgendwelchen Projektstellwänden, Collagen und KZ-Bauten abgelichtet stehen. Man sieht ihre manchmal aufgesetzt ernst blickenden Mienen, dann das doch nicht unterdrückbare jugendlich unverdorbene Lachen und das fast erlösende Posen von Halbstarken.
Natürlich betreibt das Kölner Maximilian-Kolbe-Gymnasium auch Projekte abseits der NS-Vergangenheitsbewältigung. Diese sind aber in der Regel praktischer Natur und drehen sich um Computertechnik, Wanderfahrten oder Kletterwände. Oder ein paar brave Schülerinnen, die ohnehin keiner Fliege etwas zuleide tun, dürfen ihre Gewaltlosigkeit mit selbstgestalteten „Gegen-Gewalt“-Plakaten zum Ausdruck bringen. Geschichtliche Themen jenseits der NS-Zeit aber sind dünn gesät: Ein seltsames Projekt etwa läuft über die Staatsmänner des fernen Nordkorea, einen Ausflug gab es immerhin zu einem Schulmuseum mit altem Klassenzimmermobiliar.
Man blickt insgesamt also doch auf eine beklemmende Situation, die zu erfassen aber offenbar weiten Teilen des Lehrpersonals die Sensibilität fehlt. Dies wird etwa offenbar, wenn man die unfreiwillig tragigkomische Stellungnahme der Schulleiterin Elisabeth Koßmann von der Kölner Grundschule Overbeckstraße zum „Schülergedenktag 2008“ vernimmt, die auch auf der mkg-Webseite dokumentiert ist. Koßmann hatte sich mit den Kindern einer vierten Klasse dem Thema „Stolpersteine“ verschrieben, und äußerte über einen ihrer beruflichen Vorgänger: „Unsere Schule hatte in den 30er Jahren einen linientreuen Direktor. In einem Brief an die Nazi-Zeitung ‘Der Stürmer´ prahlte er sogar damit, wie er Schüler für die Ideologie benutzte. So etwas Schrecklichem möchten wir etwas entgegensetzen.“ Scheint ja diesmal ganz ideologiefrei zu gelingen …
Fotograf: S.-Hofschlaeger, Quelle: pixelio.de