Anekdote zur Psychologie der Niederlage

Es gibt in Deutschland eine erbittertere und profundere "Deutschenfeindlichkeit", als jene, die aus dem culture clash zwischen Kartoffeln und Falafeln hervorgeht:...

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

näm­lich die Feind­lich­keit und den Haß der Deut­schen gegen ein­an­der und gegen sich selbst. Und das könn­te man dann fast schon wirk­lich als “struk­tu­rel­len Ras­sis­mus” bezeich­nen, in einem weit­aus schlüs­si­ge­ren Wort­sin­ne , als sich das unse­re klu­gen Anti-Ras­sis­ten so vorstellen:

Wer die deut­sche Poli­tik danach beur­teilt, ob sie den Selbst­er­halt des deut­schen Staa­tes als Deutsch-Land, als Heim­statt der Deut­schen sichert – ob sie im eige­nen Land deren unauf­heb­ba­re Eigen­rech­te sichert, die kei­ner Begrün­dung bedür­fen und die ande­re Völ­ker in ihren Gren­zen genau­so bean­spru­chen kön­nen –, der sieht sich bald auf zwei Mög­lich­kei­ten beschränkt: Er ver­fällt ent­we­der in Depres­si­on, wahl­wei­se auch in Zynis­mus oder Abstump­fung, die um so grö­ßer sind, weil das unter­stell­te All­ge­mein­in­ter­es­se gar nicht zu exis­tie­ren scheint.

Die­se Sät­ze stam­men aus dem neu­en Buch von Thors­ten Hinz “über die deut­sche Men­ta­li­tät”, Die Psy­cho­lo­gie der Nie­der­la­ge.  André Licht­schlag bezeich­ne­te es in der JF als “Meis­ter­werk”, und die­sem Urteil kann ich mich nur anschlie­ßen. Ich wer­de es zu einem ande­ren Zeit­punkt aus­führ­li­cher bespre­chen, dar­um erst­mal nur soviel: was mir am meis­ten zu den­ken gibt, und mich immer wie­der von Neu­em frap­piert, ist, wie sehr sich Hinz’ Beob­ach­tun­gen über die deut­sche See­le bis in klei­ne Fasern des All­tags der Deut­schen hin­ein ver­fol­gen las­sen. Jeder hat die Spu­ren die­ser “deut­schen Men­ta­li­tät” schon an sich und ande­ren erlebt, ist dar­über gestol­pert, pein­lich berührt oder ver­är­gert gewe­sen, oder hat gar, wie in mei­nem beschei­de­nen Fal­le, mit dem Drü­cken der kri­ti­schen Knöpf­chen schon gan­ze Par­ties gesprengt.

Ich fand den ste­reo­ty­pen Vor­wurf an die Kon­ser­va­ti­ven oder Rech­ten “ver­gan­gen­heits­fi­xiert” oder, wie die Phra­se geht, “ewig­gest­rig” zu sein, immer schon recht amü­sant in einem Land, in dem jeder­mann im Ban­ne die­ser Din­ge steht und ihre Prä­senz tag­täg­lich kul­tisch zele­briert wird. Wenn irgend­je­mand end­lich etwas an die­ser ein­ge­fah­re­nen Selbst­läu­fer-Sack­gas­se ver­än­dern, und den Blick mehr auf die Gegen­wart und die Zukunft rich­ten will, dann sind das bestimmt vor allem wir.

Ob wir es wol­len oder nicht, ob wir es bewußt wis­sen oder nicht, ob wir es gefühls­mä­ßig ein­ord­nen kön­nen oder nicht, ob wir uns Lin­ke oder Rech­te schimp­fen, ob wir Geg­ner oder Nutz­nie­ßer des “Bewältigungs”-Business sind: an uns allen voll­zieht sich noch nach Jahr­zehn­ten das berühm­te Wort Hera­klits, daß der Krieg Vater aller Din­ge sei. In uns allen lebt 1945, und mögen wir uns noch so abstram­peln, wir sind und blei­ben Kin­der eines kol­lek­ti­ven Schick­sals, das sich viel­leicht schon längst erfüllt hat. Oder gibt es ein Leben nach der Nibelungenhalle?

All das hat­te ich im Kopf, als ich am letz­ten Sonn­tag eine skan­di­na­vi­sche Stu­den­tin durch den Trep­tower Park in Ber­lin führ­te, und wir am Ende der Tour beim “Sowje­ti­schen Ehren­mal” ange­langt waren. Eine wuch­ti­ge, raum­grei­fen­de Anla­ge, die im monu­men­ta­len Stil der Sta­lin-Zeit an den Sieg der Roten Armee über den “Hit­ler-Faschis­mus” erin­nert. Als Lai­bach-Fan fin­de ich das Denk­mal natür­lich toll und ästhe­tisch anspre­chend; als nach­ge­bo­re­ner Sohn des besieg­ten Vol­kes bleibt jedoch bei sei­nem Anblick stets ein gewis­ser Sta­chel zurück.

Das ver­such­te ich der Stu­den­tin, die noch wenig über Deutsch­land weiß, ver­ständ­lich zu machen und rede­te mich heiß: die­ses Teil hier sei schön und beson­ders, außer­dem prak­tisch abge­le­gen und zwi­schen den Bäu­men des Parks ver­steckt, aber den Rest die­ser gan­zen von Sta­lin hin­ter­las­se­nen Knutsch­fle­cken, wie das “Denk­mal für den unbe­kann­ten Ver­ge­wal­ti­ger” im Tier­gar­ten, wür­de ich ohne zu Zögern abrei­ßen und statt­des­sen end­lich ver­nünf­ti­ge “Ehren­mä­ler” für die deut­schen Gefal­le­nen auf­bau­en. Die gol­de­nen Inschrif­ten auf den Mar­mor­sar­ko­pha­gen des Haupt­fel­des, alle­samt Zita­te des “Vaters der Völ­ker” Josef Sta­lin über den “Vater­län­di­schen Krieg”, sei­en natür­lich kras­se Geschichts­klit­te­run­gen, da sei etwa kei­ne Rede vom Hitler-Stalin-Pakt…

An die­sem Punkt mei­ner Tira­de unter­brach mich plötz­lich mit einem sar­kas­ti­schen und etwas her­ab­las­sen­den Grin­sen ein jun­ger Mann Anfang Zwan­zig.  “Da stehts doch!”- “Was?”- “Na, der Hit­ler-Sta­lin-Pakt, da stehts doch!”, sag­te er und wies auf den Sar­ko­phag vor mei­ner Nase: “… im Juni 1941 über­fiel Hit­ler­deutsch­land unser Land, indem es in bru­ta­ler und wort­brü­chi­ger Wei­se den Nicht­an­griffs­pakt ver­letz­te…” Da hat­te er mich erwischt, aber nach einem kur­zen Über­rum­pe­lungs­mo­ment hol­te ich zum Gegen­an­griff aus: “Das Ent­schei­den­de ist ja, wie der Pakt hier inter­pre­tiert wird, und was hier alles aus sei­ner Vor- und Nach­ge­schich­te unter­schla­gen wird…”

Doch da kamen auch schon die nächs­ten Atta­cken: mein Oppo­nent hat­te näm­lich sei­ne etwa sech­zig­jäh­ri­gen Eltern dabei, unzwei­fel­haft Ossis, sein grau­haa­ri­ger Vater mit einer gro­ßen Foto­ka­me­ra um den Hals, der mir nun eben­falls mit höh­ni­schen Kom­men­ta­ren zu ver­ste­hen gab, daß ich wohl ein Voll­depp sein müs­se ohne Ahnung, wovon ich hier eigent­lich rede. “Ich ver­ste­he das hier gera­de nicht! Was ist denn die­ser Pakt??” sag­te ver­wirrt mei­ne Beglei­te­rin. “Das erklä­re ich dir spä­ter!” – “Da möch­te ich dabei sein, har­har!” feix­te der älte­re Ossi. “War­um nicht, dann könn­ten Sie noch was ler­nen!” feu­er­te ich zurück. “Kom­men Sie mal run­ter vom hohen Roß, jun­ger Mann!” – “Auf das Roß haben doch Sie sich eben gesetzt, nicht ich.” Das Gegif­tel ging noch eine Wei­le hin und her, dann zogen mei­ne Angrei­fer weiter.

Ich war indes­sen furi­os und konn­te mei­nen Ärger kaum her­un­ter­fah­ren, wäh­rend die skan­di­na­vi­sche Stu­den­tin nicht ver­stand, wie­so sich eben wild­frem­de Men­schen wegen ein paar neben­bei gemach­ten his­to­ri­schen Bemer­kun­gen bei­na­he zer­flei­schen. Ich ver­such­te, es ihr zu erklä­ren, war dabei aber so in Rage, daß sie sich etwas unwil­lig zeig­te, mir zu fol­gen. Die gan­ze Sze­ne köchel­te noch hart­nä­ckig in mir wei­ter, und auf dem Weg zur S‑Bahn-Sta­ti­on fie­len mir all die­se knal­li­gen Sprü­che und bes­se­ren Argu­men­te ein, die immer erst dann wie argu­men­ta­ti­ve Nukle­ar­waf­fen im Kopf auf­tau­chen, wenn die Schlag­fer­tig­keit ver­braucht und die Feu­er­ge­fech­te vor­bei sind.

War­um hat mich das so mit­ge­nom­men? War es nur per­sön­li­che Eitel­keit? Die­se Sze­ne hat­te auch eine tie­fe Ver­zweif­lung ange­rührt, die sich in mir schon wäh­rend der Lek­tü­re von Psy­cho­lo­gie der Nie­der­la­ge ange­sam­melt hat­te: wie ver­quer und ver­wor­ren die­se Situa­ti­on doch ist, und wie selt­sam und beharr­lich die Deut­schen sich an dem fest­klam­mern, was sie in läh­men­der Ent­frem­dung von sich selbst und ihrer Geschich­te hält.

Mei­ne Beglei­te­rin, not amu­sed, und ein har­mo­nie­lie­ben­der, dem Streit äußerst abge­neig­ter Mensch, zeig­te alle Anzei­chen des Stres­ses, als wie durch einen mys­te­riö­sen Magne­tis­mus eine drei­vier­tel Stun­de und zwei U‑Bahn-Sta­tio­nen spä­ter das Ossi-Trio wie­der genau neben uns auf­tauch­te. Ich hat­te mir schon die gan­ze Zeit in inne­ren Mono­lo­gen aus­ge­malt, wie ich Rache neh­men  und noch ein paar sar­kas­ti­sche, zuge­feil­te Spit­zen nach­schleu­dern wür­de, soll­ten mei­ne Angrei­fer mir noch­mal begeg­nen. Nun war mein Wunsch unver­se­hens in Erfül­lung gegan­gen, und mei­ne Opfer stan­den vor mir wie auf dem Sil­ber­ta­blett oder vor dem Faden­kreuz, bereit zum Abschuß.

Zur Erleich­te­rung mei­ner Beglei­te­rin fand ich die Situa­ti­on nun aber so komisch, daß ich beschloß, mei­ne Streit­lust zu zäh­men, und gera­de wegen der köst­li­chen Absur­di­tät die­ses Zufalls auf ein Nach­tre­ten zu ver­zich­ten. Wir stie­gen in die Bahn, das Ossi-Trio in den ande­ren Wagen. Mei­ne Beglei­te­rin war aber immer noch nicht zufrie­den, und ver­stand immer noch nicht, war­um mich das alles denn sooo sehr beschäf­tig­te. Ich fing an zu grü­beln. Plötz­lich kam mir schlag­ar­tig eine Erleuch­tung. Ich hat­te eben die unwahr­schein­li­che Chan­ce ver­fehlt, zu tun, was das ein­zig Rich­ti­ge gewe­sen wäre: ich hät­te zu mei­nen Geg­nern hin­ge­hen sol­len, und wäh­rend sie noch gedacht hät­ten “O Gott, schon wie­der das A*******h aus dem Park”, hät­te ich mich bei ihnen höf­lich für mei­nen Ton­fall und die unan­ge­neh­me Situa­ti­on ent­schul­digt.  Sie wären wohl per­plex gewesen!

Schon der Gedan­ke dar­an ließ mich füh­len, wie sich ein Krampf in mei­nem Kör­per auf­lös­te, und mir ein Gewicht von der See­le genom­men wur­de. Der Streß wich, Hei­ter­keit kehr­te zurück. Ich dach­te an Wolf­gang Mattheu­ers Bild von Kain und Abel auf dem Cover von Hin­zens Buch, und sei­ne Schluß­be­mer­kung über die Deut­schen als ihr eige­ner schlimms­ter Feind. In der Tat, es war blöd­sin­nig, daß die Deut­schen (zu denen ich mich in der Ösi-Vari­an­te nun mal auch zäh­le) sich wegen die­ser Din­ge die Köp­fe ein­schlu­gen. Es war unsin­nig, die­sen laten­ten geis­ti­gen Bür­ger­krieg, in dem die ein­ge­impf­ten Geschichts­bil­der wie che­mi­sche Abwehr­re­ak­tio­nen zischend auf­ein­an­der los­gin­gen, noch zu ver­schär­fen und zu ver­stär­ken, anstatt end­lich zurück­zu­tre­ten und ihn zu been­den. Irgend­je­mand muß ja damit irgend­wo begin­nen. Plötz­lich war ich den Ossis nicht mehr böse, und bedau­er­te auf­rich­tig die Situa­ti­on und den dum­men Streit, und: es fühl­te sich gut an.

Mir wur­de klar, daß all die Bewäl­ti­gungs­fa­na­ti­ker, all die NS-Kom­plex­ler, Süh­ne­deut­schen, Schuld­kul­tis­ten und pha­ri­säi­schen Zivil­re­li­gi­ons­gläu­bi­gen nicht wirk­lich Fein­de sind, oder zumin­dest nicht pau­schal als sol­che betrach­tet wer­den dür­fen. Vie­le von ihnen mögen beton­dumm und oppor­tu­nis­tisch sein, vie­le haben es nie bes­ser gelernt oder anders gehört, aber eben­so vie­le lei­den auch wirk­lich auf­rich­tig dar­un­ter, was in NS-Deutsch­land und im Krieg gesche­hen ist, gera­de weil die natio­na­len Gefüh­le in ihnen nicht tot sind.  Die Wun­den sind auch bei jenen tief, die bei “Deutsch­land” nur mehr an “Ausch­witz” zu den­ken ver­mö­gen.

Ich beschloß, in der nächs­ten Sta­ti­on den Wagen zu wech­seln, und mich bei der Ossi-Fami­lie zu ent­schul­di­gen. Nicht nur als mensch­li­che, son­dern irgend­wie auch als sym­bo­li­sche deutsch-deut­sche, oder von mir aus Ossi-Ösi-Ver­söh­nungs­ges­te.  Sie waren aber schon ausgestiegen.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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