die den Bewältigungs-Overkill an den Schulen kritisierte (“Der zweite Weltkrieg nervt mich extrem. Immer wieder dasselbe.”), und damit so manchen Überdrüssigen Morgenluft wittern ließ, liegt inzwischen auch schon fast zehn Jahre zurück.
Eine Dekade später hat die Zeit nun eine ganze Ausgabe der Frage gewidmet, wie die heutigen Jugendlichen zu dem leidigen Thema stehen. Seit Anna Raus Schulzeiten hat sich nichts verändert, lediglich der Grad der Irrealität ist gestiegen. Inzwischen ist der zeitliche Abstand so groß, daß man schon fragen muß, ob UR-Opa “ein Nazi” war. Soll das etwa nun in alle Ewigkeit so weitergehen, und in zwanzig, dreißig Jahren zerbrechen sich die heute Geborenen den Kopf, ob Ur-Ur-Opa ein Nazi war?
Auch die Auszüge aus den von der Zeit angeregten Schulaufsätzen lassen stark daran zweifeln, was für einen positiven Sinn die ganze Nummer denn haben soll, wenn etwa wieder die “Schuld” und “Scham”-Spritze auf den Nachwuchs angesetzt wird:
“Ich weiß jetzt, wie gut ich es eigentlich habe, und dass ich mich eigentlich für mein Land schämen sollte, auch wenn ich nichts dafür kann.” (Jonas, 8. Klasse)
Oder wenn die Gräben zwischen Eingebürgerten und autochthonen Deutschen, dem Wir und Ihr, dadurch vertieft und negativ aufgeladen werden:
“Ich als deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund spüre und höre heute noch vom tiefen Hass und der radikalen Feindlichkeit gegenüber Migranten… Ich habe Angst, dass nach einer gewissen Zeit die Menschen den Schmerz und die Fehler vergessen werden und diese schlimmen Fehler sogar wiederholen.” (Enes, ohne Altersangabe)
Interessanterweise sieht die Mehrzahl der zitierten Schüler die landläufige Handhabung dieser Dinge durchaus kritisch, und bringt kluge Einwände vor:
“Oftmals scheint es, als ob man sich als Deutscher ducken muss, wenn bestimmte Tabuthemen angesprochen werden. … Selbstverständlich muss die Gedenkarbeit fortgesetzt werden, und dies ist auch gut so, doch der Blickwinkel und die Perspektive der Betrachtung müssen andere werden. … Die Erinnerung darf nicht einem stets mahnenden Vorhalten oder Anprangern gleichen.” (Louis, 12. Klasse)
“Es kann allerdings nicht sein, dass das heutige Deutschland die Schuld trägt und als ‘Wiedergutmachung’ mehrere Millionen Euro an Überlebende zahlt und beispielsweise die Gesamtkosten für Austauschprogramme zur Prägung der internationalen Freundschaft trägt.” (Mara, 17 Jahre)
“Es behagt mir nicht, meinen Lehrer als sadistisch zu bezeichnen, aber ich finde kein anderes Wort, um auszudrücken, wie er unser aller Entsetzen genießt, als er ausführliche, schockierende Geschichten über die KZs und die Verwendung der Leichenteile erzählt. Doch plötzlich weiß ich, was ich machen muss. ‘Herr Solpak’, sage ich und stehe auf, ‘ich finde es sehr wichtig, zu erfahren, zu was für schreckliche Dinge die Menschen fähig waren und im Grunde fähig sind. Doch dieses detailreiche Ausschlachten der Schandtaten halte ich für Effekthascherei.” (Nicola, ohne Altersangabe)
Wie man auch immer es dreht, wen auch immer man fragt: es kann so nicht weitergehen. Darüber hat sich inzwischen ein recht breiter Konsens ausgebildet. Wo sind hier dagegen die Verteidiger des Status Quo und was für ernsthafte Rechtfertigungen haben sie noch vorzubringen?
Passend dazu brachte Deutschlandradio Kultur am Samstag ein Feature zu dem Thema “NS-Vergangenheit in den Familien”. Zu Gast war die Journalistin Sabine Bode, deren sehr empfehlenswerte Bücher die Folgen der Kriegs- und Nachkriegstraumata bis tief in die Verzweigungen der deutschen Familienromane zu verfolgen versuchten. Es ist bezeichnend, daß der Moderator diese als einseitig mit der “Nazi-Vergangenheit” befaßte Bücher präsentierte – das große Verdienst Bodes war vielmehr, aufzuzeigen, wie sehr infolge der Fixierung auf die NS-“Schuld” die deutschen Opfer und Leiden des Krieges in der öffentlichen (und schließlich auch privaten) Erinnerung abgedrängt und tabuisiert wurden.
Interessanter als Bodes hier recht konventioneller Beitrag scheinen mir in dieser Sendung allerdings die Stellungnahmen des Erinnerungsforschers Dr. Christian Gudehus zu sein. Dieser wirft nämlich die grundsätzliche Frage auf, was denn das überhaupt ist: Erinnerung – und darüber hinaus das, was wir denn als verbindliche Geschichte akzeptieren. Denn beides fällt nicht fertig vom Himmel herab wie Moses’ Gesetztafeln, sondern wird erst durch einen langwierigen Prozeß redigiert und zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefaßt.
Auf die Frage des Interviewers, ob etwa Guido Knopp weiterhelfen kann, wenn es darum geht, die eigene Erinnerung und Familiengeschichte innerhalb eines größeren Ganzen zu “kontextualisieren”, antwortet Gudehus:
Die Menschen machen aus den Erzeugnissen der Kulturindustrie das, was sie möchten. Sie benutzen sie, so wie sie möchten, sie sehen das, was sie möchten, und sie interpretieren das so, wie sie möchten. Und dann gibt sicherlich welche, die das als Anregung nehmen, um nachzufragen, gleichzeitig gibt es andere, die das eher problematisch finden, wie da Geschichte erfunden wird, und wie Geschichte da dargestellt wird, über diese Zeitzeugeninszenierung und so weiter.
Gudehus betont, daß das Erinnern nicht etwas Zweckfreies ist, sondern immer im Dienst einer Selbstformung und Selbstvergewisserung, einer Sinngebung steht. Es gibt ein menschliches Bedürfnis, das Leben in eine Geschichte zu fassen, in der es ein Anfang und ein Ende, ein Woher und Wohin gibt. Dabei muß die Erinnerung nicht notwendig “wahr” sein:
Die Aufgabe des Gedächtnisses, daß es sich an Geschichte und Geschichten erinnert, ist ja nicht zwangsläufig, wiederzugeben, wie es genau gewesen ist, sondern die Aufgabe von autobiographischer Erinnerung ist, daß man eine Geschichte über sich selbst erzählen kann, mit der man, um das mal stark vereinfacht zu sagen, gut leben kann. In der man all das, was einem passiert ist, irgendwie in einen Zusammenhang bringen kann.
Mit anderen Worten: jedermann hat sozusagen eine Art inneren Schneidetisch in seinem Kopf, in dem der Film seines Lebens geschnitten wird, das heißt überflüssiges und mißlungenes Material ausgesondert, unliebsames zensiert, und ausgewähltes getrimmt und sinnvoll montiert. Da ist aber auch ein Studio, in dem Szenen nachgedreht, in der Post-Production nachbearbeitet und gelegentlich sogar mit fremdem “found footage” angereichert und überblendet werden.
Erst mal wählt man sowieso aus, das meiste wird vergessen, ein Teil bleibt bestehen, und dann verändert sich dieser Teil permanent, im Laufe des Leben, er verändert sich kommunikativ, immer, wenn man ihn neu erzählt, gibts eine kleine neue Geschichte. Das ist natürlich häufig so, und da ist der NS ein extremes Beispiel, daß es Quellen außerhalb der eigenen Geschichte gibt, die plötzlich Bestandteil von Geschichten werden. Alle Forscher, die zu diesem Thema forschen, stellen fest, daß sie immer wieder Geschichten und Figuren finden, die sie aus Filmen kennen, beispielsweise. (…) Das heißt nicht, daß sich jemand absichtlich hinstellt und lügt, sondern das passiert einfach.
Budehus deutet an, daß dieser Prozeß auch auf einer kollektiven Ebene stattfindet, und daß er in Deutschland nicht unbedingt zum Besten geglückt ist. Man hat aus der Vergangenheit nicht gerade eine übergeordnete Geschichte geformt, mit der “es sich gut leben kann” (und ich füge hinzu: das Gegenteil ist der Fall). Die Fixierung auf das Gestern macht blind und gleichgültig gegenüber der Zukunft:
Die Zukunft spielt interessanterweise gar nicht so eine zentrale Rolle, sondern wir sind eine Gesellschaft, die sich sehr stark mit der Vergangenheit beschäftigt. (…) Wir müssen eine Zukunft bewältigen, die sich fundamental von dem unterscheidet, was in der Vergangenheit passiert ist, aber die Frage ist, ob diese Geschichten über die Vergangenheit, die wir da haben, die richtigen sind, um die Zukunft zu bewältigen, und das meine ich eher auf einer übergeordneten Ebene – persönlich soll jeder in seiner Familie das, was für ihn oder sie wichtig ist, klären und besprechen, und das muß auch nicht nur mit dem Nationalsozialismus zusammenhängen.
Das sind grundlegende Fragen, die ich mir auch in meinem Kaplaken-Bändchen “Besetztes Gelände” gestellt habe. Indem ich anhand der Filmkunst die Übersetzung von Geschichte in Geschichten untersuche, will ich natürlich auch das Bewußtsein dafür schärfen, daß kein historisches Narrativ endgültig ist, und von Gott himself in ewige Gesetzestafeln gemeißelt, und daß jedes historische Narrativ auch immer ein perspektivisches, menschengemachtes ist, das bestimmten Interessen dient, vor allem jener, die es erzählen. Bei den Deutschen ist das heute kraß umgekehrt. Aber wir sind keineswegs verdammt, hier stehenzubleiben.