daß das Verhältnis der Rechten zum liberalen Verfassungsstaat klärungsbedürftig ist, und dies nicht zum Zwecke “verfassungsschützender” Gesinnungszensur, sondern weil der antiliberale Affekt in beiden Artikeln so skurrile Blüten treibt, daß er sich selbst ad absurdum führt.
Für Menzel ist man bereits des “Verfassungspatriotismus” verdächtig, wenn man ESM-Vertrag als das bezeichnet, was er ist, nämlich als Staatsstreich – so, als ob das bloße Beharren auf der Gültigkeit von Verfassung, Recht und Gesetz notwendig jegliche Kritik an deren fragwürdigen Seiten ausschließen würde; und Böcker läßt in seinem Artikel zum Beschneidungsurteil durchblicken, daß man in seinen Augen bereits ein Anhänger säkularistischer Religionsfeindlichkeit ist, wenn man darauf hinweist, daß eine Religion nicht alles darf.
Für beide scheint ausgemacht, daß die Verfassung, nur weil sie notwendig auf abstrakten Rechtssätzen beruht, in sich etwas Abstraktes, Wirklichkeitsfernes und Künstliches ist, das dem Gewachsenen, der Tradition, dem Glauben, dem Volk nur feindlich gegenüberstehen kann. Vielleicht gehen sie auch davon aus, daß eine Verfassung, die wesentlich von den Siegermächten vorgezeichnet wurde, bereits dieser Herkunft wegen zwangsläufig nur so etwas wie deren ständige Vertretung im besiegten Deutschland darstellt und allein deshalb schon nicht beachtens- oder gar verteidigenswert ist.
Selbstverständlich hat der liberale Verfassungsstaat seine fragwürdigen Seiten: die Tendenz zur künstlichen Gleichmachung des Ungleichen, zu einer ideologischen Individualisierung, die das soziale Leben und dessen auf Wechselseitigkeit beruhende Strukturen nur als Addition von Einzelpersonen auffassen kann, die Neigung, aus Verfassungsnormen volkspädagogische Programme abzuleiten. Ja, es stimmt schon: Der liberale Verfassungsstaat ist die zur staatsrechtlichen Theorie erhobene Aufklärung und teilt mit ihr den Grundirrtum, den Menschen nur als sein eigenes Geschöpf auffassen zu können; er läuft wie sie Gefahr, alle vorgefundenen, nicht selbstgewählten und ‑geschaffenen Bindungen zur Disposition zu stellen und gegebenenfalls zu zerstören; und er teilt ihre Tendenz, in Totalitarismus umzuschlagen und sich letztlich selbst zu vernichten. Freilich ist all dies nicht mehr als eine Tendenz; und zwar eine, deren Gefährlichkeit Gegengewichte erforderlich macht.
So sehr es also zutrifft, daß der liberale Verfassungsstaat der Einhegung, der Verankerung, der Verortung bedarf, so wenig kann man doch daraus, wie Böcker, schließen, daß jegliche Tradition, die nicht aus liberal-aufklärerischem Denken stammt, und wäre es ein barbarisches Nomadenritual aus vorbiblischer Zeit, ein geeignetes Gegengewicht darstellt, noch mit Menzel schlußfolgern, daß die ganze Verfassung ohnehin nichts tauge und es daher auf ihre Verletzung politisch nicht ankomme.
Das Verhältnis von Christentum und liberalem Verfassungsstaat ist nicht einfach ein simpler Antagonismus, so als ob das Grundgesetz naturgemäß das Reich des Antichristen und sein Geltungsbereich daher möglichst einzudämmen wäre. Nicht zufällig ist der liberale Staat auf christlichem – und keinem anderen! – Boden gewachsen. Das Christentum verficht ein Ethos der Gewaltlosigkeit und demzufolge auch der Loyalität zum säkularen Staat, ohne den ein solches Ethos nicht lebbar ist; ein Ethos der Selbstkritik (“Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet”), das einen guten Nährboden für politische Toleranz abgibt; und es ist eine Religion, die das Reich Gottes nicht in dieser Welt verortet, mithin auch keine Gesellschafts- oder Rechtsordnung vorschreibt und damit nicht nur dem säkularen Gesetzgeber größtmöglichen Spielraum läßt, sondern vor allem an die Religionszugehörigkeit keine politischen Solidaritätserwartungen knüpft. Für einen demokratischen Nationalstaat, der das Staatsvolk als ethnisch homogene Solidargemeinschaft voraussetzen muß, ist dies überlebenswichtig: Für ihn ist kaum etwas so zersetzend wie die Existenz großer ethnischer Minderheiten (mit kleinen kann er leben), insbesondere wenn Ethnizität und Religion sich überlappen und die Minderheit deshalb nicht im Staatsvolk aufgehen kann.
Das Christentum ist also exakt das Komplement, das der liberale Staat braucht, um überhaupt existieren zu können, und er selbst ist eine dem Christentum, und keiner anderen Religion, angepaßte politische Form. Er ist nicht einfach der Feind des Christentums, sondern dessen legitimes Kind – ein Kind freilich, das eine fatale Neigung zum Vatermord und damit zugleich zur Selbstzerstörung hat. Das Christentum ist der Anker, den der liberale Verfassungsstaat braucht, um von den Wellen nicht hierhin und dorthin gespült und letztlich gegen die Klippen geworfen zu werden. Selbst wenn der religiöse Glutkern langsam erkaltet und es nur noch in gesellschaftlichen Nischen wirklich gelebte Religion ist, ist es doch als selbstverständliche Basis unserer Kultur, selbst als bloßes Kulturchristentum, noch stark genug (gewesen?), die selbstzerstörerischen Tendenzen des Liberalismus im Zaum zu halten.
So sehr es abstrakt richtig ist, daß Religion die Basis jeder Gesellschaft ist, so wenig besagt dies, daß jegliche Religion die Basis unserer Gesellschaft, unseres Volkes und unserer Kultur sei. Das notwendige und heilsame Gegengewicht zum liberalen Staat ist die christliche Religion; die jüdische ist es allenfalls, sofern sie in der christlichen enthalten ist, und die islamische ist es überhaupt nicht.
Wenn Martin Böcker suggeriert, Religion schlechthin (und nicht etwa eine bestimmte Religion) sei gegenüber den Forderungen, meinetwegen auch Zumutungen, des säkularen Rechtsstaates schützenswert, dann läuft er genau in die Falle des abstrakten, ortlosen Denkens, das man als Rechter üblicherweise den Liberalen vorwirft, und verläßt damit den Boden, von dem aus Liberalismuskritik überhaupt sinnvoll formuliert werden kann. Zu Ende gedacht, läuft seine Position darauf hinaus, unterschiedliches Recht für unterschiedliche Gruppen zu fordern. Mit dem orientalischen Politikmodell – beispielhaft verkörpert etwa im osmanischen Melli-System – ist dies vereinbar, mit dem abendländischen nicht.
Wer einem sterilen antiliberalen Affekt folgt, deshalb den liberalen Rechtsstaat nur unter dem Gesichtspunkt seiner aufklärerischen, revolutionär-zersetzenden Tendenzen betrachten kann und nicht wahrhaben will, wie sehr er in Volkscharakter, Kultur, religiösen und geistigen Traditionen Deutschlands verankert ist, landet folgerichtig bei einem Konservatismus, bei dem nicht erkennbar ist, was überhaupt warum bewahrt werden soll, und der schon deshalb revolutionären Umvolkungs‑, Entchristianisierungs- und Entwurzelungsprojekten nichts entgegenzusetzen haben wird.
Noch absurder sind die Konsequenzen des antiliberalen Affekts bei Felix Menzel, der – ohne irgendeinen anderen erkennbaren Grund als eben diesen Affekt – entschlossen zu sein scheint, sich der stärksten Waffe zu begeben, die eine politisch marginalisierte Opposition gegen die Anmaßungen der herrschenden Kaste überhaupt ins Feld führen kann, nämlich daß deren Aktionen schlicht und einfach illegal sind. Dies ist ungefähr so klug, als würde ein Ertrinkender den ihm zugeworfenen Rettungsring ablehnen, weil er aus politischen Gründen die Herstellerfirma zu boykottieren entschlossen ist. Auch hier ist es eine abstrakt richtige Kritik am liberalen Verfassungsstaat, die den Kritiker dazu verleitet, das einmal erreichte Abstraktionsniveau nicht mehr zu verlassen und dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren. Abstrakte Fundamentalkritik ist keine politische Analyse und kann sie auch nicht ersetzen. Man kann die Verfassung gut oder schlecht finden, sie ist nun einmal die Verfaßtheit der deutschen Nation, und ohne sie ist die Nation nicht in besserer, sondern in überhaupt keiner Verfassung – sie hört einfach auf, politisch zu existieren.
Insofern ist es freilich konsequent, wenn Menzel mit der Verfassung zugleich den Nationalstaat preiszugeben bereit ist und für ein Europa der Regionen plädiert; der Preis, den er für diese Konsequenz bezahlt, ist aber, daß man bei ihm nicht erst wie bei Böcker auf den zweiten, sondern bereits auf den ersten Blick die Absurdität seiner Position erkennt:
Zunächst einmal ist ein Europa der Regionen eine Idee, die so – wenn überhaupt – höchstens in Deutschland und Italien, den beiden verspäteten Nationen, überhaupt diskutabel ist. Ein Europa der Regionen setzt aber voraus, daß zum Beispiel die Franzosen ihr Dogma “La France une et indivisible” aufgeben. Sofern Menzel sie dazu überreden will, wünsche ich ihm viel Spaß.
Zum anderen werden diese Regionen entweder das leisten, was bisher der Nationalstaat leistet, d.h. ihre Bürger als Volk, also als Solidargemeinschaft und politisches Subjekt konstituieren; dann ist nicht zu erkennen, warum man diese Aufgabe nicht wie bisher dem Nationalstaat anvertrauen soll, der im Gegensatz zu den Regionen seine Völker nicht erst neu erfinden muß. Oder sie leisten das nicht, ziehen aber die letzten verbliebenen Kompetenzen des Nationalstaates an sich: Dann sind sie genau das, was die Eurokratie braucht, weil mit den Völkern und Nationalstaaten das einzige Gegengewicht gegen ihre Machtanmaßung beseitigt wird. Es spricht Bände, daß die Aufwertung der Regionen bereits voll im Gange ist, aber nicht aufgrund irgendwelcher Initiativen von unten, also weil das Volk sie braucht, sondern von oben, von Brüssel, weil die Eurokratie sie braucht.
Menzels Europa der Regionen schwebt in zweierlei Hinsicht in der Luft:
Erstens entspricht ihm keinerlei politische, soziologische oder sozialpsychologische Realität; es handelt sich lediglich um eine Kopfgeburt, und zwar um eine vollkommen willkürliche: Ein Europa der Regionen? Warum nicht eines der Ethnokantone, der Poleis, der Räterepubliken, der Melli-Kommunen? Warum nicht einfach das Heilige Römische Reich wiederherstellen oder sich in ein globales Kalifat eingliedern?
Ein politisches Gemeinwesen kann nicht existieren, es sei denn als Diktatur, wenn es nicht als die selbstverständliche Form des politischen Zusammenlebens wahrgenommen wird, wenn es also nicht auf einem allgemein akzeptierten Konsens beruht, und ein solcher wächst entweder historisch oder überhaupt nicht. Die Vorstellung, er könne von ideologischen Identitätsdesignern geschaffen werden, ist technokratischer Größenwahn, der folgerichtig in den Köpfen Brüsseler Technokraten zuhause ist; sie wird nicht überzeugender, sondern mangels Macht nur noch absurder, wenn sie von freischwebenden Intellektuellen propagiert wird.
Es ist schon richtig, daß auch andere politische Formen als der Nationalstaat in der Vergangenheit existiert haben und zweifellos auch in Zukunft existieren werden. Nur muß der, der dies sagt, hinzufügen, daß der Weg vom einen zum anderen Ordnungsmodell in der Vergangenheit mit Hekatomben von Leichen gepflastert war und jede neue Ordnung in blutigen, oft jahrhundertelangen Krisen geboren wurde. Es mag sein, daß auch uns solche Krisen bevorstehen, es ist sogar wahrscheinlich; aber sie sind nichts, was irgend ein vernünftiger Mensch wollen kann, schon gar kein Konservativer, selbst wenn er sich als konservativer Revolutionär versteht.
Zweitens führt Menzel nicht die geringste Begründung dafür an, warum diese Idee, selbst wenn sie sich realisieren ließe, eine gute Idee sein soll. Wem soll sie nützen? Was soll sich dadurch verbessern? Was wird dadurch an Bewahrenswertem bewahrt?
Seine Polemik gegen den Nationalstaat macht sich an dessen “jakobinischem Anspruch” und dem ihm innewohnenden “Postulat der Gleichheit” fest, d.h. an seiner Herkunft aus revolutionärem Gedankengut. Genau derselbe blinde antiliberale (oder antirevolutionäre) Affekt wie bei Böcker und mit demselben Ergebnis: nämlich, daß man zu Konsequenzen gelangt, die die Prämissen ad absurdum führen. Denn Menzels Ideen, so antirevolutionär er sie begründet, laufen darauf hinaus, eben das Projekt der Entwurzelung Europas und seiner Unterwerfung unter eine Diktatur globalistischer Ideologen voranzutreiben, durch die die Ideen der Aufklärung und der Revolution gerade in ihren destruktivsten und zivilisationsfeindlichsten Aspekten verwirklicht würden.
Wenn Konservative solche Ideen formulieren, beschleicht mich ein gewisses Déjà-vu. Konservative sind meist ziemlich gut darin, zu definieren, was sie nicht wollen, aber relativ schlecht darin zu definieren, was sie wollen, insbesondere dann, wenn die von ihnen verteidigte Ordnung ins Rutschen gerät oder schon zerstört ist. Die merkwürdige Mischung aus Prinzipienreiterei im Hinblick auf das, was man nicht will, und eklektischer Luftschloßarchitektur im Hinblick auf das, was man will, erinnert fatal an den Konservatismus der frühen dreißiger Jahre, der sich weder für die Republik noch für Hitler zu erwärmen vermochte und deshalb von der Querfront bis zum Ständestaat mit allerlei Politikmodellen spielte, die keine Aussicht auf Realisierung hatten. Bis andere Kräfte vollendete Tatsachen schufen.
Kritik an den Illusionen liberaler und linker Ideologie, Warnung vor den selbstzerstörerischen Tendenzen des liberalen Verfassungsstaates sind nicht nur legitim, sondern notwendig. Fundamentalopposition gegen die Verfassung ist nicht im Hier und Jetzt zuhause. Sie ist Fundamentalismus ohne Fundament.
Ein Fremder aus Elea
Das Christentum verficht ein Ethos der Gewaltlosigkeit und demzufolge auch der Loyalität zum säkularen Staat, ohne den ein solches Ethos nicht lebbar ist;
"Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist." läßt meines Erachtens durchaus Raum für Steuerhinterziehung.
ein Ethos der Selbstkritik („Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet“), das einen guten Nährboden für politische Toleranz abgibt;
Ja.
und es ist eine Religion, die das Reich Gottes nicht in dieser Welt verortet, mithin auch keine Gesellschafts- oder Rechtsordnung vorschreibt und damit nicht nur dem säkularen Gesetzgeber größtmöglichen Spielraum läßt, sondern vor allem an die Religionszugehörigkeit keine politischen Solidaritätserwartungen knüpft.
Nein. Das ist grundfalsch. "An euren Taten soll man euch erkennen." heißt es und "Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden."