in die Esoterikabteilung eines Buchladens oder in das fettarme Kühlregal eines Supermarktes, dann merkt man, daß uns diese Unversehrtheit nicht reicht. Wir wollen noch unversehrter sein, so lieb und teuer ist uns ‑ zumindest der Idee nach ‑ der eigene Körper.
Die Beschäftigung mit unserer Gesundheit, der Kampf um die eigene Figur und der Abgleich mit den Körpern der Unterhaltungsindustrie zeichnen das Bild einer hoffnungslos eitlen und unterlegenen Konsumentengruppe, die aus Ermangelung einer besseren, absoluten Wahrheit von ganzem Herzen an das eigene Wohlbefinden glaubt.
Dieses Fehlen der besseren, absoluten Wahrheit führt aber noch lange nicht zum Fehlen der Absolutheit. Wo der gute Maßstab fehlt, wird eben das unmittelbar Erfahrbare, nämlich das eigene Wohlbefinden, absolut gesetzt. Der kleine Mensch baut sich seinen kleinen Maßstab, und wenn sich ausreichend viele dieser kleinen Maßstäbe finden, dann sollen sie doch bitteschön zu einem großen werden: Rauchverbote in Gaststätten, maßvolles Trinken, Helmpflicht für Radfahrer und Besteuerung ungesunder Nahrungsmittel, körperliche Unversehrtheit und immerwährendes Wohlbefinden allerorten – das Streben danach für alle anderen rechtfertigt das Ausmerzen der Facetten.
Diese vielen kleinen Menschen entblöden sich nicht, das Recht zu mißbrauchen, um ihre kleinen Maßstäbe in die Lebenswelten anderer zu zwingen, erst recht in die derer, denen ein großer Maßstab nicht fehlt. Dabei ist ihnen nichts zu billig, was sie wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Sonst würde sich die Ochlokratie des Internets nicht mit einem Potpourri an Ekelhaftigkeiten in die Kommentarspalten der Blogs und Online-Magazine erbrechen, wenn es um das religiöse Ritual der Säuglingsbeschneidung bei Juden und Moslems ginge.
Doch nicht nur der Pöbel mit seiner hoffnungs- wie ahnungslosen „Schwarmintelligenz“ probt den Aufstand. Auch solche Menschen, denen aufgrund ihrer formalen Bildungsnachweise vielleicht auch eine moralische Überlegenheit oder wirkliche Toleranz hätte unterstellt werden können (wie sehr hat sich meine pauschale Hochachtung vor Doktor- und Professorentiteln doch in Luft aufgelöst), sind sich nicht zu fein, ihre kleine Sicht der Dinge den Juden und Moslems aufzudrängen. Sie haben einen offenen Brief verfasst, den die FAZ mit „Religionsfreiheit kann kein Freibrief für Gewalt sein“ überschreibt. Wir erinnern uns: Es geht nicht um das Abhacken von Händen, sondern um die Beschneidung von Jungen.
„Kernpunkt ist die Abwägung der Grundrechte auf Religionsfreiheit von Erwachsenen mit dem Recht des Kinds auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung sowie die Achtung seiner Würde“, heißt es in dem Schreiben, und jedes dieser Wörter trieft nur so von Kleinheit. In ihrer armen Welt des Wohlbefindens tun sie so, als ob die Beschneidung nichts anderes wäre, als die Inanspruchnahme eines Erwachsenenrechts, welches der Staat eben gewähren oder entziehen darf. Sie tun so, als ob ein Kind ohne Vorhaut versehrt wäre. In dieser Kleinheit kommen sie nicht mal auf die Idee, daß dem Kind auch etwas fehlen könnte, wenn es unbeschnitten bliebe.
Und der für ihre Argumentation völlig überflüssige Hinweis auf die sexuelle Selbstbestimmung (welcher Beschnittene wäre aufgrund der Beschneidung denn sexuell fremdbestimmt?), macht die Kleinheit umso mickriger, weil sie wegen ihrer verkappten Geilheit nicht nur ihre eigene sexuelle Freiheit, sondern gleich die aller Menschen ungefragt über die Religion der anderen setzen.
Die Lust am Eingriff in das Privatleben der anderen, welches kleine Menschen nicht verstehen und deshalb nicht gelten lassen wollen, ist eng verwandt mit dem Schnüffler- und Denunziantentum, das sich auf deutschem Boden immer wieder prächtig entfaltet. Kardinal Schönborn hat mit einigem Recht darauf hingewiesen, daß die Forderung nach einem Beschneidungsverbot mitnichten dem Wunsch nach Schutz islamischer und jüdischer Jungen entspringt, sondern dem nach Einschränkung des elterlichen Rechts, ihre Kinder nach eigenen Wertvorstellungen zu erziehen.
Diese kleinen Maßstäbe dieser kleinen Menschen bedingen einen überschnappenden Staat, der mit dem vermeintlichen Schutz individueller Rechte genau die Größen zu schwächen versucht, die wohl am meisten vor seinem Zugriff schützen: Familie und Religion. Doch diese sind halt auch die, welche jene Voraussetzungen schaffen, von denen der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt, die er selbst aber nicht garantieren kann.
Martin
Hier muss ich widersprechen:
Das Urteil des LG Köln, welches die Debatte ausgelöst hatte, ist juristisch hundert Prozent lupenrein. Es verwundert vielmehr, warum auf dem Boden des Grundgesetzes und seiner Menschenrechtsordnung nicht schon viel eher solch ein Urteil ergangen ist.
In diesem Zusammenhang ist es daher auch eher bedenklich, wenn eine Bundeskanzlerin diese Einwände mit dem spontanen Argument der "Komikernation" ins Lächerliche zieht, obwohl sie doch die formell mächtigste Person dieser Komikernation mit dieser komischen Rechtsordnung ist. Auch peinlich ist es, wenn ausgerechnet der Richterbund eine schnelle gesetzliche Regelung fordert, um nur ja nicht womöglich die Schreibtische voller "Beschneidungsakten" zu bekommen und am selben Tag dann ausgerechnet ein Beamter vom Bund deutscher Kriminalbeamter auf die absoluten juristischen Erstsemester- Basics hinweisen muss, dass ein einfaches Gesetz sich auch am Grundgesetz messen lassen muss und daher sicher keine Lösung für das "Problem" ist. Richter wollen also positivistisch "Durchentscheiden", sprich Abweisen können und der kleine Beamte macht auf die Grundrechte aufmerksam - soweit ist die Verkommenheit unter der Justiz also schon und niemand braucht sich daher zu wundern, wenn mal wieder etwas durch die Justiz am Grundgesetz entlang "zurecht gedengelt wird".
Aber egal, dass sind Nebenkriegsschauplätze:
Was der von mir ansonsten so geschätzte Herr Böker offenbar nicht sieht ist, dass es hier gar nicht darum geht, das Leute ihren Kleingeist auf höhere Ansichten einer wie auch immer gegebenen Transzendenz durch Beschneidung aufdrücken wollen, sondern dass es hier um Kernpunkte von Grundrechten geht und das hier jemand (die Eltern) über jemanden anderen (Kinder) unwiderruflich über körperliche Dinge entscheidet, obwohl keinerlei medizinische Indikation vorliegt und selbst wenn einen solche gegeben ist, man in den allermeisten Fällen heutzutage nicht zur "Vollbeschneidung" greifen muss.
Und da man mit 18 oder ggf. mit der Religionsmündigkeit (12 bzw. 14) sich dann immer noch beschneiden lassen kann, sehe ich hier das Grundrecht eines Nichtentscheidungsfähigen Kleinkindes absolut über dem "Brauch" und den "Riten". Das bei den alten Germanen akzeptierte Recht auf Kindstötung durch die Mutter kurz nach der Geburt wurde ja auch irgendwann aufgegeben und selbst Neuheiden fordern nicht ernsthaft, zu diesem zurückzukehren. Mädchenbeschneidung ist ebenfalls ein absolutes "Tabu".
Man könnte jetzt noch sehr viel zur Sinnhaftigkeit, den evtl. Folgen von Beschneidungen etc. ausführen - das meiste ist in den Debatten der letzte Tage schon gesagt worden und auch ich wiederhole oben die bekannten Kernargumente wieder, aber: Es geht nicht darum, dass man in einen wie auch immer gearteten "Bund", eine andere Lebenswirklichkeit eingreifen will, um quasi der "modernen Lebenssicht" mit allen Mitteln zum Durchbruch zu verhelfen. Es geht nur darum, Grundrechte in Abwägung zu bringen. Grundrechte, auf die sich jeder so gerne beruft und auf die keiner ansonsten so gerne verzichten will.
Und: Wenn schon eine lächerliche Ohrfeige einen den Kadi auf den Hals hetzen kann, warum dann ausgerechnet eine Beschneidung nicht?
Auf der anderen Seite kann man natürlich jetzt auch damit kommen und sagen, die Leute regen sich darüber auf, wenn ein kleines Häutchen abgeschnitten wird und über die Absaugung von tausenden von Föten aus dem Unterleib von Frauen regt sich keiner mehr auf und hier sagt der "Rechtsstaat" sophistisch: Rechtswidrig, aber nicht schuldhaft.
Aber: Vergleiche helfen der Veranschaulichung, können aber den Fall letztlich nicht entscheiden. Und wer A, also Grundgesetz sagt, der kann nicht so einfach zu B, wie Beschneidung von Nichteinwilligungsfähigen kommen.
Diesen Wertungswiderspruch kann man mit nicht so mir-nichts-dir- nichts auflösen - schon gar nicht damit, dass man sich darüber mokiert, dass eine Weicheigesellschaft sich offenbar vor ein paar kurzzeitig blutenden Babypimmeln gruselt.
Die Beschneidung ist ein Eingriff mit Folgen - so der derzeitige Wissenschaftsstand. Damit muss man also umgehen und seine Schlüsse ziehen.