In einem 2010 erschienenen Kaplakenbändchen habe ich mich an einer Art Archäologie der (Film-)Bilder versucht, die den Blick auf unsere Geschichte und Identität prägen und zum Teil auch verstellen.
Wer eine solche Mission unternimmt, ist nicht nur Schutt‑, sondern auch Minenräumer. Eine solche Mine ist etwa die Nazikeule, die immer dann hochgeht, wenn die Frage nach einer deutschen Identität gestellt wird, die über postnational akzentuierte Grundgesetz-Bekenntnisse und ähnliches hinausreicht. Je nach Gegenüber fällt die Antwort mal mehr, mal weniger elastisch oder dogmatisch aus. Es besteht jedoch allgemeine Einigkeit, daß man als Deutscher um eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts nicht herumkommt. Meine Zugangsweise ist hier vor allem die eines Psychologen der “Seelengeschichte” der Deutschen.
Aus dieser Sicht ist der in der “islamkritischen” Szene verbreitete USA/Israel-Surrogat-Nationalismus, der bezeichnenderweise immer in dieser keineswegs zwingenden Kombination auftaucht, eher ein psychologisches als ein politisches Phänomen. Ähnlich ist es vermutlich um das “Feindbild Muslim” bestellt, das über weite Strecken auch als Projektionsfläche für unbewältigte eigene Befindlichkeiten herhalten muß.
Das ist besonders auffällig in jener Rhetorik, die den Koran mit “Mein Kampf” und den Islam mit “Faschismus” gleichsetzt, und damit nicht nur einen “absoluten” Feind markiert, sondern auch eine deutsche Belastung aus der Vergangenheit gleich einem schwarzen Peter in die Gegenwart verschiebt. Daß dies so leidenschaftlich von Deutschen betrieben wird, die gleichzeitig einen “demophoben” Horror vor ihrem “Deutschsein” jenseits von “Grundgesetz”, “Freiheit” und “Verfassung” haben, sollte aufhorchen lassen. “Der KIimawandel, das ist der NAZI”, hörte ich einmal aus dem Mund eines besonders fanatischen Öko-Aktivisten. Das ist die Chiffre, die heute überall Geltung haben soll. “Der Islam” soll nun nach manchen Islamkritikern unser aktueller “Nazi” sein, und damit hätten wir Deutsche wohl die Chance, endlich wirklich zu den “good guys” aufzuschließen, indem wir den Faschismus “diesmal” stoppen.
Das ist besonders frappant bei Michael Stürzenberger: ebenso wie er von “Islamofaschisten” redet, die weltweit vom Griff ihrer “Gehirnwäsche”-Ideologie “befreit” werden müssten, spricht er von “Nazi-Deutschen”, die von den US-Amerikaner glücklich “befreit” wurden – und zwar nicht nur vom “Faschismus”, sondern, wie seine reflexartige Handhabung der Nazikeule und ‑mine zeigt, wohl auch von ihrer deutschen Identität überhaupt, die nur mehr in Form einer Art Wertebekenntnis erlaubt ist. Aber selbst in solchen Affekten drückt sich das eher dumpf erahnte als klar formulierte Gefühl aus, daß ein “Grundgesetz” dazu da sein sollte, das Eigene zu schützen, und nicht, es aufzulösen (zu welchem Zwecke es ja heute überwiegend ausgelegt wird).
Stürzenberger erweckt mit seinen Attacken gerne den Eindruck, islamische Länder per se wären voll mit gehirngewaschenen, fühllosen Dschihad-Robotern, die blindlings die Anweisungen des Koran in ihrer zugespitztesten Auslegung ausführen, und ihre Staaten allesamt finstere hypertotalitäre Maschinen, die auf “den Westen” und die Welteroberung zurollen. Das erinnert frappant an das Bild, das die US-Propaganda im Zweiten Weltkrieg von Deutschland zeichnete, besonders eindrücklich auf den Punkt gebracht in der Disney-Produktion “Education for Death” (1943).
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Ein ähnlich krass übertriebenes Bild zeichnete auch der zur Schulung von Besatzungssoldaten produzierte Film “Your Job in Germany” (USA 1946), geschrieben von dem deutschstämmigen Kinderbuchautor Theodore “Dr.” Seuss, der auch für einige besonders perfide Propagandacartoons verantwortlich zeichnet – etwa den, der die Internierung von US-Japanern in Konzentrationslagern rechtfertigt.
Die Deutschen erscheinen in diesem Film als eine Rasse von hochmütigen, unmenschlichen und gehirngewaschenen Quasi-Werwölfen, deren “Taqqiya” man nicht vertrauen könne, und denen man erst mühsam “Demokratie” und Humanität einkloppen müsse. Die an das deutsche Publikum selbst gerichteten “Re-Education”-Filme verzichteten verständlicherweise auf solche direkten Diffamierungen und setzten stattdessen wie “Die Todesmühlen” (1946) von Hanuš Burger und Billy Wilder auf Schockeffekte.
Beide Ansätze waren Phänomene der Übergangszeit: die US-Soldaten “fraternisierten” sich natürlich schnell mit der deutschen Bevölkerung, während des hungernde und erschöpfte, vor der Aufgabe des Aufbaus stehende Nachkriegspublikum für schlechtes Gewissen wenig Zeit und Energie hatte. Subkutan hat sich das “Image”, das Filme dieser Art und ihre Nachfolger erzeugten, in gefilterter Form durchgesetzt. Heute ist es weitgehend zum Allgemeingut geworden, tief eingesunken in das kollektive Bewußtsein und Unterbewußtsein der Deutschen, und es beeinflußt in erheblichem Maße sowohl die Rhetorik der “politisch Korrekten” als auch, wie der Typus Stürzenberger zeigt, die Rhetorik der (vermeintlich) “politisch Inkorrekten”.
Die Lebenswirklichkeit des Dritten Reiches hatte nun natürlich nur wenig Ähnlichkeit mit “Education for Death”. Hans Dieter Schäfer hat dieses Zerrbild in seiner fundamentalen Studie “Das gespaltene Bewußtsein” (1981) nachhaltig korrigiert. Es sticht jedenfalls ins Auge, daß die unter Goebbels produzierten und weitgehend ideologiefrei gehaltenen Unterhaltungsfilme keineswegs “blonde Bestien”, Parteisoldaten, Sozialdarwinisten oder Wille-zur-Macht-Rassenfanatiker zeigten, sondern normale, friedliche, humane Alltagsmenschen. Selbst wenn Wehrmachtsoldaten die Hauptrollen spielten wie in “Wunschkonzert” (1940) und “Zwei in einer großen Stadt” (1941), waren sie alles andere als martialische, blutrünstige Herrenmenschen. In diesen Figuren erkannten sich die Deutschen der NS-Ära wieder, nicht in den Klischeebildern der Propaganda der Kriegsgegner, die sie abwechselnd als unterdrückte Opfer und als fanatische Befehlsautomaten zeigte.
Im selben Jahr wie “Education for Death” produzierte Samuel Goldwyn den pro-sowjetischen Film “The North Star”, der Rußland als eine rustikale Idylle mit fröhlichen Bauern zeigte, die aus heiterem Himmel von sadistischen Nazi-Invasoren überfallen werden. Während an der Ostfront unbeschreibliche Massaker verübt wurden und die Vernichtungslager im besetzten Polen auf Hochtouren liefen, sah das deutsche Publikum Filme wie “Immensee” und “Münchhausen”. Während die Japaner in der Mandschurei und anderen chinesischen Gebieten grausam wüteten, um “Lebensraum” zu schaffen, und von der amerikanischen Propaganda als militaristische Untermenschen dargestellt wurden, drehten Yasujiro Ozu und Mikio Naruse ihre liebenswürdigen Tragikomödien über kleinbürgerliche japanische Familien. Mitten im finstersten stalinistischen Terror filmten Boris Barnet und Grigori Aleksandrow leichtfüßige Komödien wie Am blauen Meer (1936) und Wolga-Wolga (1938).
All diese Filme spiegeln Bereiche der Lebenswirklichkeit wieder, die neben und mit den “Schinderhütten” (Jünger) der politischen Systeme existierten. Daß das möglich ist, ist eben Teil der conditio humana, und daran sollte man immer denken, bevor man wieder einmal meint, das absolut Böse lokalisiert zu haben.
Nicht direkt vergleichbar, aber auf einer verwandten Ebene angesiedelt, ist die Erfahrung, die man mit dem iranischen Film machen kann. Wer das vorwiegend düstere Bild verinnerlicht hat, das im Westen vom Iran dominiert, wird keine geringen Überraschungen erleben, wenn er zum ersten Mal Filme von Abbas Kiarostami oder Mohsen Makhmalbaf gesehen hat, besonders, was die tatsächliche gesellschaftliche Rolle der Frauen betrifft, die trotz ihrer Kopftücher selbstbewußt und selbständig agieren. Freilich werden auch im Iran islamistische Propagandaschwarten gedreht und mit der Freiheit von Künstlern und Schriftstellern steht es nicht immer zum Besten. Aber das Gesamtbild läßt keine Schwarz-in-Schwarz-Malerei zu. Und die sollten wir uns generell abgewöhnen, was gerade in Bezug auf die unsere deutsche Vergangenheit eine heilsame Wirkung haben kann.
Obwohl es als “identitäre Rechte” unser Job ist, dem Universalismus ein Gegengewicht zu bieten, sollten wir nicht jene Dinge aus den Augen verlieren, die tatsächlich menschlich-universelle Geltung haben. Auch in anderen Gesellschaftsordnungen und Kulturen geht es letztlich um die Bewältigung derselben Dinge: Liebe, Tod, Familie, Überleben, Glauben, soziale Anerkennung. In Ozus tief bewegenden Familiendramen aus den 30er bis 60er Jahren kann man auch als Westler mühelos den eigenen Vater, die eigenen Geschwister und den eigenen Ehepartner wiederfinden. Einen kristallklaren, scheinbar einfachen Meisterfilm wie Kiarostamis “Wo ist das Haus meines Freundes?” (1987) kann man auf der ganzen Welt lieben und verstehen. Gedreht wurde er aber ursprünglich für ein iranisches Publikum, das sich darin wiedergefunden hat, wie der Erfolg in seinem Heimatland bestätigt.
Es sind auch solche Filmerfahrungen, die mich allergisch gemacht haben gegen allzu pauschale Urteile und krasse Vereinfachungen, egal auf welcher Ebene. Das ist das Doppelgesicht der Filmkunst: sie ist ebenso imstande, “All-Gemeinheiten” zu produzieren und zementieren, wie sie aufzubrechen.