Die Lektüre eines Buchs mit einem Traum zu vergleichen, der im Schlaf eine absolute Erfahrung war, im Wachen aber nurmehr ein undeutlicher Gedanke ist, mag kokett oder abwegig erscheinen. Und doch sehe ich kein anderes Bild, das sich mehr anbieten würde, wenn ich an die zwei außerordentlichen Wochen meiner Lektüre des jüngsten Buchs von Martin Lichtmesz denke.
Würde mich einer fragen, was ich aus dem Werk, und sei es nur aus einzelnen Kapiteln, erfahren und gewonnen habe, könnte ich (womöglich) Inhalte referieren. Doch wüßte ich, daß wie bei den meisten Traumerinnerungen eines fehlte: der ganz besondere Verlauf, der unwiederholbare Duktus des Traums, mit dem er seine Inhalte aufeinander folgen und einen aus dem anderen hervorgehen ließ. Oft habe ich in solchen Fällen das Gefühl, daß die Essenz des Mitgeteilten gerade in der Weiträumigkeit des zurückgelegten Parcous liegt, mehr noch als in der einzelnen Etappe.
Lichtmesz nennt sein Buch „das Protokoll einer persönlichen Reise, eine Wanderung durch einen ‚Wald‘, deren Ausgang zu ihrem Beginn noch nicht feststand“. Und weiter: „Mir blieb auf dem Weg nichts anderes übrig, als einen Baum nach dem anderen so zu beschreiben, wie in mein Blickfeld geriet; ich hoffe, daß am Ende zumindest der Umriß des weiten labyrinthisch durchsetzten Gebietes erkennbar geworden ist.“ Ganz abgesehen davon, daß sich seine Hoffnung beeindruckend erfüllt (je länger die Wanderung währt, je weiter man kommt, desto deutlicher wird das durchstreifte Gelände in seiner Größe, Abgründigkeit und Drastik), beschreibt die Metapher genau genommen den tatsächlichen Weg, den nicht allein der Autor, sondern – in einer staunenswerten, fast magisch anmutenden Analogie – auch sein Leser einschlägt.
Wenn Lichtmesz in einem Kapitel etwa von einigen Szenen eines Films von Robert Bresson ausgeht, von diesen auf die Frage kommt, wie ein Mensch in Zeiten der Auflösung des corpus mysticum sich noch metaphysisch verorten kann, von dieser auf eine Prophezeiung des Staatstheoretikers Juan Donoso Cortés, davon wiederum zu dem seltsamen Schlag Menschen, die heute zu Widerständlern, Subversiven, Dissidenten und Sezessionisten werden, und schließlich zu zwei Studien von Colin Wilson, welche eine Assoziation zu einigen Gedanken von Charles Péguy herstellen … dann sind dies die „Bäume“, die sich auf einem Teilbereich seines „Waldgangs“ auftun.
Der Witz (und für mich die größte Leistung des Buchs) ist jedoch, daß all diese Quellen, die an sich freilich unverbunden sind, fernab jeder Willkür als vollkommen ineinander verschränkt erscheinen. Wie auch im Traum die Bilder und Ereignisse nicht bloß aneinandergereiht sind, sondern eins sich aus dem anderen entpuppt – wobei der Verlauf als eigenständige Qualität immer spürbar bleibt, das Einzelne nie ohne das Ganze auf uns wirkt –, erscheint das „Material“, das Lichtmesz benutzt, wie von einem geheimen inneren Atem beseelt zu sein, das es in fragloser Konsequenz aneinanderfügt (so als wäre es das schon immer gewesen).
Auch der Leser, ähnlich dem Träumer, wird davon ergriffen, staunt über alles, aber wundert sich über nichts. Wie Lichtmesz es dazu gebracht hat? In der „Kulturkritik“-Nummer der Sezession sagte er an einer Stelle beiläufig, er gehe „von einer Ebene der Intensität“ aus. Ich könnte mir vorstellen, daß dies bereits der Schlüssel ist. In der Intensität entwirft der Ergriffene eine Art Bild, in dem alles enthalten ist: das was war, das was ist und was sein wird, die Geschichte der Vergangenheit und die der Zukunft, die Dinge, die wir besessen haben und die wir besitzen werden, all dies erwartet uns irgendwo in seinem unruhigen Labyrinth. Nehmt ihr, die eintretet, eure Hoffnungen nur mit – sie werden nicht enttäuscht werden.
Noch ein Wort zur Buchgestaltung: hier hat sich die von Antaios beauftragte Werkstatt mal wieder übertroffen. Durch die verschiedenen Lichtwerte des Grau, das sich überall findet (auch auf dem Vorsatz) erscheint nicht nur das Umschlagfoto, sondern letztlich das ganze Buch in erlesenem Schwarzweiß. Ein zutiefst schöner und treffender Effekt.
Demiurg
Eine sprachlich sehr schöne Rezension. Allerdings fehlen doch gerde die Punkte, die man diskutieren muss, wenn der "Traum" langsam als solcher erkannt wird.