Die ursprüngliche Märtyrerlegende dürfte damit endgültig erledigt sein: demnach sei die 22jährige Tuğçe Albayrak heldenhaft eingeschritten, als eine Gruppe bosnischer Machos zwei junge Mädchen auf der Damentoilette eines McDonald’s‑Restaurants in Offenbach belästigten. Diese “Zivilcourage” habe sie teuer bezahlt: einer der Rädelsführer, Sanel M., habe ihr auf dem Parkplatz “aufgelauert” und sie gezielt aus Rache erschlagen.
Die Internetplattform change.org startete daraufhin eine Online-Petition, in der das postume Bundesverdienstkreuz für Tuğçe gefordert wurde (bis dato “299.835 Unterstützer/innen”). Dies geschah bevor der Tathergang auch nur annähernd geklärt war; meine These ist, daß der Rummel sich vor allem einem aufschlußreichen, kollektiv-seelischen Bedürfnis nach einer “Integrationsheiligen” verdankt.
Laut Spiegel ist also in Wahrheit folgendes passiert:
* Die beiden belästigten Mädchen, “Zeugin A” und “Zeugin B” hatten sich auf dem Fußboden der Toilette platziert, wo sie etwa eine Stunde herumsassen. Sanel und zwei Freunden, allesamt schon einigermaßen angeheitert, bemerkten sie, betraten die Toilette und begangen massiv zu baggern, bis es den Mädchen zu blöde wurde, und eine schrie “Geht raus!”
Zeugin A. zur Polizei: “Ja, das sei nervig gewesen, aber nein, die Jungs hätten ihnen nichts getan, sie nicht angefasst”. Frage an Zeugin B.: Hattet ihr Angst?
“Ein bisschen”, aber nicht so, dass sie gedacht hätten, sie kämen nicht mehr heil aus dem Raum, wenn ihnen keiner mehr helfe. Frage: Hat sie der Vorfall hinterher noch sehr beschäftigt? Nein, sie hätten das schnell vergessen. Nichts Großes also.
* Kurz danach kommt
Tuğçe mit zwei Freundinnen herein – sie hat oben an ihrem Tisch den Ruf „Geht raus“ gehört. Tuğçe, das erklärt eine ihrer Freundinnen später der Polizei, sei immer eine von denen gewesen, die sich vor die anderen gestellt, Verantwortung übernommen, sich nichts hätte gefallen lassen. Nach übereinstimmenden Aussagen mehrerer Zeugen herrscht Tuğçe die Jungen an, sie sollten sich „verpissen“, das hier sei das Mädchenklo, sie hätten hier nichts zu suchen.
* Die Jungs reagierten dementsprechend gereizt, mußten aber klein beigeben, weil Tugçe
Zeugin B. erzählt, dass die Jungen nun Tuğçe angeblafft hätten. Sie solle doch das Maul halten, von ihr lasse man sich gar nichts sagen. Aber zwei kräftig gebaute Afghanen, die zufällig vom Männerklo kommen, klären die Machtverhältnisse, zwingen die Jungen zum Rückzug. Zeugin B. sagt, Tuğçe habe sie dann noch gefragt, ob alles „o. k.“ sei. Ja, alles o. k. Dann seien auch Tuğçe und ihre Freundinnen wieder gegangen.
* In der nächsten Eskalationsstufe hätten sich Aussagen einer Freundin von Tuğçe die “Tuğçe-Gruppe und die Sanel-Clique” gegenseitig beleidigt.
* Kurz danach verlassen die Mädchen das Restaurant, bleiben aber noch eine Weile auf dem Parkplatz stehen. Einige Minuten später stehen die Jungs vor ihnen und beginnen weiter zu schimpfen. Die Mädchen schimpften zurück, “vor allem Tuğçe und zwei andere.”
Die könnten halt auch nie so richtig “die Klappe bei so was halten”. Auch Tuğçe hatte getrunken. Nicht viel, im Blut 75 Milligramm Alkohol pro Deziliter, per Faustformel könnte das einen Wert von 0,6 Promille ergeben, durchaus etwas weniger, etwas mehr. Aber vielleicht genug, um nicht jeden Satz abzuwägen. Dass ein Wort das andere ergab, nichts davon jugendfrei, bestätigt eine zweite Frau aus dem Tuğçe-Kreis.
* Nun kommt die entscheidende Szene, die man auch im Überwachungsvideo gut erkennen kann: Sanel M. hatte sich bereits vom Schauplatz entfernt und war auf dem Weg zum Auto eines Freundes, um wegzufahren. Da habe ihm Tuğçe hinterhergerufen: “Halt die Klappe, kleiner Hurensohn!” Daraufhin ist Sanel umgekehrt und wutentbrannt auf die Gruppe zugestürzt. Nun kam es zu dem Gerangel, an dem Tuğçe mitbeteiligt war.
* Was der Spiegel nicht erwähnt, kann man meines Erachtens in dem Video ziemlich eindeutig erkennen: nach dem Gerangel kämpft Sanel mit einem seiner Freunde, der ihn bereits vorher zu bremsen versuchte und der ihn offenbar zur Raison bringen will. Tuğçe ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Gruppe, ja sie verläßt gezielt die Deckung hinter einem Auto, drängt sich an einer danebenstehenden Person vorbei und fährt aktiv zwischen die beiden streitenden jungen Männer. Da erwischt sie der tödliche Schlag.
* Was bis dahin passiert ist, ist für die Verhältnisse dieses Stadtteils von Offenbach keineswegs ungewöhnlich. Ein Freund, der aus der Gegend stammt, erzählte mir, daß er sich nur zwei Wochen nach dem Tod Tuğçes in demselben McDonald’s‑Restaurant aufhielt, und erleben mußte, wie ein einziger, mit einem Messer bewaffneter junger Ausländer die Belegschaft und die Kunden terrorisierte, fünfzehn bis zwanzig Minuten lang, bis die Polizei kam. Bis dahin habe sich die Szene wie eine Geiselnahme angefühlt.
Tuğçe hatte tragisches Pech: dem rechtsmedizinischen Gutachten nach erfolgte der tödliche Schädelbruch nicht an der Seite des Kopfes, wo sie der Schlag Sanels getroffen hatte. Vermutlich hat sich beim Sturz der dreieckige Anhänger, den Tuğçe am linken Ohr trug, in eine empfindliche Stelle ihrer Schädeldecke gebohrt.
Keine Heldengeschichte also, sondern ein Streit zwischen betrunkenen Jugendlichen “mit Migrationshintergrund”, in dem beide Seiten die Eskalation nach Kräften befördert haben.
Angesichts dieser Faktenlage kommt auch beim Spiegel das große Erwachen:
Ein Gerichtsprozess ist allerdings keinem Idealbild verpflichtet, nur der Wahrheit. Er muss nicht den Wunsch der Öffentlichkeit bedienen, die Chancen und Probleme des Einwanderungslandes Deutschland auf zwei idealtypische Figuren herunterzubrechen, Gut gegen Böse. Er muss aufklären, was wirklich passiert ist. Und die Wirklichkeit ist dann doch nur selten so einfach wie die Wunschvorstellung davon. Das zeigen nun auch die Ermittlungsakten des Falls.
Der scharfsinnige Blogger Hadmut Danisch, dem wohl das Verdienst zukommt, das via BILD-Zeitung verbreitete Video als erster wirklich kritisch gesichtet zu haben, sieht darin geradezu so etwas wie ein Eingeständnis seitens der “Lügenpresse”:
Stopp!
Zurückspulen und den Absatz nochmal lesen. Ganz langsam.
Was steht da?
Gerichtsprozess Presse Wahrheit Idealbild Aufklären, was wirklich passiert ist Wunsch der Öffentlichkeit bedienen Wirklichkeit Wunschvorstellungen Heißt: Die Presse habe gar nicht mehr die Aufgabe, irgendwas mit Wahrheit zu schreiben oder zu recherchieren. Es heißt, die Presse lügt, darf lügen, muss lügen, weil sie sich – im Gegensatz zu einem Gericht – nicht um Wahrheit oder Aufklärung scheren müsse, sondern darum, was der Leser eben lesen, hören will.
Oder um es deutlicher zu sagen: Was der Leser kaufen will.
(Viele) Journalisten sind heute offenbar der Meinung, dass es (heute) Eigenschaft, Recht und Aufgabe der Presse sei, einfach das zu schreiben, was sich verkauft, und das möglichst als erster um am meisten zu verkaufen. Das Volk mit den Märchen zu beliefern, an denen es interessiert ist.
Die sinkenden Umsätze lassen jegliche Seriosität, jegliche Pressepflichten in Vergessenheit geraten, es geht nur noch darum, was sich noch verkaufen lässt. Erinnert an die Regenbogenpresse, die auch wild draufloslügt, aber gerade damit die größten Umsätze macht.
Einer verlogenen Presse, die sich quasi prostituiert und auf dem Straßenstrich, pardon, am Zeitungskiosk alles anbietet, was nachgefragt wird, steht ein Volk gegenüber, das nicht mehr an Wahrheit und Aufklärung interessiert ist, sondern nur noch erwartet, dass schwülstige Klischees bedient werden.
Wie gesagt: Es wäre wichtig, zu ergründen, warum ein solches Bedürfnis nach diesen “schwülstigen Klischees”, und zwar gerade diesen, besteht.
Der Gutmensch
(...) dem rechtsmedizinischen Gutachten nach erfolgte der tödliche Schädelbruch nicht an der Seite des Kopfes, wo sie der Schlag Sanels getroffen hatte. Vermutlich hat sich beim Sturz der dreieckige Anhänger, den Tuğçe am linken Ohr trug, in eine empfindliche Stelle ihrer Schädeldecke gebohrt.
Ich will ja nicht nörgeln, aber woher will der Spiegel denn wissen, ob der Schädelbruch tödlich war? Die Geschichte mit dem Ohrring soll inzwischen auch wieder vom Tisch sein. Womöglich war das rechtsmedizinische Gutachten schlicht inkonklusiv. Wenn sich wenigstens darauf verlassen könnte, dass die Presse lügt ...
M.L.: Das ist das aktuelle Gutachten der Gerichtsmediziner, und daher "weiß" der Spiegel das.