Der inzwischen an mehreren Orten publizierte Briefwechsel zwischen ihm und Götz Kubitschek war Anlaß des Artikels auf le Bohémien, auf den ich hier antworte.
Nassehi hat inzwischen ein wenig den seligen Mathias Brodkorb (falls sich noch jemand an diese Golden Days erinnert) in der Rolle des “Neue-Rechte-Verstehers” abgelöst und gilt manchen als der große argumentative Nußknacker, etwa diesem Autor der FAZ, der den Briefwechsel als “Sternstunde der Aufklärung” bezeichnete und jubelnd den Endsieg verkündete:
Nach Lektüre dieses ebenso intelligent wie respektvoll geführten Schlagabtauschs lässt sich ziemlich genau nachvollziehen, wo der denkerische Weg Kubitscheks zum Holzweg wird.
In Wahrheit ist es natürlich so: Diejenigen, die so denken wie Kubitschek, glauben, er habe die Partie gewonnen, und diejenigen, die so denken wie Nassehi, glauben, er habe gewonnen. Am Ende sind sie beide nur an dem üblichen Sackgassenpunkt des „Ich-seh-etwas-was-du-nicht-siehst“-Spiels zwischen Linken und Rechten angelangt. Die Wirklichkeit steht auf unserer Seite! Steht die Wirklichkeit auf unserer Seite?
(Indes hat sich Nassehi – wie weiland Brodkorb – auch bei einigen Linken schwer unbeliebt gemacht, dieser Netzfund etwa hat mir ein wenig den Abend versüßt.)
Um nun aber beim Thema zu bleiben, in seinem ironisch betitelten Buch “Die letzte Stunde der Wahrheit” bietet Nassehi eine simple Formel an, um das rechte Prinzip auf einen Nenner zu bringen:
Wenn man das Rechte auf einen Begriff bringen will, dann ist es eine merkwürdige Konstellation von Gleichheit und Ungleichheit, nämlich Gleichheit nach innen und Ungleichheit nach außen.
Da frage ich mich gleich als erstes, wieso Nassehi eine solche Konstellation für “merkwürdig”, und zweitens, wieso er sie für spezifisch “rechts” hält. Diese Formel scheint mir vielmehr konstitutiv für jegliche Art von Gruppenidentität zu sein. Das hat sogar der Verfasser dieses Neue-Rechte-für-Dummies-Guides auf Krautreporter en passant kapiert:
Das klingt sehr abstrakt, er meint damit aber eigentlich etwas sehr Einfaches: dass wir Menschen uns mit anderen Menschen zusammentun, die uns ähneln und die wir deswegen als ebenbürtig oder eben als uns gleich empfinden. Menschen, die uns nicht ähneln, können nicht Mitglied dieser Gruppe werden.
Na eben. Das versteht jede Schulhofbande. Man mache einmal das umgekehrte Gedankenexperiment und frage sich, wie denn eine Gruppe beschaffen sein muß, die auf “Ungleichheit nach innen und Gleichheit nach außen” basiert. Ich für meinen Teil kann mir derartiges jedenfalls nicht vorstellen. Und eine Gruppe, die einzig und allein auf Gleichheit oder Ungleichheit nach innen wie außen aufbaut, würde logischerweise aufhören, eine zu sein. Sie würde sich entweder in einen Haufen Individualisten auflösen, oder nach außen zerstreuen, und ihr weiteres Schicksal entscheidet sich je nachdem, ob sie da draußen auf andere Gruppen stößt, die sie als Ungleiche ablehnen oder als Gleiche akzeptieren.
Der Einwand wird auch in dem “Neue-Rechte”-Guide aufgeworfen:
Moment mal! Borussia-Dortmund-Fans, Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr und des Lesezirkels, die ähneln sich ja auch – sind die etwa alle rechts?
Natürlich nicht. Der Bezug ist entscheidend. Fan von einem bestimmten Fußball-Verein zu sein, wirkt sich nicht darauf aus, wie ich die Welt politisch sehe. Aber wenn ich mich stark mit meinem Deutsch-Sein identifiziere schon. Kultur und Ethnie, kurzum die Herkunft, sind Dinge, die das Denken von Rechten sehr stark beeinflussen.
Damit wären wir einen, wenn auch nicht sehr befriedigenden, Schritt weiter gekommen. Es ist klar, daß eine Gruppe, die sich in einem Wettbewerb oder frei nach Armin Mohler in einem “Agon” mit anderen Gruppen befindet, als Brennstoff ihrer Raison d’être einen gewissen “Patriotismus” braucht, um zu bestehen, sich durchzusetzen und in Form zu halten. Fußballvereine sind dafür klassische, harmlose Beispiele: sie sind für ihre Anhänger oft so etwas wie Surrogat-Nationen und vorpolitische Simulakren, und die Fußballspiele symbolisch ausgetragene, unblutige Kriege, ritterlich geregelt wie die Kabinettskriege des Absolutismus, dabei enorme Emotionen (und Agressionen) auslösend und befriedigend.
Das Beispiel zeigt uns jedoch, daß auch die Formel “Gleichheit nach innen” zu einfach ist. Auch innerhalb der Schulhofbande sind nicht alle gleich, gibt es Anführer und Sidekicks, Hierarchien und Rollenverteilungen. Wie ich bereits im ersten Teil dieses Beitrags angedeutet habe, sind Gleichheit und Ungleichheit Relationsbegriffe und nicht etwa starre Kategorien. Sie modellieren unser Dasein in komplexen Schichten, wie einander ergänzende und wechselseitig stützende konkave und konvexe Wölbungen.
So auch im Fußballverein und den mit ihm verbundenen Fanclubs: hier gibt es augenfällig Tiere, die “ungleicher” sind als die anderen, und von denen man geradezu erwartet Ungleiche, “Stars”, zu sein, also die aktiven Sportler, die Mannschaft, die alle Schlachten schlägt, und um deren Kampf und Agon sich die ganze Veranstaltung überhaupt dreht. Und auch hier gibt es wiederum Hierarchien: einen Trainer als General etwa und die Spitzenstürmer als die Alphatiere und Aushängeschilder des Vereins, dessen Ruhm sie mehren.
Ähnliche Hierarchien gibt es auch in den Fanclubs, allerdings steht hier vor allem, insbesondere während der Spiele, das rauschhafte Massenerlebnis, Gleicher unter Gleichen zu sein im Mittelpunkt (ein Hochgefühl, das nicht zuletzt dadurch befördert wird, daß auf der anderen Seite der Zuschauerreihen die Ungleichen, die gegnerischen Fans sitzen), und gleichzeitig am Ruhm ihrer Stars, ihre Hektore und Achilles, teilhaben zu können und sich ihnen damit auch wieder ein bißchen gleichzustellen.
Das sollte einstweilen genügen, um zu verdeutlichen, daß niemals von Gleichheit oder Ungleichheit, sondern immer von Sowohl-als-auch die Rede sein kann. Es ist also gar nichts “Merkwürdiges” an dieser Konstellation. Mit Norberto Bobbio könnte man nun sagen, daß die Linke das Schwergewicht auf die Gleichheit, die Rechte auf die Ungleichheit legt.
Beide kennen und fürchten Formen der Tyrannis der radikalisierten Ungleichheit oder Gleichheit: ein klassischer, bis ins alte Rom und Athen zurückreichender konservativer Impuls ist die Abscheu vor der Masse, der Herde, dem Kollektiv, dem Pöbel und anderer demokratischer Mobilisierungseinheiten, die von Neid, Ressentiment, Rachsucht getrieben werden, und auf ihrem Weg alles plattzumachen und auf ihr Niveau herunter zu zerren versuchen.
Besonders schön hat das Stefan George dargestellt (Martin Sellner und ich können das Gedicht auswendig):
Larven aus faulenden hirnen gekrochen
Sind nun ins leben hereingebrochenBreiten sich dreist über alle gassen:
›Das reich ist unser: wir kommen in massen.Der geht noch aufrecht – reisset ihn um
Der hat noch ein antlitz – zerret es krumm!Der schreitet noch – er schleiche und hinke
Der schaut noch – macht dass er schiele und zwinke!Kein arm: wir brauchen nur taster und greifer
Kein blut: wir brauchen nur gallert und geifer.Hinweg mit seelen mit höhen und himmeln
Wir brauchen nur staub: wir die kriechen und wimmeln.‹
Etwa solche Bilder tauchen auf, wenn man als Rechter das Wörtchen “Gleichheit” hört. Das mag einem übertrieben erscheinen, jedenfalls sollte sich spätestens seit Nietzsche herumgesprochen haben, daß sich auch hinter der Forderung nach Gleichheit ein Macht‑, Kontroll‑, Ausbeutungs‑, Herrschaftswille größeren Stils verbergen kann – und seit Orwell, daß zu böser Letzt doch immer manche Tiere gleicher sind als andere.
Gewiß gibt es auch, apropos Nietzsche, innerhalb der rechten Denkfamilie Strömungen, wie sie etwa in den Faschismus gemündet sind, die die Macht als Macht verherrlichen, wobei wohl einiges davon auch eine Reaktion auf die Heucheleien der Linken gewesen sein mag, die ihren Willen zur Macht besser zu tarnen versteht. Und dann gibt es noch Dostojewskijs Großinquisitor, Joseph de Maistre oder Dr. Zaius aus dem alten “Planet der Affen”-Film, die sich alle darin einig sind, daß es dem Glück der Menschen dient, wenn sie in Unfreiheit und Unwissenheit und unter einer elastischen autoritären Kontrolle gehalten werden, wofür sie äußerst gewichtige und beunruhigende Argumente ins Feld zu führen wissen.
Ähnlich gelagert wie die Diskussion um die Freiheit ist jene um die “Homogenität”, die nicht minder mißverstanden wird wie die “Ungleichheit”. Hier zeigt sich die kuriose Tatsache, daß Linke die “Gleichheit” preisen, die “Homogenität” allerdings abhorreszieren, obwohl beide Begriffe eng miteinander verwandt sind, wenn nicht gar im Kern synonym. Bei Rechten ist es genau umgekehrt: “Gleichheit” ist schlecht, “Homogenität” gut, meistens als ethnisch-kulturelle Homogenität verstanden (dies widerspricht nicht dem bisher Gesagten, sondern bestätigt es vielmehr).
Auch die “Homogenität” ist – als Form der “Gleichheit” – ein relativer, in Relation stehender, in Schichtungen und Gradabstufungen wirksamer Begriff. Wenn wir Rechte etwa von “ethno-kultureller Homogenität” sprechen, dann meinen wir nicht ein “rassereines” Volk oder einen Staat, in dem alle gleich denken und gleich aussehen und auf die gleiche Weise “deutsch” sind wie jeder andere. Das wäre natürlich absurd.
Das “Homogene” ist wie im Fußballverein oder sonst einer Gruppierung all dies, was durchaus heterogene Gruppen zu einer Einheit, zu einer Interessens- und “Schicksalsgemeinschaft” zusammenfaßt, und dies können Momente geographischer, kultureller, religiöser, sprachlicher, rassischer/ethnischer Natur sein. Vorausgesetzt, daß für diese Gemeinsamkeiten auch ein starkes und emotional tiefreichendes Bewußtsein vorhanden ist, das eine gemeinsame Identität und eine übergreifende Solidarität erzeugt, die den Wettbewerb und die Ungleichheiten im Inneren abfedert und ausgleicht.
Auch das kann immer nur ein relativer, sich in stetiger dynamischer Bewegung befindlicher Zustand sein. Die heterogenen Momente unter dem homogenen Dach haben immer wieder die Tendenz, die erlangte relative Homogenität zu sprengen, und wieder neue, eigene Einheiten zu bilden. Darum bezeichnete der französische Philosoph Raymond Aron – auch er ein bedeutender Kopf des rechten Spektrums – den kulturell homogenen Nationalstaat als das “politische Meisterwerk” par excellence, mitunter als ein Gebilde, das sich keineswegs von selbst versteht, das einer Anstrengung und einer Willensleistung bedarf, das aber, wenn es gelingt, eine überaus stabilisierende Wirkung entfalten kann. In der Tat ist der im 19. Jahrhundert begründete Nationalstaat in Europa immer noch die gängige politische Einheit; die Nationen (also die Völker und ihre historischen Narrative) die ihm zugrunde liegen, sind freilich viel älter.
Die Einheit in der Vielheit (benutzen wir nicht das orwellianisch kontaminierte Wort “Vielfalt”), die Balance von Gleichheit und Ungleichheit – das ist in der Tat eine Frage der politischen Meisterschaft, und gelingt selten genug. Blaise Pascal bemerkte in den Pensées:
Die Vielheit, die sich nicht zur Einheit zusammenschließt, ist Verwirrung, die Einheit, die nicht von der Vielheit abhängig ist, ist Tyrannis.
Inwiefern ein solcher von Aron gepriesener Nationalstaat auch “ethnisch homogen” sein muß, um zu funktionieren und stabil zu bleiben, ist auch im rechten bzw. konservativen Spektrum ein Streitpunkt. (Übrigens, freundlichen Gruß an Herrn Lichtschlag, ein ethno-kulturell weitgehend homogener Staat ist immer auch ein Staat mit weniger Staat und weniger Polizei, wogegen “diversity” und Multikulturalismus aufgrund der darin enttstehenden Konflikte den Staat, insbesondere den Überwachungs- und Gesinnnungsstaat, erheblich anwachsen lassen, wie wir ja momentan deutlich beobachten können. Darum fände ich es logisch und in ihrem eigenen Interesse, wenn auch Libertäre die ethnisch homogene Nation unterstützen würden. Millionen von eingewanderten Hispanics in den USA stimmen nicht für Trump oder Ron Paul selig, sondern für Obama und Sozialstaatalimentierung.)
Auch bezüglich der “ethnischen Homogenität” gibt es, wie gesagt, eine Menge Mißverständnisse. Ich kann das Thema an dieser Stelle wieder nur skizzieren, und zitiere darum mich selber aus meinem Büchlein “Die Verteidigung des Eigenen”:
Der Konservative weiß um die historischen, biologischen und räumlichen Faktoren, die das Entstehen und den Erhalt von »Mannigfaltigkeit« überhaupt erst bedingen. Und er weiß auch, daß es keineswegs der Zufuhr fremder Ethnien oder Religionen bedarf, um eine Nation oder ein Volk »vielfältig« zu machen. Die Behauptung, ethnische Homogenität und »Vielfalt« würden einander ausschließen, ist blanker Unsinn, es sei denn man reduziert den Begriff unzulässig aufs Ethnisch-Rassische, wie es gerade die Antirassisten ständig tun. In einer einzigen größeren Familie kann eine erhebliche »Vielfalt« an Charakteren, physischen Konstitutionen, sozialen Konstellationen und Herkunftsunterschieden aufeinanderprallen. Nicht anders ist es mit einer ganzen Nation, die unter ihrem Dach eine große Zahl komplexer Strukturen versammeln kann. Dies haben nun ausgerechnet die Deutschen vergessen, deren komplizierte Nation, »von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt«, immer schon ausreichend »multikulturell« war und einen ungeheuren und nicht immer unproblematischen Reichtum an physiognomischen Typen, Temperamenten, Mundarten, Mentalitäten, Landschaften und historischen Kontinuitäten umfaßte.
Armin Mohler schilderte in seinem Buch Der “Nasenring” wie überrascht er während seines Aufenthalts in Deutschland im Jahre 1942 über dessen »eigenartige und wohl auch einzigartige Vielfalt« war: »Das Volk, das sich in den Augen des Auslandes, von Freund und Feind, als Phalanx von Gleichgerichteten mit einheitlichem Willen ausnahm, erwies sich bei näherem Zusehen als ein verwirrendes Geflecht von Eigenheiten, Besonderheiten und Verschiedenheiten.« Diese Beobachtung verband er mit einer seiner typischen Provokationen: »Und doch hielt es zusammen und war imstande, einen Krieg – und was für einen! – zu führen!«, und dies in einem einzigen Jahrhundert gar zweimal. Er kommt zu einem Schluß, der ironischerweise an den »diversity is strength«-Slogan der amerikanischen Multikulturalisten erinnert: »Vielleicht war es gerade die labyrinthische Vielfalt Deutschlands, die den Deutschen eine solche Leistung ermöglichte; durch ein so gewachsenes Gehäuse fegt ein Sturm nie ganz durch; die Abschottungen schaffen Freiräume (›Nischen‹ im Sinne Gehlens), aus denen immer neue Kraft gewonnen werden kann.«
Die Linken und Linksliberalen können die »Vielfalt« dagegen nur ortlos und schematisch denken. Sie ist für sie nur insofern interessant, als sie als »Ferment der Zersetzung« gegen die »Mehrheitsgesellschaft« einsetzbar ist. Das führt dazu, daß am Ende doch wieder der typisch linke Haß auf jedes Anderswo und Anderswie zum Vorschein kommt. Alles muß »bunt« gemischt sein, und wehe jedem gleich dem Gallierdorf des Asterix verteidigten Flecken, der es noch wagt, sich den Zwangssegnungen der »Diversity« zu verweigern. Die »Diversen«, die die »Buntheit« bringen sollen, die uns nie gefehlt hat, werden dabei stets aus denselben außereuropäischen Reservoirs geschöpft, die überbersten von
»ethnisch homogenen« Menschenmassen. In Europa angekommen, verharren sie in der Segregation, bilden raumgreifende Kontingente, die die Städte afrikanisieren, orientalisieren, asiatisieren und einander angleichen. Damit wird uns auch die Freude am Exotischen und Fremden zerstört, wenn dieses unseren Alltag besetzt und vor unserer Haustür regiert.
Zuletzt, mit all dem Vorangehenden im Hinterkopf: Paul Simon zitiert in seinem Artikel Kubitschek aus “Tristesse Droite”:
Wir leben indes in einer Zeit, in der jedes Schicksal abgefedert, jeder Lebensirrtum ausgebügelt, der Schrott jedes Experiments weggeräumt wird – wo sollte da eine konservative Handlungslehre herkommen, die tiefer reichte und tiefer wirkte als irgendein Lack?
Der Kern dieser Aussage ist doch folgender. Eine “konservative Handlungslehre” sagt: bedenke die Voraussetzungen der Grundlagen deines Seins und die Folgen deines Tuns, verschleudere sie nicht in Experimenten und voreiligen utopischen Räuschen, zumal, wenn dies auch andere, gar eine ganze Gesellschaft affiziert. Derlei muß man sich leisten können, und wir leben in einer Gesellschaft, die nicht nur in diesem Punkt über ihre Verhältnisse lebt.
Simon kommentiert bzw. interpretiert dies so:
Kubitschek macht sehr deutlich, warum er gerade für schwächere Menschen härtere Lebensumstände für begrüßenswert hält: Nur eine unabgefederte, unsichere, härtere Existenz könne sie zu einer würdigen Lebensführung verleiten – die Abfederung von Druck führt zu Dekadenz. (…)
Die praktische politische Dimension dieses Gedankens, nämlich seine Anschlussfähigkeit für ein Bürgertum, das sich größere Kontrolle und weniger (staatlich erzwungene) Solidarität mit den Schwächeren und Anderen wünscht, wird von Nassehi übersehen, der Kubitschek vor allem mit den Begriffen Homogenität und Komplexität zu greifen versucht. Aber um gesellschaftliche Homogenität allein geht es den Rechten nicht. Die Vorstellung unauflöslich fremder, ja prinzipiell feindlicher kultureller Identitäten ist vielmehr Bedingung des Gedankens der Ungleichheit, und dieser wiederum ist der notwendige, grundlegende Schritt zur Schärfung von Hierarchien.
Rechten geht es um den Angriff auf die Freiheit der Vielen, zugunsten der Freiheit und der Macht der Wenigen.
Ich protestiere und bleibe dabei, daß dies eine ungedeckte Unterstellung ist, der ein falscher Freiheits‑, ein falscher Gleichheits‑, und ein falscher Machtbegriff zugrunde liegen. Hierarchie, Autorität und Ungleichheit sind keine Selbstzwecke, die dazu dienen sollen, Macht- und Kontrollgelüste zu befriedigen oder selbstherrliche Klassenprivilegien zu installieren und zu rechtfertigen. Das wäre in der Tat ein Mißbrauch, und so ist es nicht gemeint.
Es ist auch nirgendwo die Rede davon, daß Kubitschek “gerade für schwächere Menschen” härtere Lebensumstände für “begrüßenswert” hält. Wo steht das? Nirgends. Der Akzent ist ganz woanders, und er hat in der Tat mit der Dekadenz zu tun, mit all jenen Dingen, die man sich auf Kosten von Beständen leistet, die eben dadurch aufgebraucht werden, weil sich mit zunehmender Gewöhnung niemand mehr Gedanken über ihre Voraussetzungen macht.
Die Frage nach ist nicht, wie man Mittel finden kann, “Schwächere” zu beherrschen oder gar auf der Strecke bleiben zu lassen oder Hierarchien um ihrer selbst willen zu verschärfen. Nein, es handelt sich vielmehr um das eigentliche und tiefste Anliegen der “Ungleichheit”: die Frage nach der Qualität vor der Quantität. Die egalitäre, (wie Gehlen sagen würde)“eudämonistische”, die Menschen in einen therapeutischen Wohlfahrtsstaat einbettende Gesellschaft ist ein Feind der Qualitäten, denn diese erzeugen Agon, Wettbewerb,Ungleichheit, Dinge, die sie, müde geworden, befrieden und pensionieren will.
Aber eine Gesellschaft, die aufhört, den Menschen zu fordern und ein bißchen mehr aus ihm herauszuholen, als er braucht, um zum wahlzettelausfüllenden Konsumenten zu werden, beraubt sich ihrer eigenen Vitalität und Schaffenskraft, “schafft sich ab”, um Simons bête noire Sarrazin zu zitieren. Diese Tendenzen sind unverkennbar, und besonders fatal wirkt sich aus, daß die Erziehungs- und Bildungsstandards an den Schulen immer weiter gesenkt werden. Pointiert gesagt: was die Rechten und Konservativen hier befürchten und kritisieren, ist der Abstieg in eine – frei nach der gleichnamigen Filmsatire – “Idiocracy” amerikanischen Zuschnitts.
Oder, um ein ernsthafteres Beispiel zu nennen: in die von “letzten Menschen” bevölkerte “Brave New World” Huxleys, der bereits 1932 alles gesagt und gesehen hat. Das ist eine Aussicht, die freilich neben der anderen, inzwischen viel wahrscheinlicher gewordenen Möglichkeit, wie die Geschichte endet, verblasst: ich meine den Abstieg von der Dekadenz in die Barbarei, in die “kommende Revolte”, den “kommenden Aufstand”, den “Selbstmord des Abendlandes”, den “Selbstmord des Systems”, den “Großen Austausch” und so weiter und so fort.
Simon zitiert ein weiteres, längeres Stück von Kubitschek aus “Tristesse Droite”:
Heute kann alles abgefedert werden. Jeder Schicksalsschlag, jede falsche Entscheidung im Leben kann abgefedert werden dadurch, daß man unendliche Mengen Kompensationsmaterie nachkippen kann – zum Beispiel, um eine völlig verranzte Erziehung zu kompensieren. Das sieht man hier an den Schulen überall. Man erzieht die Leute nicht mehr, sondern man kompensiert, wenn sie verzogen rumstehen und noch nicht mal eine simple Lehre absolvieren können. Die werden mitgeschleppt auf Teufel komm raus, die hungern und frieren nicht, die spüren von klein auf: Es geht immer ziemlich komfortabel weiter. Es wird immer alles kompensiert. Da hat dann der konservative Begriff vom Leben, unser Begriff vom Leben, überhaupt keine Chance mehr. Überhaupt in die Tiefe vorstoßen zu können ist ja nurmehr ein frommer Wunsch. Die Aushebelung des Schicksals, die Aushebelung der falschen Entscheidung hat das Konservative an sich zerstört. Also die Hierarchie, die Würdigung der besseren Leistung, die Würdigung der besseren Erziehung, die Würdigung der Anstrengungsbereitschaft, die Würdigung dessen, der Schmerz aushalten, der sich zusammenreißen kann, das ist ja alles passé. Sich nicht zu verkrümeln, wenn’s drauf ankommt – das spielt keine Rolle mehr. All das, was ein Konservativer unterschreiben kann als notwendiges Sortierungskriterium innerhalb einer Gesellschaft – wenn das alles ausgehebelt ist, dann haben wir, mit unserer Weltanschauung, überhaupt keine Chance mehr. Das Schlimmste, was uns geschehen kann, ist das energetische perpetuum mobile, also daß es mit den materiellen Kompensationsmöglichkeiten immer weiter geht.
Simon zoomt nun in diesen Text hinein, pickt sich ein Wörtchen heraus, isoliert es, friert es ein, beraubt es seines Sinns im Ganzen und sieht ein weiteres Mal einen sinistren Selbstzweck am Werk:
“Sortierungskriterium” – darum geht es.
Ich passe! Für dieses Mal.
Sternenfrau
Lieber M.L.
Ich habe einen großen Wunsch:
Ich wünsche mir alle Lichtmesz Artikel gesammelt in einem schönen Buch.
Das wäre wahrscheinlich der Bestseller von Antaios.
Es ist immer wieder ein Genuss, solch` klare, kluge und pointierte Abhandlungen zu lesen.
Dankeschön !