Der Demos hat sich in diesen Wochen der Finanzkrise und des “kalten Putsches” allenfalls auf der Fanmeile gezeigt, und sein Kernpartikel, der mittelständische Bürger, blickt auf den ESM und ähnliche unbegreifbare Monstren wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange.
Inzwischen wird gerade aus eher finsteren Beweggründen eine Konjunktur des pathosgeladenen Begriffs “Volk” lanciert, den man ansonsten lieber neutralisierend (“Bevölkerung”) und sozialpädagogisch (“Menschen in Deutschland”) aufgelöst sehen will. Kurz nach dem EM-Finale (und dem ESM-Beschluß) brachte etwa die FAZ ein Prosastück im Prawda-Stil, in dem dafür plädiert wurde, die per EM angeheizten patriotischen Gefühle (“Die Bürger aber, die Völker, deren Mannschaften beim Fußball angefeuert werden, sind die Grundlage dieser Europäischen Union”), doch sinnvoll zu “abzurufen”. Denn “im Kreml ist noch Licht”:
Trotz übler Kampagnen und obwohl es in diesen Tagen wieder einmal um die Grundlagen, um Wohl, Wehe und Währung der EU geht, funktioniert sie. Die Gremien tagen, die Krisenmechanismen greifen ineinander. Man weiß, man gehört zusammen und braucht einander. Man will nach außen möglichst geschlossen auftreten. Aber auch nicht die nationale Identität verlieren.
Vor allem ist sind “Volk”, “Stolz” und “Souveränität” nun wieder gefragt, um eine gewisse Petitesse aus dem Weg zu räumen:
Die Ablösung des Grundgesetzes durch das deutsche Volk? Warum sollte man eine bewährte Verfassung in Frage stellen? Oder sollte, muss man über den Fortgang der europäischen Integration abstimmen lassen? Tatsächlich scheint ein Grenzbereich erreicht zu sein. (…) Wird dagegen Deutschland (…) dauerhaft in den Rang einer europäischen Kommune herabgestuft, in der ein europäischer Sparkommissar über konkrete Einnahmen und Ausgaben entscheidet, hat es seine staatliche Souveränität aufgegeben. Diesen Schritt könnte auch der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht allein gehen. Es ist alles andere als einfach, das Volk zu diesem Schritt zu befragen.
Aber das kriegen wir schon hin – einfach daran denken, wie schön es beim Fußball war. Noch deutlicher und unverschämter wurde Mathias Geis am 28. Juni in der “Zeit”, der in diesselbe Kerbe gehauen wird:
…weil Europa zu lange nur ein Projekt seiner Eliten gewesen ist, weil es der etablierten Politik inzwischen an Kraft und Legitimation mangelt, die europäische Vereinigung einfach weiterzutreiben. Und nicht zuletzt, weil es verfassungsrechtliche Grenzen der Integration gibt, deren Aufhebung die Macht des Parlamentes übersteigt. Dazu braucht es den Souverän selbst, der seine Bereitschaft erklärt, nationale Kompetenz und politisches Vertrauen auf ein neues Europa zu übertragen.
Dass Schäubles Vorschlag Anklang findet, liegt natürlich weniger an der Europa-Begeisterung der Bürger als an ihrem wachsenden Partizipationsanspruch. Schäuble liegt im Trend – auch wenn man kaum annehmen mag, dass er den Bauplan für das künftige Europa nun der kollektiven Weisheit der Schwarmintelligenz überantworten will. Für ihn wäre ein Referendum über die Zukunft Europas eine – notwendige – Ausnahme.
Deutsch: der pennende “Souverän” wird mal eben aus der Abstellkammer geholt, um mit einem Kreuzchen seiner eigenen Entmachtung und Ausbeutung zuzustimmen, dann hat er genug “partizipiert” und darf sich mitsamt seiner Schwarmintelligenz bitte rasch wieder vertschüssen und den Business dem guten Onkel Schäuble überlassen, der weiß ja am besten, was gut für ihn ist.
All dies verdient eine profundere Analyse, sei hier aber nur als aktuelles Beispiel für die wesentliche politische Bedeutung der Klärung der Identitäts- und Volksfrage genannt. Dem deutschen Michel hat man über Jahrzehnte jegliches Verständnis von Politik, Selbstbehauptung, Souveränität abtrainiert, hat ihn gelehrt, sich mit fremden Augen zu sehen, hat die Fremdbestimmung zu seiner zweiten Natur gemacht. Nun ist er nicht einmal imstande, zumindest sein Sparschwein und seine Besitztümer zu verteidigen. Man kann mit ihm heute tun und lassen, was man will, und die Beschlüsse können gar nicht so schnell gefaßt werden, daß noch Zeit bliebe, ihre Konsequenzen zu begreifen, noch Einspruch zu erheben.
Oswald Spengler bemerkt im “Untergang des Abendlandes”, daß ein “Volk” weniger von „der Einheit der Sprache“ noch der „leiblichen Abstammung“ bestimmt sei, sondern sich in erster Linie durch eine „seelische“ Verfassung konstitutiere. Das Volk sei von der bloßen Bevölkerung vor allem durch das „innere Erlebnis“ des „Wir“ unterschieden. So gesehen, gibt es gewiß noch ein deutsches Volk, das seelische Prädispositionen teilt, die andere „Menschen in Deutschland“ (mit deutschem Paß oder ohne) nicht kennen.
Die Meinungsmacher haben indes sorgfältig darauf geachtet, daß dieses „Wir“-Gefühl nur unverfängliche und kontrollierbare Ventile findet, wie eben den Fußball-„Patriotismus“. Denn eine wirkliche „Wir-Findung“ würde unerwünschte machtpolitische Konsequenzen haben. Wer diesen Versuch unternimmt, wird von der herrschenden Klasse als “Populist” gebrandmarkt; wie man oben sehen kann, bedient sie sich aber selbst auch “populistischer” Mittel, wenn es ihren Zwecken dient.
Daß eine “identäre”, ja “populistische” Politik also notwendig ist, um das Volk zumindest wieder in sein Recht zu setzen, und den einzelnen Bürger wach zu machen gegenüber seiner Ausbootung, ist das eine. Das andere ist, daß eine solche Politik heute vor erhebliche Probleme gestellt ist. Nicht das mindeste ist, daß es keinen Grund für irgendeine Art von antiquierter “Volksromantik” gibt, vielmehr muß man Günter Maschke rechtgeben, der 1997 in einem Interview meinte, daß “das deutsche Volk seelisch und intellektuell völlig verkrüppelt und heruntergekommen ist; es ist um keinen Deut in einem besseren Zustand als die politische Klasse.” Und daran sind beleibe nicht bloß die “Vergangenheitsbewältigungsindustrie oder die Alliierten oder das korrupte Fernsehen” schuld.
Während der Bürger das politische System solange mit Wahlzetteln gefüttert, und die Sache beim Delegieren und Repräsentieren belassen hat, hat sich das eigentlich demokratische Ethos der Partizipation schon lange aufgelöst (ohnehin eine Art von Enthusiasmus, der schnell die Luft ausgeht). Ab und zu tobt es sich in surrogatartigen Eruptionen aus, wie den “Stuttgart 21”-Protesten (erinnert sich noch jemand daran?), die eher “Event-Kultur” und Massenritual als Politik sind. “Es ist eine Fiktion, daß Bürger sich unablässig für das öffentliche Wohl begeistern.” (Lothar Höbelt)
Darum haben auch die „Populisten“, mit ihren altromantischen Vorstellungen vom Demos, den man auf die Straße trommelt, damit er unter „Wir sind das Volk“-Rufen die Berliner Mauer stürmt, keine allzu große Chance. Sie mobilisieren damit vielleicht ein paar verschrobene „Wutbürger“ und Stammtischplebejer, die sich gern als „Souverän“ ansprechen lassen, oder auch ein paar Protestwähler, aber die breiten Mittelschichten, auf die es ankommt, werden damit nicht erreicht – diese wählen weiter, automatengleich und trotz aller Evidenz vertrauensblind, jene Parteien, die dabei sind, sie auszubooten.
Das größte Problem ist wohl, daß “partikuläre” Bewegungen zur Zeit nur eine geringe Attraktivität besitzen. Der Zeitgeist tendiert weiterhin zum Globalen, Universalen, Grenzenüberschreitenden. Der Einzelne will sich mit etwas Größerem und Übergreifendem identifizieren, und die nationale Jacke, so scheint’s, sitzt dabei doch zu eng und abgenutzt und altmodisch.
Schlagwörter wie “Europa” üben besonders auf den Deutschen eine geradezu erlösende Magie aus. Die aus der “islamkritischen Szene” erwachsenden Grüppchen und Parteien, die ansatzweise identitäre Positionen entwickeln, sofern sie sich hinter derIsrael-oder USA-Fahne hevortrauen, haben große Schwierigkeiten, eine attraktive Vision zu schaffen. Nur keine Moscheen und kriminelle Ausländer in Deutschland haben zu wollen ist zu wenig, aber daß man sich, um der negativen Fixierung zu entgehen, mit dem Präfix “Pro-” schmückt, reicht offenbar auch nicht.
Am ehesten klappt dergleichen noch in Kleinstaaten, wie etwa Österreich, wo die FPÖ mit Slogans wie “Die soziale Heimatpartei”, “Daham statt Islam”, “Pummerin statt Muezzin”, “Mehr Heimat statt Moscheen” usw. zum Teil recht gut punkten kann. Da schmeckt natürlich nach unfreiwilliger Komik und Biedermeier, und kommt damit gewiß auch spezifisch österreichischen Sehnsüchten nach. Vor allem aber hat es seine Grenzen: auch Strache & Co hatten trotz aller Bemühungen gegen den von allen anderen Parteien befürworteten ESM nicht die geringste Chance.
Und schließlich gibt es gerade bei gebildeteren Schichten eine nicht unerhebliche Scheu, sich allzu sehr zum sacro egoismo oder zum Patriotismus zu bekennen. Man fühlt sich vielleicht ein bißchen so, als wolle man den Krebsgang einlegen, und die Liebe zu einer lange geschiedenen Ehefrau wieder anfachen. Die Identitätsfrage schmeckt zu sehr nach einem schnöden Kreisen um sich selbst und den eigenen Nationalnabel. Und sobald sie kollektiv gefaßt werden soll, fallen einem in erster Linie Klischees mit Museums- und Touristikwert ein. Während auch in FPÖ-Veranstaltungen gerne von “unserer Identität” gesprochen wird, klingt der Begriff des “Identitären” in deutschsprachigen Ohren allzu sperrig, allzu intellektuell, allzu abstrakt, vor allem aber dient er häufig eher als Schutzschild, um nicht über “Volk” und “Nation” reden zu müssen.
Alles, was mit Nation, Volk und Patriotismus zu tun hat, erscheint heute vielen Menschen als unsexy, abgelebt, anachronistisch, verbraucht, erinnert an schlechte Erfahrungen, verbrannte Finger. Bei “Heimat” denkt man dann an kleinkarierte Eigenliebe, Chauvinismus, Stammtischmuff, schunkelnde Vereinshuberei, wo sich alle gegenseitig auf die Schulter klopfen und ihrer Gemeinsamkeit versichern. Der alte Wiener Schlachtruf “Mir san Mir”, den man ja auch aus Bayern kennt, ist zum Synonym für diese Schreckensherrschaft geworden.
Seine liebenswürdigere Variante wäre das Gallierdorf des Asterix, wo sich die Krieger mit unbeugsamem Provinzstarrsinn gegen den römischen Imperalismus stellen. Heute stellt sich nicht nur ein Richard Herzinger auf die Seite der Römer: die meisten Menschen wollen lieber Römer als Gallier sein, global, modern, “weltoffen”, universal und so weiter. Dagegen will keiner “Stammtisch” sein, oder zumindest nicht das, was damit an Negativbildern verbunden wird. Und schließlich ist das rurale Idyll einer Welt wie jener des Asterix, die heute ebenso ist wie gestern, und morgen so bleiben wird wie heute, auch nicht aufrechtzuerhalten. (Aber stand nicht auch das Gallierdorf für eine universale Idee, für ein gaullistisches “Europa der Vaterländer”, gegen den amerikanischen Imperialismus?)
Der Wunsch, althergebrachte Identifikationen zu sprengen, treibt in den westlichen Ländern reichlich bizarre Blüten. Weil in Österreich alles immer nochmal so lustig und dämlich ist als anderswo, haben ein paar Linke den ultimativen Antidiskriminierungs-Begriff des “Wirismus” empfunden. Letzten Mai veranstaltete die “grüne Bildungswerkstatt Wien” ein 14tägiges, tüchtig subventioniertes und gesponsertes Antirassismus-Festival unter dem Motto “Wir mich nicht an”. Das liest sich dann wie seine eigene Parodie:
“ ‘Wir’ mich nicht an” ist eine Kampfansage an all jene, die ein persönliches Fürwort zum Prinzip ihrer Politik, ihrer Weltanschauung und ihres Alltags machen. Wer von “Wir” und “die Anderen” spricht, teilt Menschen nach beliebigen Kriterien in Kategorien ein und spaltet die Gesellschaft. Der “Wirismus” ist aber auch ein Zeichen dafür, das Rassismus kein ausschließliches Phänomen der extremen Ränder ist, sondern Teil der Mitte der Gesellschaft und spiegelt sich auf struktureller wie auch individueller Ebene wieder – in unreflektiertem Sprachgebrauch, alltäglicher Diskriminierung, in rassistischen Gesetzen bis hin zu blutigen Gewalttaten.
Gewiß kein Zufall, daß gehirntoter Ideologieabfall dieser Güteklasse aus dem Umfeld einer Partei kommt, die sich nicht nur in Deutschland grundsätzlich zur fünften Kolonne fremder Interessen macht.
Eine Gegenbewegung wird jedenfalls nicht darum herumkommen, ein “Wir selbst” zu formulieren. Und so schwierig es ist: irgendwo und irgendwie muß man anfangen, Zum Abschluß also noch ein paar Verweise: während die Wiener Grünen die “Wiristen” (also so ziemlich jedermann und seine Großmutter, sofern er nicht irgendeinem Minderheitenstamm angehört) auf die Steckbriefliste setzten, gründete sich dieses Jahr als Antwort die Gruppe WIR, ein Akronym für “Wiens identitäre Richtung”.
Die Gründer sind noch recht junge Studenten, die zum Teil dem konservativen “Wiener Akademikerbund” nahestehen. “W.I.R.” ist einer der seltenen Versuche, auch in Österreich, wo die politischen Strukturen recht festgefahren sind, und jeder in seinem Eck zufrieden ist, eine “Neue Rechte” im Gefolge der Klassiker wie Alain de Benoist oder Armin Mohler zu etablieren. Ein “Muß” ist dabei heutzutage, eine griffige Ästhetik zu entwickeln, und auch “WIR” orientiert sich an den Trendsettern in diesem Fach, den Poundistas von Rom.
Von diesen ließen sich merklich auch die Macher der “identitären” Seite “Der Funke” inspirieren, nach Auskunft von Kamernosse Nils Wegner ebenfalls austriakischer Provenienz. Diesen sind besonders hübsche und recht witzige Beispiele von rechtem Agitprop gelungen. Da gibt es Bildschirmhintergründe/Spruchbänder mit Schmitt‑,Mohler‑, Jünger‑, Klonovsky‑, Dávila- und Neofolk-Zitaten, Videos und themenbezogene Flugblätter im Comic-Stil. Im Gegensatz zu “WIR” scheint der “Funke” sich allerdings eher antichristlich auszurichten, was ich persönlich für eine Sackgasse halte, die auch der Identität Europas nicht gerecht wird. Zumindest sollte in dieser Frage heute Burgfrieden herrschen.
Bleibt also zu hoffen, daß diese Gruppen vom “Volksfront von Judäa”-Syndrom verschont bleiben. Die “richtige” Ideologie zu haben, scheint mir heute auch weniger wichtig zu sein, als daß überhaupt etwas Kreatives gemacht wird. “Identität” sollte nicht so sehr Gegenstand abstrakter Erörterungen werden, sondern will aktiv und mit persönlichem Einsatz gelebt sein.
Als dritten Verweis möchte ich noch mein bereits in der 2. Auflage erschienenes Kaplaken-Bändchen “Die Verteidigung des Eigenen” erwähnen, das sich ebenfalls mit der Identitätsproblematik auseinandersetzt.