Ich bin in dieser Frage tendenziell auf der Seite von Martin Böcker, bevorzuge aber einen anderen Ton.
Zuerst die Anekdoten: In einer späten und schon etwas ausgelassenen Runde fragte ich einen israelischen, mit Damen sehr aktiven Bekannten, ob die Abwesenheit eines Präputiums ihm irgendwelche Vor- oder Nachteile in der Anwendung des betreffenden Körperteils einbrächte. Er verneinte dies, bemerkte aber, daß er es eben nicht anders kenne, und sich darum auch niemals Gedanken darüber mache. Ich sagte, daß ich in dieser Hinsicht schon aus ästhetischen Gründen froh sei, kein Jude zu sein. Er antwortete, daß es ihm genau umgekehrt ginge: ein unbeschnittenes membrum virile fände er häßlich und abstoßend. Ich wage nun zu behaupten, daß dies eine durchaus repräsentative Meinung war.
Die zweite Anekdote habe ich auf diesem Blog schon einmal ausführlicher geschildert. Eine junge Berlinerin war durch die Konversion ihrer Schwester zum Islam in nachhaltiges Grübeln über die deutsche Identität und die Natur des Islams geraten. Konvertitentypisch hatte sich die Schwester, die einen Kurden geheiratet hatte, zur Fanatikerin entwickelt, die nach und nach die Brücken zur eigenen Familie abbrach.
Besonders aber hatte die junge Frau der Anblick ihrer beiden kleinen Neffen nach der Beschneidung schockiert, die in islamischen Gemeinschaften traditionell wesentlich später erfolgt als beim Judentum. Diese konnten vor Schmerzen tagelang nur mit gespreizten Beinen herumlaufen, ihre Hosen waren immer wieder blutbefleckt. Dieser Anblick sei erbärmlich gewesen. Ihre Skepsis gegenüber dem Islam schlug nun in offene Abscheu und Ablehnung um. Auch diese Reaktion ist wohl durchaus repräsentativ für Deutsche, die mit gewissen islamischen Sitten konfrontiert werden.
So vermute ich, daß es kein Zufall ist, daß die Beschneidungsfrage am Fall einer moslemischen Familie hochgekocht ist, und damit einen wunden und ungeklärten Punkt in der liberalen Ordnung der BRD offen gelegt hat. De facto war die Beschneidung “immer schon” unvereinbar mit dem im GG verankerten Recht auf körperliche Unversehrtheit; es ist lediglich bisher niemand auf die Idee gekommen, die Betroffenen, also in erster Linie die Juden, damit zu belangen. Das hat wohl den Grund, daß die Ausübung der jüdischen Religion den öffentlichen Frieden nicht stört und sich recht geräuschlos in das liberale System fügt, wie ja auch ein Beschnittener auf der Straße niemandem auffällt oder erkennbar ist. Die wachsenden sozialen und politischen Schwierigkeiten, die hingegen die Anwesenheit und Ausdehnung des Neu-Imports Islam in Deutschland bereitet, stehen auf einem anderen Blatt, und diese beginnen bereits jetzt, das System erheblich zu belasten.
Ein weiterer Punkt (und hier stimme ich Martin Böcker zu) ist, daß das Kölner Urteil tatsächlich einen prinzipiell religionsfeindlichen Beigeschmack hat. In der Urteilsbegründung heißt es:
Die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist, wenn sie denn erforderlich sein sollte, jedenfalls unangemessen. Das folgt aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider. Umgekehrt wird das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet.
Nun ist die Vorstellung, daß Eltern abwarten sollten, bis Kinder “selbst über ihre Religionszugehörigkeit entscheiden” eine strukturell liberale, irreligiöse Idee, der ein spezifisches Konzept vom Selbstbestimmungsrecht des Individuums zugrundeliegt. Es gibt aber vom Buschmänneranimismus bis zur römisch-katholischen Kirche keine Religion und keine sie tragende Gemeinschaft, die auf dieser Art von freiem Auswahlrecht aufbauen könnte. Eine Religion ist ja keine Ware, kein Auto, das man sich nach Gusto beim Händler aussucht, sobald man volljährig ist und den Führerschein hat. Alle Religionen leben von der kontinuierlichen Überlieferungs- und Erziehungstradition ihrer Glaubensgemeinschaften. Wer hier die Axt ansetzt, erwischt die Wurzel. In diesem Punkt ist auch der theologischen Fraktion der Blauen Narzisse recht zu geben,ebenso wie dem österreichischen Kardinal Schönborn.
Das Kölner Gericht formulierte weiterhin:
Der Veranlassung der Beschneidung durch die Eltern soll auch keine rechtfertigende Wirkung zukommen, da dem Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung in Abwägung zum Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung kein Vorrang zukomme, so dass mit der Einwilligung in die Beschneidung ein Widerspruch zum Kindeswohl festzustellen sei. Gleichwohl soll der gegen das Kindeswohl verstoßende und nicht entschuldigte Vorgang sozial unauffällig, allgemein gebilligt und geschichtlich üblich und daher dem formellen Strafbarkeitsverdikt entzogen sein.
Nach richtiger Auffassung kommt der Sozialadäquanz neben dem Erfordernis tatbestandspezifischer Verhaltensmissbilligung keine selbstständige Bedeutung zu. Die Sozialadäquanz eines Verhaltens ist vielmehr lediglich die Kehrseite dessen, dass ein rechtliches Missbilligungsurteil nicht gefällt werden kann.
Die Frage, ob ein Vorgang “sozial unauffällig, allgemein gebilligt und geschichtlich üblich” sei, läuft letztlich darauf hinaus, ob man die Ungleichen ungleich oder gleich behandeln soll. Die im Grätschschritt und mit Blutflecken an den Hosen herumlaufenden Neffen der jungen Berlinerin sind im mehrheitlich deutschen Kindergarten “sozial auffällig”, im kurdischen Kindergarten, in den sie vorsorglich von den Eltern gesteckt wurden, nicht. Der Vorgang wird in einer islamischen Gemeinschaft “allgemein gebilligt”, in einer nur gemischten schon nicht mehr. “Geschichtlich üblich” sind die Praktiken des Islams in Deutschland nicht; wohl aber ist seit Jahrhunderten üblich, daß in Deutschland lebende Juden beschneiden, und daß dies geduldet wird, wie auch sonst überall auf der Welt.
Karlheinz Weißmann weist in der aktuellen JF (30–31/2012) allerdings auch darauf hin, daß es in christlichen Ländern ebenso üblich war, die Beschneidung als barbarisch aufzufassen:
In Europa ließ sich seit der Antike eine sukzessive Abwendung von den seit alters üblichen Praktiken der Körpersymbolik (Narbung, Amputation, dauerhafte Bemalung) beobachten. Aufschlußreich ist weiter, daß die “Gottesfürchtigen”, von denen im Neuen Testament gesprochen wird, die Symphatien für den Monotheismus und die Idee einer ethischen Religion hatten, doch den Übertritt zum Judentum vermieden, wegen der Notwendigkeit, sich die Vorhaut abtrennen zu lassen. Derartiges galt als Verstümmelung und als barbarisch, so wie übrigens auch die Tätowierung, die die Römer mit Abscheu betrachteten.Der Prozeß hat sich unter dem Einfluß des Christentums kontinuierlich fortgesetzt und zur Abdrängung der Gezeichneten in Randgruppen geführt. Daran, daß der europäische Schönheitsbegriff immer mit Unversehrtheit zusammenhing, ist jedenfalls nicht ernsthaft zu zweifeln.
Mit letzterem Satz schließt sich auch der Kreis zu meiner einleitenden Anekdote.
Das Dilemma jedenfalls, das im Gefolge von Köln wieder sichtbar wird, ist ein Resultat der Weigerung und Unfähigkeit, nach außen zu “diskriminieren” (im Sinne von “unterscheiden”): anstelle etwa Einwanderer im Vornherein nach kultureller Kompatibilität auszuwählen, und die Spielregeln vorher festzulegen, ist man dann gezwungen, im Nachhinein im Inneren herumzuschnipseln, zu schieben, zu quetschen und zu “diskriminieren”. Denn aus der liberalen Logik heraus kann man nicht guten Gewissens zuerst Millionen Moslems ins Land holen, und ihnen anschließend Moscheen, Kopftücher, Koranwerbung, Polygamie, Schächten oder Beschneidung verweigern.
Die gesetzlichen Maßnahmen lavieren dann zwischen Kompromiß und Schikane, doktern mal da, mal dort herum, gehen aber niemals an die Wurzel des Problems. Am Ende steht wie immer die unvermeidliche Identitätsfrage: wer oder was gehört zu uns, und wer oder was nicht? Das inkludiert natürlich auch die Frage, inwiefern diejenigen, die nicht zu uns gehören, aber unter uns und mit uns leben, geschützt oder zu Anpassungsleistungen verpflichtet werden sollen.
PI-Autor Michael Stürzenberger, unlängst “gewürdigt” von Hannes Stein auf der Achse der Ungusteln, schrieb:
Jeder kann glauben, was er will, solange er andere damit nicht belästigt oder Gesetze verletzt. Für Kinder in Deutschland gilt das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Was Juden in Israel oder Moslems in Saudi-Arabien machen, geht uns nichts an.
Was Juden und Moslems mit ihren Kindern tun, geht Nicht-Juden und Nicht-Moslems aber prinzipiell nichts an (et vice versa), und in Deutschland nur soviel, als es nicht die öffentliche Ordnung gefährdet (wie zB im Falle des Tragens einer Burka). Und man kann in einen im Falle der Juden jahrhundertelang auf deutschem (und sonstigem) Boden geduldeten Traditionszusammenhang nicht von heute auf morgen eingreifen, ohne Schaden anzurichten, vor allem dann nicht,wenn es sich um eine für die Betroffenen so essenzielle Frage handelt. Folgt man Stürzenbergers Logik, müßte man konsequenterweise die ganze “Judenfrage” bis zurück ins Anno Herzl ff. wieder aufrollen.
Zurück zu Köln. Der verantwortliche moslemische Vater ging straffrei aus:
Der Angeklagte handelte jedoch in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum und damit ohne Schuld (§ 17 Satz 1 StGB).
Der Angeklagte hat, das hat er in der Hauptverhandlung glaubhaft geschildert, subjektiv guten Gewissens gehandelt. Er ging fest davon aus, als frommem Muslim und fachkundigem Arzt sei ihm die Beschneidung des Knaben auf Wunsch der Eltern aus religiösen Gründen gestattet. Er nahm auch sicher an, sein Handeln sei rechtmäßig. Der Verbotsirrtum des Angeklagten war unvermeidbar.
Damit ist er nun glimpflicher davongekommen als etwa letztes Jahr eine christliche Mutter, die zu 43 Tagen Haft verurteilt wurde, weil sie aus Glaubensgründen ihre Kinder nicht dem Sexualunterricht in der Schule aussetzen wollte. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2007 darf Eltern gar das Sorgerecht entzogen werden, wenn sie ihre Kinder an bestimmten Teilen des Schulunterrichts nicht teilnehmen lassen wollen. Die deutschen Gerichte “diskriminieren” also auch mit Härte gegen jene Religion, die ein wichtiger Bestandteil unserer eigenen Kultur ist.
Hier sitzen die Religionen, trotz aller theologischen Differenzen auch über die Vorhautfrage, in der Tat in einem Boot. So mancher, der sich in diesen Tagen gefreut hat, daß diesmal die unter Naturschutz stehenden Moslems und Juden die GG-Keule abbekommen haben, erinnert mich ein wenig an die Sorte von PI-Fans, die jubelt, wenn Broder mal wieder einen “Antisemiten” vermöbelt hat.
Man kann die Trennung von Staat und Religion als eine Errungenschaft der Neuzeit ansehen, die mit der Polarität Kaisertum-Papsttum eine bis ins Mittelalter zurückreichende Wurzel hat; die Spannung und latente Feindschaft zwischen beiden wird jedoch nie ganz aufgehoben werden können. Der religiöse Mensch wird immer eine höhere Instanz als den Staat anerkennen; damit kann er zum schlimmsten Feind des Staates, zum Waldgänger werden, der dem Leviathan Widerstand leistet.
Der Staat wiederum kann schnell zum Vollstrecker “verkappter Religionen”, politischer Ideologien und Parteieninteressen werden. Das ist der Fall, wenn er die sakrale Substanz der Religionen und das Erziehungsrecht der Familie unter dem Banner von Menschenrechts‑, Gleichheits- und Antidiskriminierungsdogmen angreift. Als Konservativer zögere ich hier nicht lange mit einer grundsätzlichen Parteinahme, mag mein Kollege Manfred Kleine-Hartlage dies auch als “ortlos” oder “abstrakt” ansehen.
Zuletzt: das Thema birgt eine faszinierende Geschichte, die sich gerade die Studenten des “Identitären” genauer ansehen sollte. Auch wenn es sich dem Horizont vieler Nicht-Juden entzieht, und vielleicht lächerlich, absurd oder gar barbarisch erscheint, hat die Praxis der Beschneidung eine konstituive Bedeutung für das Judentum, die man kaum unterschätzen kann. Das auf den mythischen Stammvater Abraham zurückgehende, ins Fleisch der Zeugung geritzte Zeichen des Bundes Jahwes mit seinem Volk, ist ein wesentlicher Baustein, warum Israel als einziges antikes Volk bis auf den heutigen Tag überlebt hat. Die Macht dieser jahrtausendealten Tradition ist so stark, daß sie selbst in den großteils säkularen Juden von heute fortlebt.
So kommt es auf jüdischer Seite zu ebenso bizarren wie aufschlußreichen Reaktionen wie jenen des “Asia Times”-Kolumnisten David P. Goldman (“Spengler”), der angesichts des Kölner Beschneidungsurteils den Deutschen ihren Untergang als Volk prophezeite (oder auch androhte?), sollten sie es wagen, sich am heiligen jüdischen Zipfel zu vergreifen, dessen Amputation sich überdies als das Erfolgsmodell für das Überleben eines Volkes schlechthin bewährt hätte. Ein Rundumschlag inklusive demographischer Statistiken, biblisch-prophetischem Tonfall und Evozierung der Untaten des Nationalsozialismus und des angeblich ewigen deutschen Antisemitismus.
Das ist mehr als eine Skurrilität: es ist ein schlagendes Beispiel für die identitätsbildende, mythische, erstaunlich hartnäckige Kraft des jüdisch-messianisch-biblischen Narrativs, die in einem gewissen Sinne auch dieselbe ist, die das Abendland über zwei Jahrtausende lang, bis auf den heutigen Tag, in Gang gehalten, ja zu einem erheblichen Grade erschaffen hat. (Weißmann wies etwa in der JF auch daraufhin, daß im britischen Königshaus beschnitten wird und sich das “Nationalbewußtsein Albions immer an den Mustern ausgerichtet” hat, “die im Alten Testament vorgegeben waren, angefangen bei der Idee der eigenen Auserwähltheit und endend bei dem Gedanken, daß das neue Zion nur in England errichtet werden könne.” )
Ähnlich heftig überzogen wie Goldman reagierten die deutschen Repräsentanten des Judentums, die reflexartig zur bewährten Keule griffen, um die deutschen Politiker in ihre Richtung zu scheuchen, was auch prompt funktionierte. Man mag ihren aggressiven Gestus, sofort die schweren Kanonen auszupacken und sich arrogant über berechtigte Einwände (und der juristische ist nun kein Geringer) hinwegzusetzen, unsympathisch oder gar komisch finden finden: im Kern haben sie recht, daß hier ein Fundament ihrer Existenz als Volk (welches sich nach Spengler – dem originalen! – vor allem durch ein “seelisch-inneres” Erlebnis des “Wir” definiert) in Frage gestellt wird. Sich dagegen zu wehren ist ihr gutes Recht. Diese Entschlossenheit, die Fundamente der eigenen Identität nicht zur Disposition zu stellen, und sei es um den Preis eines irrationalen Beharrens, ist genau das, was den Deutschen abhanden gekommen ist.