der dieser Tage in den deutschen Kinos angelaufen ist. Sämtliche Leitmedien haben Bericht erstattet. „Finsterworld hätte eine zersetzende, skandalöse Farce über dieses ´hässliche Scheißdeutschland´ werden können.
Statt dessen ist der Film von Frauke Finsterwalder und Christian Kracht politisch absolut korrekt und furchtbar langweilig.“ So sieht man es bei der Süddeutschen Zeitung und mutmaßt, Kracht „hatte offensichtlich keine Lust mehr, erneut in die rechte Ecke gedrängt zu werden.“
Wie war das noch mal, und warum, daß Christian Kracht damals zur Division Antaios stieß? Besser: gestoßen wurde, wie fast all seine Kameraden und Kameradinnen? Es war jedenfalls vor 2012 gewesen. Damals hatte Krachts – bislang jüngster – Roman Imperium feuilletonistische Beißreflexe ausgelöst.
Jenes Buch (Sez 47, 2012), so wurde Kracht damals an prominenter Stelle nachgesagt, „zeige vor allem die Nähe des Autors zu rechtem Gedankengut.“ Gregor Diez hatte Kracht damals im Spiegel vorgeworfen, daß sein Buch „durchdrungen“ sei von „einer rassistischen Weltsicht“.
Aus einem 2011 publizierten email-Wechsel mit David Woodard, einem amerikanischen Komponisten „mit einem sehr vagabundierenden Kopf, der offen ist für rechtsradikale Gedanken und Helden“ (Diez), schloß der Spiegelschreiber damals, daß Kracht ein teuflisches Spiel treibe:
Was also will Christian Kracht? Er ist, ganz einfach, der Türsteher der rechten Gedanken. An seinem Beispiel kann man sehen, wie antimodernes, demokratiefeindliches, totalitäres Denken seinen Weg findet hinein in den Mainstream.
Dies alles ahnten die Feldherren der Division Antaios nicht, als sie zu deutlich früherem Zeitpunkt Kracht rekrutiert hatten. Kracht war blond, eher klein, und Schweizer, das genügte.
Man hatte sein Romandebüt Faserland (1995) gelesen, für wahr & gut befunden, ein paar mal verschenkt, später den Roman 1979, noch besser, noch öfter verschenkt. 2004 bis 2006 hatte Kracht das Magazin Der Freund herausgegeben, man war einige Male darüber eingeschlummert. In Sezession 35 (2010) hatte es ein freundliches kleines Kracht-Porträt gegeben.
Muß man sich nun diesen finsterwälderischen Kracht-Film anschauen, der die „deutsche Tugend der Verkniffenheit“ (taz) thematisiert? Der „auf halber Strecke zwischen Klamauk und Drama steckenbleibt“ (Tagesspiegel)? Der seine Wut und Wucht „selbstzerstörerisch gegen die geheuchelte Idylle des typischen Heimatfilms“ (i‑ref.de) richtet und „auch von Einsamkeit“ handelt und davon „wie Menschen ihre Neurosen pflegen?“ Ein „Anti-Heimatfilm“? (Deutschlandradio) Der „eine Spur zu gediegen“ (taz) ist? Gar „liebevoll und poetisch?“
All diese Filmbesprechungen hätten mich beinahe davon abgehalten, mir Finsterworld anzuschauen. Selbstzerstörerischer Klamauk und gediegener Anti-Heimatfilm – och, Kracht wäre im Zweifel auch dies zuzutrauen.
Aber: trau, schau wem! Ijoma Mangold hatte in der Zeit Kracht ein paar ganz gut gezielte Fragen zum Film gestellt, die der Schriftsteller in seiner ihm typischen Art sehr ausweichend beantwortete:
Kracht: Deutungen sind jedem freigestellt, aber es ist ja gar nichts intendiert.
ZEIT: Nichts ist intendiert?
Kracht: Nichts.
ZEIT: Das ist ja fast schon ein Mysterium: Der Autor intendiert nichts, und der Leser denkt sich alles.
Kracht: (Pause) Das sind dann eben die Deutungen sekundärer Intelligenz, nach George Steiner.
Also gut, es gibt immerhin „Deutbares“ im Film. Heißt: anschauen.
Und, was Wunder, ich habe einen völlig anderen Film gesehen als alle anderen Kritiker. Einen radikal anderen!
Es kommen – in Episodensträngen, die nach und nach verknüpft werden – vor: Zunächst ein Mann, der in einer Waldhütte haust und sich einen Raben gezähmt hat. Eine Privatschulklasse, uniformiert, Leistungskurs Geschichte, die zu einem KZ-Besuch aufbricht. Darunter zwei fiese Salonfaschisten („Ready for the KZ-Besuch?“), die den Gedenktrubel und den artigen Lehrer Nickel verspotten („Konzentrationslager sind doch eigentlich eine Erfindung der Engländer?“) und zwei melancholische, unmodern wirkende Musterschüler.
Des weiteren: Ein altlinkes Hedonistenehepaar, das einen Mietwagen für die Reise von Paris nach Deutschland buchen will, aber bitte nicht in einem „Nazi-Auto“, also keinen Porsche, BWM oder Mercedes.
Daneben ein mittelaltes kinderloses Pärchen, sie Filmstudentin, er Polizist und ein heimlicher Furry, sie frustriert und egozentrisch. Und, als weitere Paarung: der Fußpfleger Claude und seine Lieblingspatientin, eine alte Dame.
Eine Zusammenfassung der Filmhandlung spare ich mir, man findet das leicht im Netz. Ich möchte hier nur auf jene Dinge eingehen, die mir wundersam symbolisch erschienen und die ich in keiner anderen Filmkritik gefunden habe.
Um bei der „zentralsten Szene“ (Kracht) zu beginnen:
Die brave Schülerin, Natalie, großbebrillt, mit „Durchblick“ also, ist im Alleingang bei den Krematoriumsöfen im KZ. Mit tastenden Fingern erforscht sie die Materie, riecht daran, schaut nach, ob eventuell noch Verbrennungsreste an ihren Fingern hängen geblieben sind. Sie will sich die Sache noch genauer ansehen, öffnet die Klappe, schaut in den Ofen. So ist das natürlich nicht gedacht. Ein KZ ist ja kein interaktives Erfahrungsfeld! Da wird das Mädchen von hinten gepackt und in den Verbrennungsofen geschoben, die Klappe wird verschlossen. Schreie ertönen und werden , viel später, zu einem Wimmern.
Bernhard Schütz, der im Film den reichen Altlinken spielt, sagte in einem rundum dümmlichen Interview mit focus-online über diese Szene: „Die Hexe wird in den Ofen geschoben“. Was gröbster Quatsch ist, denn das Mädchen hat im Film definitiv keine „Hexen“-Funktion. Die Ofenszene endet mit der Befreiung des Mädchens, die zugleich eine Besiegung ist. Das Mädchen kehrt als eine andere aus dem Ofen wieder.
Natalie geht davon aus, daß der biedere Lehrer Nickel (ulkigerweise getauft nach Krachts engem Kompagnon und Der Freund-Mitherausgeber Eckart Nickel) sie, womöglich in Vergewaltigungsabsicht, in den Ofen bugsiert hat, und nicht die beiden anfaschisierten Schnösel, die es tatsächlich waren.
Die „zentralste Szene“ endet damit, daß das Mädchen dahockt und wimmert: „Ich kann es nicht glauben, ich kann es nicht glauben“, während es von oben donnert: „Du m u ß t es glauben.“
Fortan, die letzte Filmszene zeigt es, wird Natalie zu den „Bösen“ halten.
Interessant ist auch Natalies Lektüre im Reisebus, der Comic „Ghost World“, der zuletzt auf dem KZ-Boden liegt und vom Wind zerfleddert wird. Ghostworld lief vor über zehn Jahren im Kino, ein (hervorragender) Film über die Außenseiterin Enid, die an ihrem ultraliberalen Vater verzweifelt und die sich ansonsten von Konsumidioten umgeben sieht. Enid fliegt aus ihrer Kunstakademie, weil (in völliger Fehlinterpretation) ein von ihr aufgehängtes Bild als rassistische und antisemitische Aussage gewertet wird. Auch der Mann, von dem sie das Bild, eine Reklametafel, geliehen hat, verliert dadurch seine Arbeit.
Kracht sagt, der Film – seiner und Finsterwaldes – gehe der Frage nach, wie man schuldlos schuldig werden könne.
Lehrer Nickel fordert nach seiner Führung – bevor er als mutmaßlicher Mißbrauchstäter inhaftiert wird – die Schüler eindringlich auf, nun mit ihm über ihre Gedanken zu reden: Das sei so wichtig! Während Nickels längerer Rede sehen wir hinter seinem Kopf als Großpanorama nur eine in didaktisch-pädagogischer Absicht angefertigte Schautafel, schwarz-weiß. Die Schüler scharren mit den Füßen und schweigen.
Zum Mann in der Waldhütte: Der ist nicht irgendein tierlieber Waldschrat, den die Filmkritiker gesehen haben. Er ist der Waldgänger im Jüngerschen Sinne. Sein Wald ist traumhaft schön. Er ist lichtdurchflutet. Der ganze Film gleißt in hellem Licht. Hier, im Wald, gibt es einen schönen Wechsel von Licht und Schatten.
Daß der Waldgänger sich einen Raben hält, will ich nicht überstrapazieren, der Rabe ist ja genuin ein dankbares Symboltier, man darf an den Germanengott Odin denken oder an König Artus. Ich habe besonders an Edgar Allan Poes The Raven denken müssen. Dort steht der Rabe sinnbildlich für eine trauernde und nie endende Erinnerung. Wem könnte die trauernde Erinnerung der Krachtschen/Finsterwaldnerschen Waldgängers gelten? Deutschland etwa? Bei Poe hört der trauernd zurückgezogen Lebende nur ein Pochen, bevor der Rabe ins Zimmer fliegt.
Let my heart be still a moment and this mystery explore; -
‘Tis the wind and nothing more!’
“Never, nevermore” lauten die nachhallenden hoffnungslosen Worte in Poes Gedicht.
Der Film Finsterworld ist nun eingerahmt von Cat Stevens´ hübschem Lied „The Wind“, dessen Refrain auf „never, never, never!“ geht. Es wird zum Filmbeginn und zum Ende in Gänze abgespielt. Zufall? Oder Deutung „sekundärer Intelligenz“?
In einer Szene gegen Filmende findet der Waldgänger seine verborgene Hütte völlig verwüstet vor. Die Einrichtung liegt in Fetzen verstreut. Der Rabe ist tot. Ein höhnisches Graffiti wurde auf die Zimmerwand gesprüht. Wer flüchtig schaut, liest HAHAHA! Wer die entscheidende Millisekunde wahrnimmt, liest: AHAHAH! Die Initialen sind bekannt. AH ist der, der einem alles versaut hat, auch und gerade das Schöne, Wahre & Gute.
Szenenwechsel. Musterschüler Dominik – der Altmodische – hat sich vor Erreichen des KZ abgesetzt aus dem Reisebus. Er streift durch die Landschaft und findet einen Gesprächspartner, dem er seinen Kummer über die verblödete Erwachsenenwelt mitteilt: einen Hirschkäfer. Wessen Lieblingstier war das noch mal? Nein, es war nicht H., es war J., natürlich.
Dominik wird dann zufällig von dem altlinken Reichenpaar aufgegriffen, von dem mancher Kinokritiker meinte, Kracht und Finsterwalder hätten sich in diese Rollen hineingeschrieben. Die (Harfouch/Schütz) hassen dieses Land nämlich abgrundtief, und mancher meint, auch unsere Drehbuchautoren täten dies. (Schließlich leben Kracht und Finsterwalder beharrlich außer Landes.)
Die beiden Antideutschen im Film haben von der Autovermietung einen Cadillac gestellt bekommen, wunschgemäß ein Nichtnaziauto also. Man sieht die sich schnell drehenden Autoreifen und erkennt in dem Cadillac-Felgenmuster deutlich, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, ein bizarres Zeichen: das Hakenkreuz.
Drinnen, im Kokon des Fahrgehäuses, lästert das Paar gemütlich über dieses beschissen häßliche Land. Dominik trägt seine Theorie dazu bei. Die Häßlichkeit in allem sei Absicht. Weil: Im Dritten Reich sei ja irgendwie alles recht schön gewesen, bis auf die Verbrechen. Sogar die Fahne!
Und weil man nicht wolle, daß „sich das wiederholt“, habe man dafür gesorgt, daß heute alles einfach häßlich sei. Schwarzrotgelb, und so weiter. Dominik wird die Fahrt nicht überleben.
Abschließend meine bescheidene Interpretation der Paarung Fußpfleger Claude/ alte Dame. Claude ist ein Guter, ein naiver Mensch. Er mag die Alte wirklich. Er liebt sie sogar. Kracht selbst hat in der Zeit darauf hingewiesen, daß die Tätigkeit des Hornhautabraspelns als metaphysischer Akt zu verstehen sei.
In dem Film geht es um Schichten, die abgetragen werden und somit dekuvriert. Aber was ist die Thematik? Es heißt einmal in dem Film, man schmiere die kaputt gebombten deutschen Städte mit Beton voll. Diese eingetrockneten Schmierschichten abzuhobeln, darum geht es. Im Film gibt es den Fußpfleger Claude, der seine kleine Fußschleifmaschine ansetzt und das alles freireibt, diese Hornhautschichten. Claude ist gewissermaßen mein Avatar.
Für mich, in meiner Interpretation, steht die alte Dame für Deutschland, diese olle, dem Tode geweihte Nation. Die Alte wird von ihren eigenen Kindern (es ist zufällig das Hedonistenpaar mit dem Cadillac) gehaßt, ihr Enkel ignoriert sie. Dabei hätte sie viel zu berichten! Ihr Mann war im Krieg und konnte hinterher seine Hände nicht mehr gebrauchen. Vielleicht ist deshalb alles verfallen und verwachsen.
Claude immerhin, der Mann mit dem halb wolkigen, halb an ein WC erinnernden Namen, dieser halb verrückte Mensch, kümmert sich um die Alte. Er sammelt die Hobelspäne ihrer Füße ein und verbackt sie als kleine unsichtbare Zutat zu Plätzchen.
Könnte das Teil einer Krachtschen Poetologie sein? Sachen in Minimaldosis einstreuen in einen umfassenderen Kontext, Sachen, die pur fraglos als anstößig gelten müßten?
Claude sagt einmal zu der Alten: Nachts kann ich nicht schlafen, weil ich an dich denken muß. Das darf man wohl als Anklang an die berühmtesten Zeilen aus Heinrich Heines Wintermärchen verstehen: Denk ich an Deutschland in der Nacht/ dann bin ich um den Schlaf gebracht. Heine war kein Vaterlandsverräter, das ist die NS-Deutung. Er litt als exilierter Patriot an seinem Land.
Im Schreiben fallen mir noch drei, vier weitere Detailinterpretationen sekundärer Intelligenz ein, die man zum Film anbringen könnte. Finsterworld ist eines dieser Werke, die noch lange nach dem Anschauen weiterarbeiten.
Herzog
Sehr geehrte Frau Kositza,
vielen Dank für diese schöne, einfühlsame, gedankenreiche, meditative Interpretation.