Ich empfinde das als ziemlich töricht, schon allein deswegen, weil der entscheidende emotionale Kern der WM von 2006 war, daß sie eben in Deutschland selbst stattgefunden hat. Eine Wiederholung ist von der Südafrika-WM in dieser Form gewiß nicht zu erwarten.
Fragt sich außerdem, wieviel nationales Vergnügen das Ganze noch bereitet, wenn die Hälfte der Nationalspieler aus migrationshintergründigen Besitzern deutscher Pässe besteht, die auch noch so schäbig sind, das Mitsingen der Bundeshymne zu verweigern. Ein Bild übrigens, das nicht nur die deutsche Nationalmannschaft bietet – ist etwa das denn noch “Frankreich”? Hier haben die kolonialen Hilfstruppen längst das Kommando übernommen. (Bitte sich hier nur einmal auf das Gedankenexperiment einzulassen, und sich eine japanische Mannschaft vorzustellen, die zu drei Vierteln aus blonden Schweden besteht.)
Wenn Fußball so etwas wie das letzte Refugium des Agonalen, der simulakrische Ersatz für das offenbar unausrottbare Kriegsbedürfnis des Menschen ist, und die Nationalmannschaften so etwas wie symbolische Armeen, die ihre Nation vertreten, dann ähnelt Europa heute der Spätzeit des antiken Römischen Reiches, als die imperialen Heere fast nur mehr aus Söldnern aller Herren Länder, nur nicht aus Römern, bestanden.
Der Verfall des einheimischen Sportes, die Unfähigkeit, noch autochthone Sportler zu rekrutieren, nicht nur in Deutschland, ist eines der alarmierendsten Symptome des Verlustes der eigenen vitalen Substanz – vor allem wenn man bedenkt, welche bedeutende Rolle der Sport traditionell als Bannerträger nationaler und demokratischer Bewegungen gespielt hat, von Turnvater Jahn angefangen. Nationalspieler, die sich nicht mit der Nation identifizieren, für die sie antreten, sondern nur wegen der Kohle und der Berühmtheit dabei sind, sind so gesehen auch nichts anderes als Söldner. Sie dienen der Fahne, aber ehren sie nicht.
Davon abgesehen ist die ubiquitäre Banalisierung der Nationalfarben ebenso lästig wie fragwürdig. Der Overkill entwürdigt die Fahne zu einem reinen Konsumartikel. Inzwischen kann man kein Joghurt mehr öffnen, ohne daß einem das leidige Schwarzrotgold entgegenspringt. Dabei riecht dieser saisonal zugelassene Spaßpatriotismus eher nach einem süßlichen Opiat als nach frischem Wind, wie einer dieser klebrigen Energydrinks mit Gummibärchengeschmack, die auf die Dauer eher matt und schlapp als wach machen.
Er wirkt weniger als patriotisches Speed denn als Morphiumspritze für ein Land, in dem es kaum noch ein Gefühl für Zusammenhalt und patriotische Verantwortlichkeit gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft gibt. Die massenhafte öffentliche Präsenz der Nationalflagge ist trügerisch. Sie kommt zu einem Zeitpunkt, wo sich das deutsche Volk in seiner rapiden ethnischen und kulturellen Auflösung befindet, und das Land selbst von seinen herrschenden Eliten politisch wie wirtschaftlich mit einer kaum mehr verhohlenen Wurschtigkeit preisgegeben wird. Dem haben die Deutschen, die sich nun überall die Fähnchen ans Auto hängen, nicht einmal einen Patriotismus des Zorns oder der Unzufriedenheit entgegenzusetzen. Sie zeigen nirgends einen wirklichen Willen zur Zukunft. Die fahnenschwenkende, akklamierende Masse im öffentlichen Raum – auch dieses Urbild der Demokratie als “Volksherrschaft” ist zum bloßen Simulacrum verkommen.
Im Gegenteil findet eine gewaltige, sich schon über lange Jahre und Jahrzehnte hinwegschleppende Massendesertation statt, die ganz oben an der Spitze des Staates ansetzt, wie die jammervolle Fahnenflucht Horst Köhlers unlängst gezeigt hat. Man müßte einmal ergründen, wie das mit der deutschen Kriegsniederlagen-Obsession zusammenhängt, die sich weniger bedeutsam in den verbissen-revanchistischen “Trauermärschen” des politischen lunatic fringe als den diversen Merkelschen Danksagungen und Unterwerfungsgesten äußert. Desertation ist heute Ehrensache, gerade unter unseren “Mächtigen”.
Der Umgang mit der Vergangenheit spiegelt immer die Gegenwart. Wenn heute in deutschen Großstädten wie Köln oder Stuttgart den Deserteuren von gestern Denkmäler errichtet werden, dann handelt es sich dabei vorrangig um nationalpsychologische Projektionen von heute, die wohl ein unterschwelliges schlechtes Gewissen kaschieren sollen. Wenn es nun anno 1945 angeblich immer und überall ethisch gerechtfertigt war, zu desertieren, warum dann eigentlich heute auch noch, jetzt, wo wir doch endlich die makellos Guten sind, jetzt, wo wir doch endlich alles richtig gemacht haben und machen?
Als hätte er kein Vertrauen in sich selbst, neutralisiert sich der Staat munter selber, was sich tagtäglich in vielen kleinen und großen Schritten und Entscheidungen, in mehr oder weniger verräterischen Gesten und Worten zeigt. So wurde für die Dauer der WM den Berliner Polizisten wegen des (an sich wohl sinnvollen) “Neutralitätsgebots” für Beamte verboten, die schwarzrotgoldene Flagge zu zeigen, während gleichzeitig der Senat das Hissen der regenbogenen Schwulenfahne an öffentlichen Gebäuden für den kommenden “Christopher-Street-Day” bewilligt hat (wie es etwa 2008 im Berliner Polizeipräsidium geschah).
Wer also bereits aus lauter Überdruß schwarzrotgolden kotzt, kann auch schon mal mit dem Scheißen von Regenbogen beginnen, denn wenn es nach dem Präsidentschaftskandidaten Christian Wulff geht, “muß” Deutschland nun noch “bunter und vielfältiger” werden. Das heißt wohl, daß überall (aber wirklich überall) dort, wo die Schulklassen und Fußballmannschaften noch immer so stinklangweilig einfarbig und homogen sind, nach dem Smartiesprinzip noch mehr Menschen mit lustigen “bunten” und “vielfältigen” Hautfarben (und Kleidern, und Religionen, und Eßgewohnheiten…) reingemischt werden müssen, schon allein um der lieben “Integration” willen.
Angesichts solcher Absichtserklärungen kann man es Thilo Sarrazin nicht verübeln, wenn seine Ausfälle inzwischen schon beinah eine tourettesyndromartige Qualität erreichen. Dabei hat er die Lage ja noch ziemlich verharmlost: Die Deutschen verdummen auch ohne Einwanderer zusehends. Wie schon Heiner Müller bemerkte: “Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche.”
Und vor diesem Hintergrund sollte man auch die nun grassierende Schwarzrotgold-Besoffenheit und den dümmlichen Kitschpatriotismus bewerten, der an Bord der Titanic vor dem Breitwandbildschirm fähnleinschwänkend auf ein Ballspiel starrt, während im Unterschiff bereits das Wasser eindringt, und der Eisberg näher kommt.
Sebastian
Alles gut, alles richtig. Nur: Was soll man da noch groß "debattieren"?
Es wäre mir lieber gewesen, hätte die Redaktion Lichtmesz' Analyse des "semantischen Demokratenzauns" für Diskussionen freigeschaltet, zumal der heutige Beitrag gegen Ende immer mehr zu einem eher unoriginellen Lamento bezüglich der "allgemeinen Lage" wird; mit symptomatischen Tagesaktualitäten unterfüttert und in dieser Form sattsam bekannt. Trotzdem natürlich schön zu lesen.
Kommentar M.L.: Originell muß man nicht sein, nur gründlich.