Autorenporträt Gerd Gaiser

pdf der Druckfassung aus Sezession 25/August 2008

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Ein Teil des Wer­kes von Gerd Gai­ser (1908–1976) ist ver­ges­sen, weil nur von weni­gen Autoren alles bleibt. Wer­ner Ber­gen­gruen (1892–1964), Alfred Andersch (1914–1980) oder Inge­borg Bach­mann (1926–1973): Wer kann mehr als eine Arbeit die­ser Schrift­stel­ler auf­zäh­len, wer hat sie gele­sen? Und wer kennt den Inhalt der gro­ßen Roma­ne des Nobel­preis­trä­gers Hein­rich Böll (1917–1985)?

War­um aber ist von Gerd Gai­ser, den man in den fünf­zi­ger Jah­ren als das kon­ser­va­ti­ve Pen­dant zu Böll las und fei­er­te und auf einem guten Weg zum Nobel­preis sah, ganz und gar alles ver­ges­sen? Der eine Grund gilt für Böll eben­so: Gerd Gai­ser schrieb in einem und für ein Zeit­fens­ter, das nach dem ver­lo­re­nen Krieg weit auf war und sich Anfang der sech­zi­ger Jah­re schloß. Der ande­re Grund ist die frü­he Macht des spä­te­ren Kri­ti­ker-Paps­tes Mar­cel Reich-Rani­cki, der den „Fall Gai­ser” aus­rief und maß­geb­lich dazu bei­trug, daß er verschwand.
Zunächst aber: Gerd Gai­ser! Er wur­de am 15. Sep­tem­ber 1908 in Ober­ri­ex­in­gen am mitt­le­ren Neckar gebo­ren und blieb das ein­zi­ge Kind des Land­pfar­rers Her­mann Gai­ser und sei­ner Frau Julie. Gai­ser ging den klas­si­schen Weg aller begab­ter würt­tem­ber­gi­scher Pas­to­ren­söh­ne: Er bestand das Lan­des­examen und wur­de in den theo­lo­gi­schen Semi­na­ren von Schön­tal und Urach huma­nis­tisch erzo­gen. Jedoch ent­schied er sich gegen die geist­li­che Lauf­bahn und folg­te sei­ner künst­le­ri­schen Ader, stu­dier­te in Stutt­gart, Königs­berg und Dres­den Male­rei und Kunst­ge­schich­te und schloß in Tübin­gen ab, um Gym­na­si­al­leh­rer zu wer­den (Ein­stel­lung: 1935).
Mit Beginn des Krie­ges wur­de Gai­ser als Boden­of­fi­zier zu einer Jagd­flie­ger­staf­fel ein­ge­zo­gen, gegen Ende des Krie­ges flog er selbst als Geschwa­der­kom­man­dant. Nach kur­zer Kriegs­ge­fan­gen­schaft über­brück­te er die unmit­tel­ba­re Nach­kriegs­zeit als Holz­fäl­ler, Maler und frei­er Schrift­stel­ler und gelang­te 1949 zurück in den Schul­dienst. 1962 erhielt Gai­ser einen Ruf an die Päd­ago­gi­sche Hoch­schu­le sei­nes Wohn­orts Reut­lin­gen, dort wirk­te er als Pro­fes­sor für Kunst­er­zie­hung bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung 1973. Bereits drei Jah­re spä­ter, am 9. März 1976, starb er.
Bei kaum einem ande­ren Schrift­stel­ler ist das Werk so sehr in einem pro­duk­ti­ven Jahr­zehnt gebün­delt wie bei Gerd Gai­ser. 1949 erschien der ers­te Erzähl­band, Zwi­schen­land, 1959 Gib acht in Domo­kosch. Erzäh­lun­gen, und dazwi­schen ste­hen neben wei­te­ren Sam­mel­bän­den die drei gro­ßen Roma­ne, Eine Stim­me hebt an (1950), Die ster­ben­de Jagd (1953) und Schluß­ball (1958), alle bei Han­ser ver­legt, ins­ge­samt zehn Titel, die sich in ihren Moti­ven und The­men durch eine gera­de­zu über­ra­schungs­lo­se Kon­ti­nui­tät aus­zeich­nen. Die 1960 erschie­ne­ne, an Jün­gers Helio­po­lis erin­nern­de Samm­lung Am Paß Nas­con­do ist dann ein Schritt her­aus aus dem Gai­ser­schen Jahr­zehnt und zugleich das Ende sei­nes Tons.
Gai­ser war also schon vier­zig Jah­re alt, als er mit Zwi­schen­land debü­tier­te, aber dann zog er ein Manu­skript nach dem ande­ren aus der Schub­la­de, und die Wie­der­kehr eini­ger Haupt­fi­gu­ren in unter­schied­li­chen und von­ein­an­der unab­hän­gi­gen Pro­sa­stü­cken und Roma­nen zeigt, daß Gai­ser in der Tat inner­lich schon längst ent­wor­fen hat­te, was er in sei­ne unver­wech­sel­ba­re Spra­che goß und vor einem rasch wach­sen­den Leser­pu­bli­kum äußerte.

Gai­sers The­ma ist die Ver­wun­dung, die kör­per­li­che oder see­li­sche, die des Ein­zel­nen oder eines Ver­ban­des oder einer gan­zen Gene­ra­ti­on, die momen­ta­ne oder die lebens­lan­ge. Mit Ver­wun­dung und Ver­un­si­che­rung und einer exis­tenz­be­dro­hen­den Zer­stö­rung der Lebens­zu­ver­sicht muß­te die Gene­ra­ti­on Gai­sers zwei­mal in ihrem Leben fer­tig wer­den – sofern sie das zwei­te Mal über­haupt erleb­te. Die ers­te Ver­wun­dung muß­ten die Jahr­gän­ge um 1908 ertra­gen, ohne selbst am Vor­gang, dem Krieg, betei­ligt gewe­sen zu sein: Zu jung, um in den Ers­ten Welt­krieg zu zie­hen, beka­men sie die Fol­gen der als Demü­ti­gung auf­ge­faß­ten Ver­trä­ge von Ver­sailles zu spü­ren, sahen poli­tisch erwa­chend die Hilf­lo­sig­keit der glanz­lo­sen Wei­ma­rer Repu­blik und führ­ten jung erwach­sen einen aus­sichts­lo­sen Kampf gegen die Welt­wirt­schafts­kri­se. Sie lausch­ten den „im Fel­de unbe­sieg­ten” Vätern und über­nah­men selbst­ver­ständ­lich das Wort von der Revan­che, von der Revi­si­on des „Schand­frie­dens”. Wenn man nun die glei­cher­ma­ßen anar­chi­sche und straf­fe Prä­gung hin­zu­nimmt, der sich vor allem Bür­ger­söh­ne in der bün­di­schen Jugend unter­war­fen, wird die gera­de­zu dra­ma­ti­sche Span­nung ver­ständ­lich, unter der die jun­ge Gene­ra­ti­on am Vor­abend der „natio­na­len Erhe­bung” stand: Die Hoff­nung galt dem Reich, Aske­se und Dienst­be­reit­schaft waren selbst­ver­ständ­lich, man erwar­te­te die Befehls­aus­ga­be durch einen natio­na­len Füh­rer. Aus der Depres­si­on von 1930, dem als unwür­dig emp­fun­de­nen Stram­peln um irgend­ei­nen Platz in einer dif­fu­sen Gesell­schaft, wur­de der Auf­bruch 1933, der aus­län­di­sche Beob­ach­ter zu Elo­gen auf die frü­hen Jah­re des Drit­ten Rei­ches hin­riß. Die Ver­wun­dung war geheilt, die Ver­un­si­che­rung zerstreut.
Die zwei­te Ver­wun­dung traf die Gene­ra­ti­on Gai­sers noch här­ter. Sein Jahr­gang war es, der Macht­er­grei­fung, Auf­stieg, Exis­tenz­kampf und Unter­gang des Drit­ten Rei­ches als Spie­ge­lung des eige­nen Lebens­wegs begrei­fen muß­te. 1933 war Gai­ser 25 Jah­re alt, bei Kriegs­be­ginn 31, und mit 36 geriet er in Gefan­gen­schaft, aus der er nach eini­gen Mona­ten zurück an die Schwä­bi­sche Alb kehr­te, um wie­der ganz von vorn anzu­fan­gen – ver­wun­det, ver­un­si­chert, immer­hin am Leben und nicht nach Sibi­ri­en ver­schleppt, aber den­noch ohne inne­res und äuße­res Gefüge.
Gai­ser selbst war 1933 dem NS-Leh­rer­bund und 1937 der NSDAP bei­getre­ten, und zwar nicht, weil er sich einen Kar­rie­re­sprung ver­spro­chen hat­te, son­dern weil er über­zeugt davon war, damit die rich­ti­ge Poli­tik zu unter­stüt­zen. Beleg dafür ist der ein­zi­ge Gedicht­band, den Gai­ser ver­öf­fent­lich­te: Rei­ter am Him­mel (1941) ver­sam­melt expres­si­ve Ver­se, die dem Füh­rer Gefolg­schaft und Wehr­be­reit­schaft gegen den Feind aus dem Osten signa­li­sie­ren. Curt Hohoff hat „Gai­sers Reichs­ly­rik” tref­fend als ein „von Nietz­sche inau­gu­rier­tes Koket­tie­ren mit der Gewalt” bezeich­net: „Das Hit­ler­sche Regime konn­te von sol­chen Idea­lis­ten für eine Mög­lich­keit der poli­ti­schen Erfül­lung gehal­ten wer­den. Wie schnell ver­flog sie für Gaiser!”

Sie ver­flog, die­se Mög­lich­keit, und aus der ansons­ten recht schwa­chen, aber red­li­chen Werk­bio­gra­phie des Ger­ma­nis­ten Bern­hard Karl Vögt­lin über Gai­ser läßt sich eine tref­fen­de Beur­tei­lung zitie­ren: „Statt sich mit der poli­ti­schen Lage maß­voll aus­ein­an­der­zu­set­zen, fällt Gai­ser in Extrem­po­si­tio­nen, die ihm und dem deut­schen Volk nur noch die Mög­lich­keit zwi­schen Selbst­aus­lö­schung oder Welt­herr­schaft lassen.”
Erlie­gen also? Bereits in Zwi­schen­land kom­men die Figu­ren Gai­sers, von weit her sicht­bar, erschöpft die Land­stra­ße ent­lang oder über eine Wie­se oder einen Hang hin­auf, und sie sind tat­säch­lich alle in einem „Zwi­schen­land” ange­sie­delt, haben ihr Schick­sal ganz und gar nicht mehr in der Hand, müs­sen erdul­den und mit etwas fer­tig wer­den. Sie sind in einem Nach­krieg, der sich von dem nach dem Ers­ten Welt­krieg dadurch unter­schei­det, daß die Nie­der­la­ge total ist, die mili­tä­ri­sche und die inne­re. Woher also käme Rat, wie könn­te man weiterleben?
Neh­men wir den ers­ten Roman, Eine Stim­me hebt an: Der Sol­dat Ober­s­te­lehn kehrt aus der Gefan­gen­schaft heim und doch nicht heim, denn sei­ne Frau ist ihm untreu gewor­den, und so ver­dingt sich der Heim­keh­rer als Knecht und als Holz­fäl­ler in einem Dorf, das nicht sei­nes ist. Prä­zi­se schil­dert Gai­ser die Geh­ver­su­che der Men­schen nach dem Zusam­men­bruch, plas­tisch schält er die Typen her­aus – die Zer­mürb­ten, die War­ten­den, die Ent­gleis­ten, die Emsi­gen, die Gewin­ner, die Schie­ber. Recht bald ist klar, daß sei­ne Sym­pa­thie den­je­ni­gen gehört, die nicht ans Geschäf­te­ma­chen gehen, son­dern dem Nach­hall des Ein­stur­zes eines Rei­ches, eines Staa­tes, einer Macht lau­schen und sich selbst ange­sichts die­ser welt­ge­schicht­li­chen Erschüt­te­rung nicht sehr wich­tig nehmen.
Die­se lau­schen­den Figu­ren gera­ten rasch gegen die­je­ni­gen ins Hin­ter­tref­fen, die sich mit einem gera­de­zu auf­dring­li­chen Sinn fürs Prak­ti­sche auch gleich in der neu­en Situa­ti­on der geschla­ge­nen Nati­on ein­zu­rich­ten ver­mö­gen. Man kann das Per­so­nal der Roma­ne und Erzäh­lun­gen Gai­sers nach inne­rer Tie­fe sor­tie­ren, und immer gehen mit die­ser Tie­fe Melan­cho­lie, Inte­gri­tät und Stolz ein­her, ein stil­ler Stolz, der sich vor denen zeigt, die den Men­schen nach sei­nem Markt­wert taxieren.
Der Markt­wert und die Ver­ding­li­chung des Men­schen: Das war schon in der Wei­ma­rer Repu­blik das, woge­gen sich die idea­lis­tisch-roman­ti­sche Jugend­be­we­gung wand­te, und die­sen Vor­be­halt gegen den bür­ger­li­chen Ent­wurf des Mit­ver­die­nens und Berech­nens hat Gai­ser ver­in­ner­licht und auch, oder gera­de, im Krieg nicht ver­lo­ren. Er ist das Fun­da­ment sei­ner kon­ser­va­ti­ven Kul­tur­kri­tik, die an Fried­rich Georg Jün­gers Per­fek­ti­on der Tech­nik oder an den Auf­ruf Mensch und Erde von Lud­wig Kla­ges erin­nert: Das immer­gül­ti­ge und immer­glei­che Ech­te, Unbe­ding­te, Orga­ni­sche, Gesun­de wird vom zivi­li­sa­to­risch Deka­den­ten, Künst­li­chen, Defor­mier­ten infi­ziert und zuletzt zer­stört. Mensch und Natur wer­den ver­nutzt und ver­dingt und damit letzt­lich ihres Lebens (das mehr ist als die bio­lo­gi­sche Exis­tenz) beraubt.

In man­chen Pas­sa­gen gera­de­zu pla­ka­tiv, stellt Gai­ser die­se Kul­tur­kri­tik in sei­nem drit­ten Roman, dem Schluß­ball, dar: The­ma ist das Wirt­schafts­wun­der der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen fünf­zi­ger Jah­re, Ort ein klei­nes Städt­chen mit dem spre­chen­den Namen Neu-Spuhl, das ohne his­to­ri­schen Kern (der eine Last wäre) unab­läs­sig wächst und einen zufrie­de­nen, aber fla­chen Typ Mensch beher­bergt: Jeder ver­dient mit, jeder macht sei­nen Schnitt, und der „Schluß­ball” am Ende des Tanz­kur­ses ist eine Art Initia­ti­ons­ri­tus in die frag­lo­se und leicht erlern­ba­re Exis­tenz eines Neu-Spuh­lers. Aber inmit­ten die­ser glat­ten Stadt leben noch ein paar von Gai­sers Lieb­lings­fi­gu­ren, also wie­der die Frau­en und Män­ner, die nicht mit­tun wol­len, die sich nicht so rasch ein­zu­rich­ten wis­sen in den neu­en Bedin­gun­gen, und deren Prä­senz ein Ver­weis auf eine eben erst unter­ge­gan­ge­ne, nach ande­ren Maß­stä­ben geord­ne­te Welt ist.
Die­ser Gegen­satz ist im Schluß­ball, wie gesagt, manch­mal schon sehr sche­ma­tisch und pla­ka­tiv aus­ge­führt, und die­ser Umstand mach­te den Roman gleich­zei­tig zu einer Bot­schaft und einem Schluß­punkt: Weil Gai­ser eine Bot­schaft ver­kün­de­te und es nicht bei Welt­erschlie­ßung und Wirk­lich­keits­er­fas­sung beließ, wur­de er angreif­bar. Zwar ist Gai­ser nie plump: Gegen die an Idea­len und nicht an Akti­en hän­gen­den Figu­ren des Romans steht der Vor­wurf im Rau­me, daß sie auch gegen die pla­nie­ren­de Wirt­schaft wie­der nichts wür­den unter­neh­men kön­nen, so, wie sie doch auch gegen das Drit­te Reich, das jedes Ide­al per­ver­tier­te, nichts unter­nom­men hät­ten. Aber den­noch sind die Sym­pa­thien Gai­sers überdeutlich.
Vor den Angrif­fen ret­te­te ihn auch der moder­ne, mul­ti­per­spek­ti­vi­sche Stil nicht, den man jüngst wie­der bei Uwe Tell­kamps Eis­vo­gel oder Eva Maria Schen­kels Tannöd antref­fen konn­te: Im Schluß­ball erzäh­len 30 „Stim­men”, was geschah, und nach und nach fügt sich für den Leser ein voll­stän­di­ges Bild zusam­men. Gai­ser bün­delt in der Tech­nik der Per­spek­ti­ve noch­mals sei­ne Kunst, den Jar­gon ganz unter­schied­li­cher Milieus und Per­so­nen lebens­nah und bis ins Detail nach­zu­bil­den. Curt Hohoff rühmt die­se Spra­che als Bewah­rung einer viel­fäl­ti­gen Welt: „Gegen den Ratio­na­lis­mus, gegen die als Fir­nis auf­ge­faß­te Zivi­li­sa­ti­on rich­tet sich der Sprach­ge­brauch und steht im Zusam­men­hang nicht nur mit der schwä­bisch-sek­tie­re­ri­schen und höl­der­lin-roman­ti­schen Tra­di­ti­on, son­dern auch mit der expres­sio­nis­ti­schen Kul­tur­kri­tik bei Heym, Sor­ge, Tra­kl und Benn.”
Es war der vor allem als Kir­chen­kri­ti­ker bekann­te Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Karl­heinz Desch­ner, der auf die eigen­tüm­li­che, je nach Spre­cher und Milieu dia­lek­tal gespren­kel­te Spra­che Gai­sers ein­hieb und selbst bös­ar­ti­ge Ver­zer­run­gen durch Aus­las­sung von Satz­tei­len und Zusam­men­hän­gen nicht scheu­te. Aber natür­lich muß im Schluß­ball etwa Frau Ander­noth den Abschied von ihrem ins Feld ein­rü­cken­den Mann am Bahn­hof in ihrer ganz ein­fa­chen, gram­ma­tisch nicht ganz rich­ti­gen Spra­che erzäh­len. Was ver­miß­te Desch­ner? Distanz? Das Iro­ni­sche? Gai­ser spöt­telt nie über sei­ne Figu­ren: Der Leser ist ganz nah bei ihnen, wenn sie sprechen.

Desch­ners 1964 vor­ge­tra­ge­ne Kri­tik an der Spra­che fiel nicht auf unvor­be­rei­te­ten Boden. Ein Jahr zuvor hat­te ein ande­rer Lite­ra­tur­kri­ti­ker den Fall Gerd Gai­ser aus­ge­ru­fen: Mar­cel Reich-Rani­cki, den der Schrift­stel­ler Hel­muth Kraus­ser in sei­nem Tage­buch den über­mäch­ti­gen „Reichs­ra­ni­cker” nann­te, mach­te den Lyrik­band Die Rei­ter am Him­mel zum Aus­gangs- und Mit­tel­punkt von Gai­sers Werk. In einer geschick­ten Col­la­ge aus Zita­ten und Deu­tun­gen grup­pier­te er die Nach­kriegs­er­zäh­lun­gen und die Roma­ne um Gai­sers in den Gedich­ten angeb­lich offen aus­ge­spro­che­nen „Ras­sen­haß” und einen alles durch­wir­ken­den „Blut-und-Boden-Mythos”. Es ist offen­sicht­lich, daß Reich-Rani­cki den­je­ni­gen kaputt­zu­schrei­ben sich vor­nahm, den ande­re Kri­ti­ker zu Recht als „das größ­te Pro­sa­ta­lent der deut­schen Nach­kriegs­li­te­ra­tur” (Gün­ter Blö­cker) bezeichneten.
Und so fin­det man bei Reich-Rani­cki Mit­te der sech­zi­ger Jah­re jene Keu­le, mit der er spä­ter nach Belie­ben unlieb­sa­men Autoren oder ande­ren Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens den Schä­del ein­schlug. Über Gai­sers Wer­ke heißt es, sie sei­en geschrie­ben aus der „Per­spek­ti­ve des ver­bit­ter­ten Außen­sei­ters, des Man­nes, der 1945 zu einem ele­gi­schen Bar­den wur­de, der aber nicht auf­ge­hört hat, ein völ­ki­scher Beob­ach­ter zu sein.” Und zeit­gleich warf Reich-Rani­cki anläß­lich eines Tex­tes über den Ausch­witz-Pro­zeß in Frank­furt hin: „Und gern möch­te ich wis­sen, was ein Mann wie Gerd Gai­ser auf der Zuhö­rer­tri­bü­ne des Ausch­witz-Pro­zes­ses füh­len oder den­ken wür­de. Das mei­ne ich ganz ohne Iro­nie und Bos­heit. Er hat damals mit­ge­macht, seit­dem vie­le Bücher ver­faßt, die aber, mei­ner Ansicht nach, fast immer von dem­sel­ben Geist zeugen.”
Sol­che Sät­ze leben von ver­nich­ten­der Andeu­tung. Sie führ­ten dazu, daß Gai­ser aus den Schul­bü­chern ver­schwand und in den Ruch geriet, ein Ver­tu­scher zu sein. Sie tru­gen dazu bei, daß sei­ne Wer­ke alle­samt ver­ges­sen sind.
Was könn­te den­noch blei­ben, wenn sich ein Ver­lag fän­de, der Gai­ser wie­der­ent­deck­te? Eine Samm­lung sei­ner dich­tes­ten und sug­ges­tivs­ten Erzäh­lun­gen wäre schön: Gib acht in Domo­kosch, Schwes­ter­le­gen­de, Vor­nacht, Das Was­ser ver­birgt sich im Berg und Anie­la. Dann die Auf­zeich­nun­gen des Archäo­lo­gen Peter Hag­mann, die unter dem Titel Das Schiff im Berg die ewi­ge Wie­der­kehr des Glei­chen anhand der Geschich­te eines Ber­ges in der Schwä­bi­schen Alb the­ma­ti­sie­ren. Vor allem aber soll­te der wohl bes­te Roman über den aus­sichts­lo­sen Kampf einer deut­schen Jagd­staf­fel am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs der Ver­ges­sen­heit ent­ris­sen wer­den: Die ster­ben­de Jagd beschreibt andert­halb Tage auf einem klei­nen Flug­platz irgend­wo im Nor­den. Gai­ser gelingt es, die her­aus­ra­gen­de sol­da­ti­sche Tugend und den beson­de­ren Ethos der Flie­ger mit dem grund­sätz­li­chen Dilem­ma vie­ler deut­scher Sol­da­ten glaub­haft und stim­mig zu ver­knüp­fen. Zwei­fel und Skep­sis gegen­über der mora­li­schen Legi­ti­mi­tät der poli­ti­schen Füh­rung tre­ten gegen die Dienst­pflicht und ein frag­lo­ses Funk­tio­nie­ren-Müs­sen in einem höchst anspruchs­vol­len Kampf­feld zurück. Mög­lich­kei­ten des Wider­stands kom­men nicht zur Spra­che, obwohl die Not­wen­dig­keit spür­bar ist. Und auch hier wie­der: unnach­ahm­li­cher Jargon.
Wer die Gene­ra­ti­on von 1908, die „ver­lo­re­nen Jahr­gän­ge” ver­ste­hen will, muß Gai­ser lesen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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