Ein Teil des Werkes von Gerd Gaiser (1908–1976) ist vergessen, weil nur von wenigen Autoren alles bleibt. Werner Bergengruen (1892–1964), Alfred Andersch (1914–1980) oder Ingeborg Bachmann (1926–1973): Wer kann mehr als eine Arbeit dieser Schriftsteller aufzählen, wer hat sie gelesen? Und wer kennt den Inhalt der großen Romane des Nobelpreisträgers Heinrich Böll (1917–1985)?
Warum aber ist von Gerd Gaiser, den man in den fünfziger Jahren als das konservative Pendant zu Böll las und feierte und auf einem guten Weg zum Nobelpreis sah, ganz und gar alles vergessen? Der eine Grund gilt für Böll ebenso: Gerd Gaiser schrieb in einem und für ein Zeitfenster, das nach dem verlorenen Krieg weit auf war und sich Anfang der sechziger Jahre schloß. Der andere Grund ist die frühe Macht des späteren Kritiker-Papstes Marcel Reich-Ranicki, der den „Fall Gaiser” ausrief und maßgeblich dazu beitrug, daß er verschwand.
Zunächst aber: Gerd Gaiser! Er wurde am 15. September 1908 in Oberriexingen am mittleren Neckar geboren und blieb das einzige Kind des Landpfarrers Hermann Gaiser und seiner Frau Julie. Gaiser ging den klassischen Weg aller begabter württembergischer Pastorensöhne: Er bestand das Landesexamen und wurde in den theologischen Seminaren von Schöntal und Urach humanistisch erzogen. Jedoch entschied er sich gegen die geistliche Laufbahn und folgte seiner künstlerischen Ader, studierte in Stuttgart, Königsberg und Dresden Malerei und Kunstgeschichte und schloß in Tübingen ab, um Gymnasiallehrer zu werden (Einstellung: 1935).
Mit Beginn des Krieges wurde Gaiser als Bodenoffizier zu einer Jagdfliegerstaffel eingezogen, gegen Ende des Krieges flog er selbst als Geschwaderkommandant. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft überbrückte er die unmittelbare Nachkriegszeit als Holzfäller, Maler und freier Schriftsteller und gelangte 1949 zurück in den Schuldienst. 1962 erhielt Gaiser einen Ruf an die Pädagogische Hochschule seines Wohnorts Reutlingen, dort wirkte er als Professor für Kunsterziehung bis zu seiner Emeritierung 1973. Bereits drei Jahre später, am 9. März 1976, starb er.
Bei kaum einem anderen Schriftsteller ist das Werk so sehr in einem produktiven Jahrzehnt gebündelt wie bei Gerd Gaiser. 1949 erschien der erste Erzählband, Zwischenland, 1959 Gib acht in Domokosch. Erzählungen, und dazwischen stehen neben weiteren Sammelbänden die drei großen Romane, Eine Stimme hebt an (1950), Die sterbende Jagd (1953) und Schlußball (1958), alle bei Hanser verlegt, insgesamt zehn Titel, die sich in ihren Motiven und Themen durch eine geradezu überraschungslose Kontinuität auszeichnen. Die 1960 erschienene, an Jüngers Heliopolis erinnernde Sammlung Am Paß Nascondo ist dann ein Schritt heraus aus dem Gaiserschen Jahrzehnt und zugleich das Ende seines Tons.
Gaiser war also schon vierzig Jahre alt, als er mit Zwischenland debütierte, aber dann zog er ein Manuskript nach dem anderen aus der Schublade, und die Wiederkehr einiger Hauptfiguren in unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Prosastücken und Romanen zeigt, daß Gaiser in der Tat innerlich schon längst entworfen hatte, was er in seine unverwechselbare Sprache goß und vor einem rasch wachsenden Leserpublikum äußerte.
Gaisers Thema ist die Verwundung, die körperliche oder seelische, die des Einzelnen oder eines Verbandes oder einer ganzen Generation, die momentane oder die lebenslange. Mit Verwundung und Verunsicherung und einer existenzbedrohenden Zerstörung der Lebenszuversicht mußte die Generation Gaisers zweimal in ihrem Leben fertig werden – sofern sie das zweite Mal überhaupt erlebte. Die erste Verwundung mußten die Jahrgänge um 1908 ertragen, ohne selbst am Vorgang, dem Krieg, beteiligt gewesen zu sein: Zu jung, um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, bekamen sie die Folgen der als Demütigung aufgefaßten Verträge von Versailles zu spüren, sahen politisch erwachend die Hilflosigkeit der glanzlosen Weimarer Republik und führten jung erwachsen einen aussichtslosen Kampf gegen die Weltwirtschaftskrise. Sie lauschten den „im Felde unbesiegten” Vätern und übernahmen selbstverständlich das Wort von der Revanche, von der Revision des „Schandfriedens”. Wenn man nun die gleichermaßen anarchische und straffe Prägung hinzunimmt, der sich vor allem Bürgersöhne in der bündischen Jugend unterwarfen, wird die geradezu dramatische Spannung verständlich, unter der die junge Generation am Vorabend der „nationalen Erhebung” stand: Die Hoffnung galt dem Reich, Askese und Dienstbereitschaft waren selbstverständlich, man erwartete die Befehlsausgabe durch einen nationalen Führer. Aus der Depression von 1930, dem als unwürdig empfundenen Strampeln um irgendeinen Platz in einer diffusen Gesellschaft, wurde der Aufbruch 1933, der ausländische Beobachter zu Elogen auf die frühen Jahre des Dritten Reiches hinriß. Die Verwundung war geheilt, die Verunsicherung zerstreut.
Die zweite Verwundung traf die Generation Gaisers noch härter. Sein Jahrgang war es, der Machtergreifung, Aufstieg, Existenzkampf und Untergang des Dritten Reiches als Spiegelung des eigenen Lebenswegs begreifen mußte. 1933 war Gaiser 25 Jahre alt, bei Kriegsbeginn 31, und mit 36 geriet er in Gefangenschaft, aus der er nach einigen Monaten zurück an die Schwäbische Alb kehrte, um wieder ganz von vorn anzufangen – verwundet, verunsichert, immerhin am Leben und nicht nach Sibirien verschleppt, aber dennoch ohne inneres und äußeres Gefüge.
Gaiser selbst war 1933 dem NS-Lehrerbund und 1937 der NSDAP beigetreten, und zwar nicht, weil er sich einen Karrieresprung versprochen hatte, sondern weil er überzeugt davon war, damit die richtige Politik zu unterstützen. Beleg dafür ist der einzige Gedichtband, den Gaiser veröffentlichte: Reiter am Himmel (1941) versammelt expressive Verse, die dem Führer Gefolgschaft und Wehrbereitschaft gegen den Feind aus dem Osten signalisieren. Curt Hohoff hat „Gaisers Reichslyrik” treffend als ein „von Nietzsche inauguriertes Kokettieren mit der Gewalt” bezeichnet: „Das Hitlersche Regime konnte von solchen Idealisten für eine Möglichkeit der politischen Erfüllung gehalten werden. Wie schnell verflog sie für Gaiser!”
Sie verflog, diese Möglichkeit, und aus der ansonsten recht schwachen, aber redlichen Werkbiographie des Germanisten Bernhard Karl Vögtlin über Gaiser läßt sich eine treffende Beurteilung zitieren: „Statt sich mit der politischen Lage maßvoll auseinanderzusetzen, fällt Gaiser in Extrempositionen, die ihm und dem deutschen Volk nur noch die Möglichkeit zwischen Selbstauslöschung oder Weltherrschaft lassen.”
Erliegen also? Bereits in Zwischenland kommen die Figuren Gaisers, von weit her sichtbar, erschöpft die Landstraße entlang oder über eine Wiese oder einen Hang hinauf, und sie sind tatsächlich alle in einem „Zwischenland” angesiedelt, haben ihr Schicksal ganz und gar nicht mehr in der Hand, müssen erdulden und mit etwas fertig werden. Sie sind in einem Nachkrieg, der sich von dem nach dem Ersten Weltkrieg dadurch unterscheidet, daß die Niederlage total ist, die militärische und die innere. Woher also käme Rat, wie könnte man weiterleben?
Nehmen wir den ersten Roman, Eine Stimme hebt an: Der Soldat Oberstelehn kehrt aus der Gefangenschaft heim und doch nicht heim, denn seine Frau ist ihm untreu geworden, und so verdingt sich der Heimkehrer als Knecht und als Holzfäller in einem Dorf, das nicht seines ist. Präzise schildert Gaiser die Gehversuche der Menschen nach dem Zusammenbruch, plastisch schält er die Typen heraus – die Zermürbten, die Wartenden, die Entgleisten, die Emsigen, die Gewinner, die Schieber. Recht bald ist klar, daß seine Sympathie denjenigen gehört, die nicht ans Geschäftemachen gehen, sondern dem Nachhall des Einsturzes eines Reiches, eines Staates, einer Macht lauschen und sich selbst angesichts dieser weltgeschichtlichen Erschütterung nicht sehr wichtig nehmen.
Diese lauschenden Figuren geraten rasch gegen diejenigen ins Hintertreffen, die sich mit einem geradezu aufdringlichen Sinn fürs Praktische auch gleich in der neuen Situation der geschlagenen Nation einzurichten vermögen. Man kann das Personal der Romane und Erzählungen Gaisers nach innerer Tiefe sortieren, und immer gehen mit dieser Tiefe Melancholie, Integrität und Stolz einher, ein stiller Stolz, der sich vor denen zeigt, die den Menschen nach seinem Marktwert taxieren.
Der Marktwert und die Verdinglichung des Menschen: Das war schon in der Weimarer Republik das, wogegen sich die idealistisch-romantische Jugendbewegung wandte, und diesen Vorbehalt gegen den bürgerlichen Entwurf des Mitverdienens und Berechnens hat Gaiser verinnerlicht und auch, oder gerade, im Krieg nicht verloren. Er ist das Fundament seiner konservativen Kulturkritik, die an Friedrich Georg Jüngers Perfektion der Technik oder an den Aufruf Mensch und Erde von Ludwig Klages erinnert: Das immergültige und immergleiche Echte, Unbedingte, Organische, Gesunde wird vom zivilisatorisch Dekadenten, Künstlichen, Deformierten infiziert und zuletzt zerstört. Mensch und Natur werden vernutzt und verdingt und damit letztlich ihres Lebens (das mehr ist als die biologische Existenz) beraubt.
In manchen Passagen geradezu plakativ, stellt Gaiser diese Kulturkritik in seinem dritten Roman, dem Schlußball, dar: Thema ist das Wirtschaftswunder der bundesrepublikanischen fünfziger Jahre, Ort ein kleines Städtchen mit dem sprechenden Namen Neu-Spuhl, das ohne historischen Kern (der eine Last wäre) unablässig wächst und einen zufriedenen, aber flachen Typ Mensch beherbergt: Jeder verdient mit, jeder macht seinen Schnitt, und der „Schlußball” am Ende des Tanzkurses ist eine Art Initiationsritus in die fraglose und leicht erlernbare Existenz eines Neu-Spuhlers. Aber inmitten dieser glatten Stadt leben noch ein paar von Gaisers Lieblingsfiguren, also wieder die Frauen und Männer, die nicht mittun wollen, die sich nicht so rasch einzurichten wissen in den neuen Bedingungen, und deren Präsenz ein Verweis auf eine eben erst untergegangene, nach anderen Maßstäben geordnete Welt ist.
Dieser Gegensatz ist im Schlußball, wie gesagt, manchmal schon sehr schematisch und plakativ ausgeführt, und dieser Umstand machte den Roman gleichzeitig zu einer Botschaft und einem Schlußpunkt: Weil Gaiser eine Botschaft verkündete und es nicht bei Welterschließung und Wirklichkeitserfassung beließ, wurde er angreifbar. Zwar ist Gaiser nie plump: Gegen die an Idealen und nicht an Aktien hängenden Figuren des Romans steht der Vorwurf im Raume, daß sie auch gegen die planierende Wirtschaft wieder nichts würden unternehmen können, so, wie sie doch auch gegen das Dritte Reich, das jedes Ideal pervertierte, nichts unternommen hätten. Aber dennoch sind die Sympathien Gaisers überdeutlich.
Vor den Angriffen rettete ihn auch der moderne, multiperspektivische Stil nicht, den man jüngst wieder bei Uwe Tellkamps Eisvogel oder Eva Maria Schenkels Tannöd antreffen konnte: Im Schlußball erzählen 30 „Stimmen”, was geschah, und nach und nach fügt sich für den Leser ein vollständiges Bild zusammen. Gaiser bündelt in der Technik der Perspektive nochmals seine Kunst, den Jargon ganz unterschiedlicher Milieus und Personen lebensnah und bis ins Detail nachzubilden. Curt Hohoff rühmt diese Sprache als Bewahrung einer vielfältigen Welt: „Gegen den Rationalismus, gegen die als Firnis aufgefaßte Zivilisation richtet sich der Sprachgebrauch und steht im Zusammenhang nicht nur mit der schwäbisch-sektiererischen und hölderlin-romantischen Tradition, sondern auch mit der expressionistischen Kulturkritik bei Heym, Sorge, Trakl und Benn.”
Es war der vor allem als Kirchenkritiker bekannte Literaturwissenschaftler Karlheinz Deschner, der auf die eigentümliche, je nach Sprecher und Milieu dialektal gesprenkelte Sprache Gaisers einhieb und selbst bösartige Verzerrungen durch Auslassung von Satzteilen und Zusammenhängen nicht scheute. Aber natürlich muß im Schlußball etwa Frau Andernoth den Abschied von ihrem ins Feld einrückenden Mann am Bahnhof in ihrer ganz einfachen, grammatisch nicht ganz richtigen Sprache erzählen. Was vermißte Deschner? Distanz? Das Ironische? Gaiser spöttelt nie über seine Figuren: Der Leser ist ganz nah bei ihnen, wenn sie sprechen.
Deschners 1964 vorgetragene Kritik an der Sprache fiel nicht auf unvorbereiteten Boden. Ein Jahr zuvor hatte ein anderer Literaturkritiker den Fall Gerd Gaiser ausgerufen: Marcel Reich-Ranicki, den der Schriftsteller Helmuth Krausser in seinem Tagebuch den übermächtigen „Reichsranicker” nannte, machte den Lyrikband Die Reiter am Himmel zum Ausgangs- und Mittelpunkt von Gaisers Werk. In einer geschickten Collage aus Zitaten und Deutungen gruppierte er die Nachkriegserzählungen und die Romane um Gaisers in den Gedichten angeblich offen ausgesprochenen „Rassenhaß” und einen alles durchwirkenden „Blut-und-Boden-Mythos”. Es ist offensichtlich, daß Reich-Ranicki denjenigen kaputtzuschreiben sich vornahm, den andere Kritiker zu Recht als „das größte Prosatalent der deutschen Nachkriegsliteratur” (Günter Blöcker) bezeichneten.
Und so findet man bei Reich-Ranicki Mitte der sechziger Jahre jene Keule, mit der er später nach Belieben unliebsamen Autoren oder anderen Personen des öffentlichen Lebens den Schädel einschlug. Über Gaisers Werke heißt es, sie seien geschrieben aus der „Perspektive des verbitterten Außenseiters, des Mannes, der 1945 zu einem elegischen Barden wurde, der aber nicht aufgehört hat, ein völkischer Beobachter zu sein.” Und zeitgleich warf Reich-Ranicki anläßlich eines Textes über den Auschwitz-Prozeß in Frankfurt hin: „Und gern möchte ich wissen, was ein Mann wie Gerd Gaiser auf der Zuhörertribüne des Auschwitz-Prozesses fühlen oder denken würde. Das meine ich ganz ohne Ironie und Bosheit. Er hat damals mitgemacht, seitdem viele Bücher verfaßt, die aber, meiner Ansicht nach, fast immer von demselben Geist zeugen.”
Solche Sätze leben von vernichtender Andeutung. Sie führten dazu, daß Gaiser aus den Schulbüchern verschwand und in den Ruch geriet, ein Vertuscher zu sein. Sie trugen dazu bei, daß seine Werke allesamt vergessen sind.
Was könnte dennoch bleiben, wenn sich ein Verlag fände, der Gaiser wiederentdeckte? Eine Sammlung seiner dichtesten und suggestivsten Erzählungen wäre schön: Gib acht in Domokosch, Schwesterlegende, Vornacht, Das Wasser verbirgt sich im Berg und Aniela. Dann die Aufzeichnungen des Archäologen Peter Hagmann, die unter dem Titel Das Schiff im Berg die ewige Wiederkehr des Gleichen anhand der Geschichte eines Berges in der Schwäbischen Alb thematisieren. Vor allem aber sollte der wohl beste Roman über den aussichtslosen Kampf einer deutschen Jagdstaffel am Ende des Zweiten Weltkriegs der Vergessenheit entrissen werden: Die sterbende Jagd beschreibt anderthalb Tage auf einem kleinen Flugplatz irgendwo im Norden. Gaiser gelingt es, die herausragende soldatische Tugend und den besonderen Ethos der Flieger mit dem grundsätzlichen Dilemma vieler deutscher Soldaten glaubhaft und stimmig zu verknüpfen. Zweifel und Skepsis gegenüber der moralischen Legitimität der politischen Führung treten gegen die Dienstpflicht und ein fragloses Funktionieren-Müssen in einem höchst anspruchsvollen Kampffeld zurück. Möglichkeiten des Widerstands kommen nicht zur Sprache, obwohl die Notwendigkeit spürbar ist. Und auch hier wieder: unnachahmlicher Jargon.
Wer die Generation von 1908, die „verlorenen Jahrgänge” verstehen will, muß Gaiser lesen.