Masse und Mündigkeit

pdf der Druckfassung aus Sezession 24/Juni 2008

sez_nr_247von Daniel Bigalke

Die Welt wird immer demokratischer. Dies zeigte der Bertelsmann Transformation Index 2006. Zwar vollzögen sich die Fortschritte langsamer als in den 90er Jahren, fast überall hätten sich aber demokratische Errungenschaften bewährt.


Der media­le Grund­te­nor zur Demo­kra­tie­fra­ge lau­tet so: Demo­kra­tie ist kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit, son­dern Ergeb­nis his­to­ri­scher Ent­wick­lun­gen, auf denen man sich nicht aus­ru­hen soll. Demo­kra­tie bleibt reform­be­dürf­tig, ihre Vita­li­sie­rung hängt von der Ein­däm­mung frem­den­feind­li­cher Ein­stel­lun­gen ab, Par­ti­zi­pa­ti­on ist dabei der Schlüs­sel zur Inte­gra­ti­on in die demo­kra­ti­sche Gesellschaft.
Es war jedoch stets die Leis­tung phi­lo­so­phi­scher Kul­tur­kri­tik, das Modell des sich „demo­kra­tisch” pro­kla­mie­ren­den Staa­tes zu ent­lar­ven, um aus dem Fort­schritts­glau­ben, der poli­ti­schen und damit auch demo­kra­ti­schen Uto­pie einer rea­li­sier­ten Mün­dig­keit her­aus­zu­tre­ten. Die Ver­mas­sung in Groß­städ­ten, die Stan­dar­di­sie­rung der Ver­hal­tens­wei­sen sowie das Erschlei­chen sozia­ler Bin­dun­gen durch wuchern­de und ent­mün­di­gen­de staat­li­che Büro­kra­tien wur­den zum The­ma der Wis­sen­schaft. Die Benen­nun­gen jener Ten­den­zen, sind breit gefä­chert. Bei Karl Jas­pers war es der Appa­rat, bei José Orte­ga y Gas­set die Mas­sen­ge­sell­schaft und bei Oswald Speng­ler die Zivilisation.
Ein Blick auf die poli­ti­sche Gegen­wart bestä­tigt: Die Wert­be­stim­mung des Men­schen inner­halb jenes von den Phi­lo­so­phen beschrie­be­nen Zustan­des erfolgt auf Basis sei­ner Funk­ti­ons­be­stim­mung im Sys­tem, die der Mün­dig­keit des Bür­gers ent­ge­gen­steht. Frü­he­re poli­ti­sche Sys­te­me hoben den Men­schen, das staa­ten­bil­den­de Wesen, her­vor. Jetzt ist die­ser Mensch in Kate­go­rien und Tari­fe des Sys­tems ein­ge­paßt, die ihm bequem den sozia­len Frie­den bei immer weni­ger Arbeit ermög­li­chen. Das öffent­li­che Bewußt­sein spie­gelt es wider, und jeder, der Mein­hard Mie­gels Epo­chen­wen­de (2005) gele­sen hat, weiß, daß zwi­schen 1950 und 1975 das Pro-Kopf-Volks­ein­kom­men real auf das Vier­fa­che anstieg, wäh­rend das Pro-Kopf-Arbeits­vo­lu­men um ein Vier­tel abnahm.
Die Medi­en­land­schaft soll­te eigent­lich die Mün­dig­keit des Bür­gers gewähr­leis­ten, Pro­zes­se durch­schau­bar gestal­ten. Durch­ge­setzt hat sich in der deut­schen Nach­kriegs­de­mo­kra­tie ein Pro­zeß, in dem der Ein­zel­ne gegen­über der Sug­ges­ti­on der Medi­en und den sozia­len Kon­di­tio­nie­run­gen noch nie so ver­wund­bar war wie heu­te. Das Des­in­ter­es­se am Gemein­we­sen zuguns­ten einer Flucht in pri­va­te Belan­ge wie Kar­rie­re, Kon­sum und Frei­zeit lie­gen auf der Hand. So wer­den Mas­se und Mün­dig­keit zu sich aus­schlie­ßen­den Kon­fi­gu­ra­tio­nen inner­halb eines Staa­tes, wel­cher poli­ti­sche Regu­lie­rung vor­nehm­lich durch Ver­hand­lung bewerk­stel­ligt und der als eine Par­tei unter ande­ren am Tisch sitzt und die Mode­ra­to­ren­rol­le inne­hat. Die Demo­kra­tie wird selbst zum Pro­blem, pre­digt Zivil­cou­ra­ge und Bür­ger­be­tei­li­gung, deren Vita­li­tät sich im Gegen­zug dadurch redu­ziert, daß es nur noch um die Ver­wal­tung eines Zustan­des poten­ti­el­ler Unver­ant­wort­lich­keit geht. Kurz: Rea­le staats­bür­ger­li­che Par­ti­zi­pa­ti­on wird zur Farce.
Micha­el Erdin­ger benann­te in der Wochen­zeit­schrift Das Par­la­ment 2003 im Hin­blick auf die­se Input- und Out­put­pro­ble­me einer semi­au­then­ti­schen Poli­tik drei Aspek­te als ursäch­lich: ein umfas­sen­der Kata­log wohl­fahrts­staat­li­cher Auf­ga­ben, die regie­rungs­im­ma­nen­ten Blo­cka­de­mög­lich­kei­ten und vor allem den erwähn­ten Auto­no­mie­ver­lust der Poli­tik aus der Sicht des Bür­gers. Der qua­si-mythi­sche Anspruch der herr­schen­den Min­der­heit, den Sinn des geschlos­se­nen Staats­ver­trags und den Wil­len des Vol­kes zu inter­pre­tie­ren, wird heu­te zudem durch Wah­len hin­fäl­lig, die kei­ne ein­deu­ti­gen Mehr­hei­ten mehr her­vor­brin­gen, bis­her nie gekann­te Koali­tio­nen erzwin­gen und auf­grund nied­ri­ger Wahl­be­tei­li­gung nicht mehr reprä­sen­ta­tiv sind. Und den­noch schallt es hämisch: Der Bür­ger hat entschieden!

Die Kri­se der reprä­sen­ta­tiv-demo­kra­ti­schen Ver­tre­tung sowie die Abspei­sung des Bür­gers durch vor­ge­fer­tig­te Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en aus dem Deut­schen Bun­des­tag sind trotz­dem Erfah­rungs­wer­te gewor­den. Damit steht die For­de­rung nach Demo­kra­ti­sie­rung im Raum. Ernst genom­men kann sie aber nur wer­den, wenn sie nicht selbst von den sys­tem­im­ma­nen­ten Akteu­ren stammt. Am Ende bleibt immer wie­der die Fra­ge bestehen, wie von außen eine auf Mün­dig­keit basie­ren­de Demo­kra­ti­sie­rung erfol­gen kann, wenn bis­her weni­ger das kri­ti­sche Urteils­ver­mö­gen gefragt ist als viel­mehr die auto­ma­ti­sche Wir­kung der durch Gewohn­heit gebil­de­ten Gedan­ken­ver­bin­dung in den Medi­en. Denn vor­ran­gig durch die Medi­en als (dem Anspruch nach) Garan­ten frei­er Mei­nungs­bil­dung ver­liert die vita­le Poli­tik den Cha­rak­ter eines Zustan­des, in dem ech­te Optio­nen poli­ti­scher Teil­ha­be noch gege­ben und Auf­ga­ben noch gestellt sind. Die Fol­ge: Poli­tik­ver­dros­sen­heit und das Stre­ben nach Direkt­de­mo­kra­tie. Gera­de auf der Grund­la­ge des Art. 20 Abs. 2 GG ist es den Län­dern im Rah­men ihrer Ver­fas­sungs­ho­heit erlaubt, Modi­fi­ka­tio­nen der ple­bis­zi­tä­ren Demo­kra­tie ein­zu­füh­ren. Die par­ti­zi­pa­ti­ve Revi­si­on vor Augen wür­de dies zur Stär­kung der Respon­si­vi­tät der Poli­tik beitragen.
In der Tat wird eine der­ma­ßen gear­te­te par­ti­zi­pa­ti­ve Revo­lu­ti­on in den kom­men­den Jah­ren nicht mehr aus­zu­schlie­ßen sein. Sie wäre in der Lage, den beschrie­be­nen Sche­ma­tis­mus von Wohl­stand, erzeug­ten poli­ti­schen und his­to­ri­schen Sze­nen, die für Wirk­lich­keit gehal­ten wer­den, zu kom­pen­sie­ren. Denn die­se an den Begriff der „Kul­tur­in­dus­trie” der Frank­fur­ter Schu­le erin­nern­de Tat­sa­che läßt die „mün­di­ge” Mas­se bis­her in Illu­sio­nen leben. Es herrscht bes­ten­falls eine hal­be Mündigkeit.
Mag die­se Ana­ly­se des gegen­wär­ti­gen Zeit­al­ters auch als Speng­ler-Repri­se anmu­ten, mit der ein Mensch zu befürch­ten steht, der aller tra­gen­den Kräf­te beraubt ist (Fel­lachi­sie­rung), so ist nicht mehr von der Hand zu wei­sen, daß der Rück­zug ins Pri­vat­le­ben mit der Kri­se der Demo­kra­tie ver­knüpft ist. Hin­zu kom­men die Kri­se des Sozi­al­staa­tes, der Ver­lust natio­na­ler Iden­ti­tät und ein qua­si­to­ta­li­tä­rer Libe­ra­lis­mus, die nur eini­ge Merk­ma­le eines unver­ant­wort­li­chen Kon­for­mis­mus inner­halb einer patho­lo­gi­schen Nor­ma­li­tät sind.
Mag man auch täg­lich von Mün­dig­keit und Zivil­cou­ra­ge hören – die For­men des inne­ren Nie­der­gangs der Demo­kra­tie sind längst aus­ge­macht. Sie lie­gen gera­de in der Mono­to­nie die­ser For­de­run­gen. Wie sonst ist es zu erklä­ren, daß die Hälf­te der Bevöl­ke­rung im Begriff ist, aus dem poli­ti­schen Sys­tem aus­zu­stei­gen. Die gro­ßen Ideen der Volks­sou­ve­rä­ni­tät und Reprä­sen­ta­ti­on ver­lie­ren ihren Nim­bus. Es gibt aber kei­ne rea­le Demo­kra­tie ohne umfas­send mün­di­ge Staats­bür­ger, die eine poli­ti­sche Gemein­schaft bil­den und sich auf gemein­sa­me Zie­le beru­fen. Es gibt kei­ne Demo­kra­tie im rea­len Sin­ne, die an ech­ter Volks­sou­ve­rä­ni­tät vor­bei­kommt. So also mün­det das ein­gangs erwähn­te Cre­do der Kul­tur­kri­tik in dem Fakt, daß eine Per­son, die kei­ne Bin­dung mehr hat, kein voll­kom­men frei­es und mün­di­ges Wesen ist, son­dern ein cha­rak­ter­lo­ses ohne mora­li­sche Tie­fe. Mün­dig sind jene den­ken­den Men­schen, für die das Ele­ment des Poli­ti­schen nicht im fron­ta­len Auf­ein­an­der­pral­len der Par­tei­en liegt. Demo­kra­tisch agiert der­je­ni­ge, der dem jeweils domi­nie­ren­den Prin­zip „Demo­kra­tie” der Gegen­wart die Voll­kom­men­heit abspricht, um sich selbst­be­wußt dem Anspruch von Demo­kra­tie als stets zu opti­mie­ren­der und zu hin­ter­fra­gen­der Staats­form zu stel­len. Damit wären die Bau­stei­ne zur gan­zen Mün­dig­keit benannt.

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