wie kaum bei einem zweiten Ritter-Schüler fand seine Transzendentalbelletristik auch Anklang in der angelsächsischen Welt, insbesondere bei Richard Rorty. Im Blick auf den Zuschnitt seines Philosophierens wenig verwunderlich, hat Marquard insbesondere in Psychoanalyse, Kunst- und Kulturwissenschaften große Resonanz gefunden.
In den Jahren 1947 bis 1954 studierte Marquard Philosophie, Germanistik und Theologie in Münster und in Freiburg. Neben Joachim Ritter war der damals in Freiburg lehrende katholische Heidegger-Schüler Max Müller sein maßgeblicher Lehrer. Von ihm wurde Marquard 1954 mit einer konventionellen systematischen Studie »Zum Problem des Scheins im Anschluß an Kant« promoviert.
Als wissenschaftlicher Assistent von Ritter arbeitete er eine, erst Jahrzehnte später publizierte, Habilitationsschrift aus, die sein maßgebliches Buch bleiben wird: Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige philosophische Motive eines neueren Psychologismus in der Philosophie. Marquard verbindet darin die spekulative Natur- und Seelenphilosophie Schellings und der frühen Romantik in erstaunlicher Souveränität mit den Problemen der Tiefenpsychologie, nicht zuletzt durch eigene Depressionserfahrungen geschult. Zwei Jahre lang hatte er die Position inne, die, wie er später wiederholt sagen sollte, Ziel seiner Wünsche war: die des Privatdozenten in Münster. 1965 wurde er als ordentlicher Professor an die Universität Gießen berufen, der er bis zur Emeritierung 1993 treu blieb, unterbrochen durch vereinzelte Gastprofessuren und ein Fellowship am Berliner Wissenschaftskolleg 1982/83.
Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, auch für die ästhetische Qualität seiner Schriften, hat Marquard seither empfangen (so den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 1984 und den Cicero-Rednerpreis 1998).
Marquards genuine Form ist der Essay, in einer Auslotung von Denkmöglichkeiten und Paradoxien. Skeptisch ist er gegenüber Großentwürfen, sowohl den philosophischen Systemen als auch der Geschichtsphilosophie gegenüber. Sie hat er in den Aufsätzen in Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973) als Folge und Umplazierung der unlösbaren alten Theodizeefrage verstanden. Den Menschen denkt Marquard mit Herder oder Gehlen als endliches Mängelwesen, das sich in einer kontingenten Welt vorfindet und dessen Möglichkeiten, diese Welt (im Sinne der Frankfurter Kritischen Theorie) einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen oder gar utopisch zu verändern, mehr als begrenzt sei. Die XI. Feuerbach-These von Marx hat Marquard daher in dem Sinn reformuliert: Man hat die Welt so viel verändert. Es komme darauf an, sie zu verschonen.
Mit seinem Lehrer Joachim Ritter teilt Marquard die These von der grundsätzlichen Zustimmungsfähigkeit der modernen Welt, insbesondere der offenen Gesellschaft der Demokratien. Üblichkeiten nämlich sind, so hält er in einem dem amerikanischen Pragmatismus verwandten Geist fest, unvermeidlich in Anspruch zu nehmen. Er hat sich, wie in vergleichbarer Intensität nur noch Günter Rohrmoser, mit der Frankfurter Schule auseinandergesetzt und, namentlich in der Diskursethik von Habermas, ein Erbe der alten Geschichtsphilosophie gesehen, das zu einer Tribunalisierung der Wirklichkeit führen müsse, womit eine Grundstruktur der Politischen Korrektheit deutlich erkannt ist.
Durch seinen »Abschied vom Prinzipiellen« hat sich Marquard gerade auch in die Debatten der Postmoderne der achtziger Jahre eingeschrieben. Er hat in kleinen Studien eine Apologie des Zufälligen vorgelegt und – im Sinn eines alten, religionswissenschaftlich und religionsphilosophisch freilich kaum überzeugenden Topos – den humanen Mehrwert des Polytheismus gegenüber dem Monotheismus evoziert.
Ebenfalls in der Folge von Joachim Ritter hat sein Eröffnungsvortrag vor der Westdeutschen Rektorenkonferenz im Mai 1985 eine zeitweise vehemente Diskussion hervorgerufen. Hier votierte Marquard für die »Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften«, da die technisch-wissenschaftliche Rationalität die Lebenswelt immer weitergehend bestimme. Ein sinnstiftendes Gegengewicht könne einzig in Kunst, Philosophie, Literatur, Geschichte und Religionen gewonnen werden. Damit verbunden, beschwört Marquard, daß es ohne Herkunft keine Zukunft geben könne. Der »Abschied vom Prinzipiellen« gilt selbstverständlich auch den großen Erzählungen. Es sind mithin die »kleinen Narrative« (courts récits), auf die sich jene Kompensationsthese beruft. Ihrer schwachen Marquardschen Form wurde nicht ganz zu Unrecht der Vorwurf gemacht, daß sie auf eine affirmative Kulturfunktion begrenzt sei.
Marquard ist ein brillanter Skeptiker, ein melancholischer Ironiker zwischen Philosophie und Literatur, der seine eigentlich zentralen Anliegen häufiger in der Form eleganter Verneinung als der Bejahung artikuliert.
Schriften: Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg i. Br./München 1958; Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973; Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981; Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986; Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987; Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn 1989; Skepsis und Zustimmung, Stuttgart 1994; Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000; Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003; Individuum und Gewaltenteilung, Stuttgart 2004; Skepsis in der Moderne, Stuttgart 2007.
Literatur: Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006; Alois Halbmayr: Lob der Vielheit. Zur Kritik Odo Marquards am Monotheismus, Salzburg 2000; Rochus Leonhardt: Skeptizismus und Protestantismus. Der philosophische Ansatz Odo Marquards als Herausforderung an die evangelische Theologie, Tübingen 2003.