Keiner kam dabei auf den Gedanken, daß es sich bei den Tätern um die 1998 untergetauchten drei Rechtsextremisten aus Jena handeln könnte. Weder Verfassungsschutz noch Bundeskriminalamt und Polizei hatten auch nur den geringsten Verdacht, so zumindest die offizielle Version.
Wer diesbezüglich Zweifel hegt, sieht sich schnell mit dem Vorwurf konfrontiert, ein Verschwörungstheoretiker zu sein. Doch auch nach bald anderthalb Jahren Ermittlungsarbeit der Behörden und verschiedener Untersuchungsausschüsse sowie zahlreichen Publikationen wirft der Fall nach wie vor mehr Fragezeichen als Erklärungen auf. Und auch der nun bevorstehende Prozeß gegen Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht in München dürfte wenig zur Klärung beitragen.
Da ist zum Beispiel das nach wie vor rätselhafte Ende von Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 in Eisenach. Offiziell sind ihre letzten Stunden weitgehend rekonstruiert. Mundlos soll Böhnhardt in dem für den Banküberfall gemieteten Wohnmobil mit einer Pumpgun in die linke Schläfe geschossen und anschließend Feuer gelegt haben. Danach setzte er sich im hinteren Teil des Fahrzeugs auf den Boden, steckte sich den Lauf seiner Waffe in den Mund und krümmte ab. Zu diesem Ergebnis kommen die Ermittler aufgrund des Autopsieberichts, denn in Böhnhartds Lunge fanden sich, anders als bei Mundlos, keine Rauchpartikel. Er muß also beim Ausbruch des Feuers schon tot gewesen sein. Unklar bleibt, ob Mundlos seinen Komplizen mit dessen Einverständnis oder im Streit erschoß.
Zu verschiedenen Berichten, wonach die Ermittler im Wohnmobil nicht nur eine, sondern zwei ausgeworfene Patronenhülsen aus Mundlos’ Pumpgun fanden, schweigt sich die Bundesanwaltschaft aus. Sollte dies der Fall sein, würde sich automatisch die Frage stellen, wer die Waffe nochmals repetierte, nachdem sich Mundlos damit in den Kopf geschossen hatte. Anders wäre die Hülse nicht ausgeworfen worden.
Doch auch zu den Minuten vor dem Tod der beiden mutmaßlichen Rechtsterroristen gibt es Widersprüche und Ungereimtheiten: Es ist gegen zwölf Uhr, als sich zwei Streifenpolizisten im Eisenacher Stadtteil Stregda dem Wohnmobil mit dem Kennzeichen aus dem sächsischen Vogtland nähern. Wenige Stunden zuvor sollen Böhnhardt und Mundlos eine Sparkasse in der Stadt überfallen haben. Im Anschluß daran parken sie ihr Wohnmobil im Neubaugebiet Wartburgblick. Sie hören den Polizeifunk ab und sind so über die Fahndungsmaßnahmen informiert. Trotzdem entscheiden sie sich, in Stregda zu warten, anstatt über die Autobahn in unmittelbarer Nähe die Flucht zu ergreifen. Die Beamten, die auf das Fahrzeug der beiden zugehen, vernehmen zwei Knallgeräusche, so geben sie es über Funk durch und so steht es auch in den ersten Meldungen, als noch niemand weiß, um wen es sich bei den beiden mutmaßlichen Bankräubern wirklich handelt. Kurz darauf schlagen Flammen aus dem Wohnmobil.
Entgegen der ersten Meldungen heißt es seitens der Bundesanwaltschaft, es habe insgesamt drei Schüsse gegeben, einer davon aus dem Wohnmobil heraus. Zudem habe die im Fahrzeug gefundene Maschinenpistole eine Ladehemmung aufgewiesen. Daß sich in dem Wohnmobil eine dritte Person befand, die aus dem Führerhaus kletterte und flüchtete, schließen die Ermittler aus. Genau das hatte aber ein Anwohner der Bild-Zeitung geschildert. Die Polizei in Eisenach und Gotha, deren Beamte als erste am Tatort waren, will das weder bestätigen noch dementieren und verweist auf die Bundesanwaltschaft, die allein auskunftsberechtigt sei. Gleiches gilt für die Frage, ob auf die Polizisten geschossen wurde. Ihre entsprechende Meldung vom 4. November 2011 hat die Thüringer Polizei mittlerweile aus dem Internet gelöscht.
Laut Bundesanwaltschaft soll den Ermittlern bereits noch am Tag des Überfalls aufgrund von Fingerabdrücken bekannt gewesen sein, daß es sich bei den zwei Toten im Wohnmobil um die 1998 untergetauchten Rechtsextremisten handelt. Dennoch erfährt die Öffentlichkeit erst vier Tage später davon – durch eine Pressemitteilung der Linksfraktion im Thüringer Landtag, die den mutmaßlichen politischen Hintergrund der beiden Bankräuber enthüllt.
Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren entscheidenden Beweismittel in dem Fall, dem angeblichen Bekennervideo des NSU. Dieses hatte der Spiegel öffentlich gemacht. Der wiederum hatte es exklusiv vom linksradikalen »Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin« gekauft. Wie die Einrichtung an die DVD gekommen ist, will sie nicht sagen. Möglicherweise erhielt sie es von einem der Empfänger, an die das Video nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos geschickt wurde. Zu diesen zählten auch Büros der Linkspartei. Offiziell soll Zschäpe die Videos verschickt haben, allerdings wurden einige Exemplare auch unfrankiert in Briefkästen gesteckt, in Städten, in denen sich Zschäpe auf ihrer mehrtägigen Flucht nachweislich nicht aufhielt. Die Ermittler können dieses Rätsel bislang nicht lösen.
Und das sind nicht die einzigen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Ende von Mundlos und Böhnhardt unbeantwortet bleiben. Warum schossen die beiden nicht auf die zwei Polizisten? Immerhin hatten sie drei Pistolen, zwei Revolver, zwei Pumpguns und eine Maschinenpistole bei sich. Skrupel, auf Polizisten zu schießen, dürften die beiden kaum gehabt haben. Immerhin sollen sie 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn heimtückisch erschossen und ihren Kollegen lebensgefährlich verletzt haben. Warum hatten sie Kiesewetters Dienstwaffe überhaupt zu dem Bankraub mitgenommen? War ihnen nicht klar, daß sie im Falle einer Festnahme sofort auch mit dieser Tat in Verbindung gebracht würden? Gleiches gilt für die mehr als 23000 Euro, teilweise noch mit Banderolen versehen, die aus einem Überfall stammten, den Mundlos und Böhnhardt knapp zwei Monate zuvor im thüringischen Arnstadt begangen haben sollen – Überheblichkeit oder Leichtsinn? Letzteres ist so gut wie ausgeschlossen, sonst hätten sie kaum unerkannt 13 Jahre lang die ihnen zur Last gelegten Verbrechen begehen können.
Ende vergangenen Jahres warf ein Artikel des Journalisten Andreas Förster zusätzliche Fragen auf. Gestützt auf die Ermittlungsakten berichtete Förster, die Polizei habe am Tag nach dem Tod der beiden in dem ausgebrannten Wohnmobil auch einen Rucksack sichergestellt, der – anders als das Bett, auf dem er gefunden wurde – trotz des Feuers keine Schmutzspuren aufwies. Der Rucksack enthielt Geld aus dem Banküberfall in Arnstadt und mehrere Patronenpackungen, wie am 5. November protokolliert wurde. Sechs DVDs mit dem mutmaßlichen Bekennervideo des NSU wurden dagegen nicht aufgeführt. Diese fanden Polizisten erst einen Monat später, am 1. Dezember, in einer Innentasche des Rucksacks. Es ist schwer vorzustellen, daß die Ermittler das Gepäckstück zuvor nur so oberflächlich durchsucht hatten und die DVDs dabei übersahen. Immerhin gehörte der Rucksack den mutmaßlichen Mördern einer Kollegin.
Doch die Bundesanwaltschaft hat hierfür eine Erklärung: Während Geld und Patronen bei einer ersten Durchsicht gefunden wurden, seien die DVDs erst später, im Zuge der von der Bundesanwaltschaft angeordneten photographischen Dokumentation der Beweisstücke entdeckt worden. Ein im Schutt der früheren Zwickauer Wohnung des Trios gefundenes Exemplar der DVD mit dem NSU-Video war im übrigen der Anlaß, daß die Karlsruher Behörde am 11. November überhaupt die Ermittlungen übernehmen konnte. Denn nun war ein rechtsextremistischer Hintergrund bei der Mord-Serie gegeben.
Und noch eine weitere Frage will oder kann die Bundesanwaltschaft bis heute nicht beantworten: Etwa drei Stunden nach dem Tod ihrer mutmaßlichen Komplizen soll Zschäpe die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand gesteckt haben. Niemand weiß jedoch, wie sie von den Geschehnissen in Eisenach erfuhr. Ein Anruf von Mundlos oder Böhnhardt wird offiziell ausgeschlossen. Laut Bundesanwaltschaft wußten die Ermittler bereits am Abend des 4. November, daß ein Zusammenhang zwischen den toten Bankräubern in Eisenach und der abgebrannten Zwickauer Wohnung, in der das Trio unter falschen Identitäten gelebt hatte, bestünde. Zschäpe befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Flucht. Wie dieser Zusammenhang hergestellt werden konnte, will die Behörde nicht sagen.
Doch das Ende von Mundlos und Böhnhardt ist nicht die einzige Episode im Fall des NSU, die Fragen aufwirft. Nach wie vor unklar ist auch der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Nicht nur, weil hier andere Tatwaffen (eine Tokarew TT-33 und eine Random VIS 35) als die Ceska 83 zum Einsatz kamen, mit der die acht Türken und ein Grieche zwischen September 2000 und April 2006 erschossen wurden. Auch blieben die Hülsen der abgefeuerten Patronen am Tatort zurück, was bei der Mordserie an den Ausländern außer am Anfang nicht der Fall war. Die Tat fand zudem über ein Jahr nach dem letzten Ceska-Mord statt, ohne ein plausibles Motiv. Denn Haß auf Ausländer scheidet bei der deutschen Polizistin aus.
Anders als bei den anderen Morden nahmen die Täter ihren Opfern Gegenstände ab, Handschellen, Pfefferspray und Dienstwaffen. Und, auch das ein Unterschied zu den übrigen Morden, es gab zwei Opfer, auch wenn Martin A. schwer verletzt überlebte. Seit wann die Täter im Besitz der Mordwaffen waren und ob mit diesen auch andere Verbrechen begangen wurden, darüber schweigt sich die Bundesanwaltschaft aus. Für sie steht fest, daß Mundlos und Böhnhardt die 22 Jahre alte Polizistin am 25. April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese ermordeten. Schließlich fand man in ihrem Wohnmobil die den Polizisten abgenommenen Gegenstände und Dienstwaffen und in der abgebrannten Zwickauer Wohnung die Tatwaffen. Außerdem wurde in Heilbronn am Tattag im Zuge der eingeleiteten Ringfahndung das Kennzeichen eines Wohnmobils erfaßt, das, wie sich erst später herausstellte, auf den Namen des mutmaßlichen NSU-Unterstützers Holger G. angemietet war. Für die Ermittler scheint der Fall damit klar.
Ein vom Stern präsentiertes Observierungsprotokoll des amerikanischen Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency (DIA), nach dem zur Tatzeit amerikanische Agenten und deutsche Verfassungsschützer vor Ort waren, um zwei Personen aus dem Umfeld der islamistischen Sauerlandgruppe zu beobachten, wurde kurzerhand als Fälschung eingestuft. Darin war von einer Schießerei zwischen zwei Beamten des baden-württembergischen oder bayerischen Verfassungsschutzes mit Rechten (»right wing operatives«) und einer regulären Polizeistreife die Rede. Nur wer hätte ein Interesse daran, ein solches Dokument zu fälschen? Und was ist mit dem Auto einer »amerikanischen Behörde«, das am Tattag in der Nähe von Heilbronn in eine Geschwindigkeitskontrolle geraten war? Dies zumindest gab der Leiter der für den Mord zuständigen Sonderkommission »Parkplatz«, Axel Mögelin, vergangenes Jahr vor dem NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestags an. Näheres hierzu wollte er mit Blick auf die laufenden Ermittlungen allerdings nicht sagen.
Bei einem der beiden laut dem DIA-Protokoll Observierten soll es sich um Mevlüt Kar handeln, der als fünfter Kopf der Sauerlandgruppe gilt und dieser bei der Beschaffung der Zünder geholfen haben soll. Kar soll allerdings nicht nur dem CIA als Informant gedient, sondern auch für den türkischen Geheimdienst MIT gearbeitet haben. Nur wenige Monate vor dem Bekanntwerden der Zwickauer Terrorzelle berichtete der Spiegel in einer ausführlich recherchierten Geschichte darüber, die Spur der sogenannten »Döner-Morde«, jener Mordserie für die nun Böhnhardt und Mundlos verantwortlich gemacht werden, führe in eine »düstere Parallelwelt«, in der »eine mächtige Allianz zwischen rechtsnationalen Türken, dem türkischen Geheimdienst und Gangstern den Ton angibt«. Auch dies gilt heute offiziell als überholt und falsch.
Der Mord an Kiesewetter und das Ende des NSU sind nur zwei Beispiele für die zahlreichen Fragwürdigkeiten in dem Fall. Längst nicht geklärt ist trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse die Rolle des Verfassungsschutzes. Die Vernichtung brisanter Akten, teilweise direkt nach dem Auffliegen der Gruppe, die Rücktritte gleich mehrerer Verfassungsschutz-Chefs sowie das Bekanntwerden von V‑Leuten im Umfeld des NSU machen es schwer, zu glauben, daß der Inlandgeheimdienst von all dem nichts mitbekommen haben will. Hinzu kommt, daß mit Andreas T. ein hessischer Verfassungsschützer beim letzten Ceska-Mord in einem Kasseler Internetcafé am 6. April 2006 zugegen war.
Zwar gab T. an, von dem Geschehen nichts mitbekommen zu haben, doch meldete er sich auch nach Tagen nicht als Zeuge bei der Polizei, nachdem die Medien über den Mord berichtet hatten. Bei einer späteren Befragung soll er sich zudem in Widersprüche verwickelt haben. Der Chef der Mordkommission des Polizeipräsidiums Nordhausen, Gerald Hoffmann, der die Ermittlungen nach dem Mord in Kassel leitete, sagte im vergangenen Jahr, er wisse bis heute nicht, welche Rolle T. wirklich gespielt habe. Viele seiner Aussagen halte er für nicht glaubwürdig. Dennoch wurden die Ermittlungen gegen den Verfassungsschützer eingestellt. Auffällig ist nur, daß die Mordserie danach endete. Sollten Böhnhardt und Mundos die ihnen zur Last gelegten Morde begangenen haben, warum hörten sie dann so plötzlich damit auf? Einen Grund dafür hatten sie nicht. Schließlich tappten die Ermittler völlig im dunkeln und vermuteten die Täter eher im Umfeld der türkischen Wettmafia. Und warum bekannten sich die beiden nie zu Lebzeiten zu ihren Taten, wie es Terroristen gewöhnlich machen? Angst unter Einwanderern konnten sie so nicht schüren, schließlich wußte niemand, wer die Täter waren. Wenn sie aber nur aus purem Haß auf Ausländer mordeten, warum hörten sie dann 2006 damit auf? Und warum bekannten sie sich dann mit einem seltsamen Paulchen-Panther-Video fünf Jahre später, posthum, zu den Taten?
All diese Frage werden von den führenden Medien kaum gestellt. Die Zeitschrift Compact um den Publizisten Jürgen Elsässer dagegen widmet den Ungereimtheiten regelmäßig größere Aufmerksamkeit. Nun ist ein Themenheft zum NSU erschienen, es ist in vier Rubriken untergliedert (Staatsfeinde, Agenten, Opfer, Epilog) und fächert die einzelnen Aspekte, Haupt- und Nebenstränge das NSU-Komplexes auf. Doch so wichtig es ist, daß die offenen Fragen stets in Erinnerung gerufen werden, so wichtig ist es auch, dies bedächtig und anhand der Fakten zu tun. Der umfassend ins Thema eingearbeitete Compact-Autor Kai Voss faßt seine Recherche-Ergebnisse nochmals auf fünf Seiten zusammen, stellt dabei durchaus die richtigen Fragen, geht aber weit über abgesicherte Antworten hinaus und bietet letztlich eine komplette Geschichte an. Deren Hauptthesen: Der NSU ist eine Erfindung der Geheimdienste; Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos waren Nazis und an Morden beteiligt, jedoch nicht an allen; Böhnhardt und Mundlos wurden liquidiert, und zwar von dem Geheimdienstnetzwerk, dem sie weisungsgebunden waren.
Es mag verlockend sein, eine fragwürdige, offizielle Version durch eine Gegengeschichte zu spiegeln, in der die Bausteine besser zueinanderpassen. Dennoch bleibt vieles daran Vermutung und Mutmaßung. Auch Voss hat keine Beweise für die von ihm nahegelegte Verschwörung. Diese Art des Umgangs mit dem Thema birgt die Gefahr, daß durchaus berechtige Fragen generell als Verschwörungstheorie abgetan und damit zur Seite gewischt werden können. Und genau das dürft im Interesse all jener sein, die die offizielle Version bereits vor Beginn des Prozesses gegen Zschäpe als unumstößliche Wahrheit festschreiben wollen.