100. Geburtstag Nicolás Gómez Dávila

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Till Kinzel

Der Schriftsteller, Privatgelehrte, Bankier und Denker Gómez Dávila, der aus der kolumbianischen Oberschicht stammte, erhielt neben dem Schulbesuch in Paris Privatunterricht, besuchte jedoch selbst keine Universität. Nachdem er in den dreißiger Jahren nach Kolumbien zurückgekehrt war, widmete er sich dem Aufbau seiner immensen Bibliothek, die das Zentrum seiner denkerischen und schriftstellerischen Existenz darstellte.

1948 unter­stütz­te er die Grün­dung der Anden- Uni­ver­si­tät in Bogo­tá. 1954 ver­öf­fent­lich­te sein Bru­der, offen­bar ohne sein Ein­ver­ständ­nis, ers­te Auf­zeich­nun­gen unter dem Titel »Notas I« (ein zwei­ter Band erschien nie), die erst ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter in einer Buch­han­dels­aus­ga­be publi­ziert wur­den. 1959 folg­te ein eben­falls als Pri­vat­druck ver­leg­tes, schma­les Buch mit Essays unter dem Titel »Tex­tos I« (kein zwei­ter Band erschie­nen). In die­sem Band, der grund­le­gen­de anthro­po­lo­gi­sche und »geschichts­phi­lo­so­phi­sche« Über­le­gun­gen in oft lite­ra­ri­scher Spra­che ent­hält, äußert Gómez Dávila erst­mals die Absicht, mit sei­nen Tex­ten einen »reak­tio­nä­ren Fli­cken­tep­pich« zu erar­bei­ten, da die Wirk­lich­keit nicht in einem Denk­sys­tem erfaßt wer­den könne.

Nach dem Sturz des Mili­tär­dik­ta­tors wur­de ihm 1958 der Pos­ten eines Chef­be­ra­ters des Staats­prä­si­den­ten ange­bo­ten, den er eben­so ablehn­te wie das Ange­bot im Jah­re 1974, Bot­schaf­ter in Lon­don zu wer­den. Zwar unter­stütz­te Gómez Dávila die Rol­le Alber­to Ller­as, des spä­te­ren Prä­si­den­ten, in der Bewe­gung zum Sturz der Dik­ta­tur, ent­hielt sich jedoch selbst jeder poli­ti­schen Tätig­keit, eine Ent­schei­dung, zu der er bereits zu Beginn sei­ner schrift­stel­le­ri­schen Pra­xis gelangt war. Dar­aus resul­tiert sei­ne Kri­tik nicht nur der lin­ken, son­dern auch der rech­ten oder kon­ser­va­ti­ven poli­ti­schen Pra­xis, auch wenn sich man­nig­fa­che Berüh­rungs­punk­te mit kon­ser­va­ti­ven Grund­po­si­tio­nen auf­wei­sen las­sen, wie z. B. in bezug auf sei­ne skep­ti­sche, an Thuky­di­des und Jacob Bur­ck­hardt geschul­te Anthro­po­lo­gie sowie eine Affir­ma­ti­on hier­ar­chi­scher Ord­nungs­struk­tu­ren in Gesell­schaft, Staat und Kirche.

Empha­tisch kri­ti­sier­te Gómez Dávila die Idee der Volks­sou­ve­rä­ni­tät, die ihm im Wider­spruch zur Sou­ve­rä­ni­tät Got­tes zu ste­hen schien. Kri­tik übte er des­glei­chen an der Anpas­sung der Kir­che an die Welt im Gefol­ge des II. Vati­ka­nums und beklag­te den Ver­lust der latei­ni­schen Lit­ur­gie. Ähn­lich wie für Dono­so Cor­tés resul­tier­ten auch für Gómez Dávila alle poli­ti­schen Irr­tü­mer im letz­ten aus theo­lo­gi­schen Irr­tü­mern, so daß sich sei­ne Theo­rie als eine poli­ti­sche Theo­lo­gie ver­ste­hen läßt. Die moder­nen Ideo­lo­gien wie Libe­ra­lis­mus, Demo­kra­tie und Sozia­lis­mus unter­zog Gómez Dávila einer ätzen­den und scharf­sin­ni­gen Kri­tik, da ihm die von die­sen gepräg­te Welt als ver­wor­fen und deka­dent erschien. Sein weit­ge­spann­ter Geist befaß­te sich mit viel­fäl­ti­gen phi­lo­so­phi­schen und theo­lo­gi­schen Fra­gen, mit Pro­ble­men der Lite­ra­tur, der Kunst und Ästhe­tik, der Geschichts­phi­lo­so­phie und Geschichts­schrei­bung sowie der Poli­tik und Kul­tur­kri­tik. Dazu bedien­te er sich mit hohem Stil­be­wußt­sein einer lite­ra­ri­schen Tech­nik der Ver­knap­pung, die im Titel sei­nes an die tau­send Sei­ten umfas­sen­den Haupt­wer­kes zum Aus­druck kommt (Esco­li­os a un tex­to implí­ci­to; dt. in etwa: Glos­sen zu einem Text, der nicht expli­zit aus­for­mu­liert ist).

»Der Reak­tio­när« als lite­ra­ri­sche Mas­ke wur­de von ihm zu einem her­aus­ge­ho­be­nen und unver­wech­sel­ba­ren Typus gestal­tet, der sowohl eine ein­ma­li­ge lite­ra­ri­sche Figur als auch einen grund­sätz­li­chen geis­ti­gen Habi­tus dar­stellt. In sei­nem spä­te­ren Werk soll­te er dar­an­ge­hen, die Figur des »Reak­tio­närs«, mit dem er sich iden­ti­fi­zier­te, von vie­len Sei­ten zu bestim­men. Gómez Dávila faß­te den Begriff des Reak­tio­närs affir­ma­tiv und ver­stand dar­un­ter die Ver­kör­pe­rung einer Posi­ti­on jen­seits von rechts und links, die auf der Basis eines katho­li­schen Tra­di­tio­na­lis­mus schärfs­te Moder­ni­täts­kri­tik übte und Par­tei ergriff für eine »Wahr­heit, die nicht stirbt«.

Er bemüh­te sich nicht um die Ver­brei­tung sei­ner Schrif­ten; jedes Stre­ben nach Öffent­lich­keits­wirk­sam­keit war ihm fremd. Gómez Dávil­as Werk, das auf­grund sei­ner kom­pro­miß­lo­sen Moder­ni­täts­kri­tik und sei­ner Beja­hung des Stils quer zu allen phi­lo­so­phi­schen Haupt­strö­mun­gen des 20. Jahr­hun­derts steht, fand erst im Gefol­ge der deut­schen Über­set­zun­gen im Karo­lin­ger Ver­lag (sowie spä­ter ita­lie­ni­schen und fran­zö­si­schen, inzwi­schen auch pol­ni­schen Über­set­zun­gen) stär­ke­re Reso­nanz bei Dich­tern und Phi­lo­so­phen wie Mar­tin Mose­bach, Botho Strauß, Rein­hart Mau­rer, Ernst Jün­ger, Rolf Schil­ling, Hei­ner Mül­ler, Robert Spae­mann, Erik von Kueh­nelt-Led­dihn, Fran­co Vol­pi oder Asfa- Wos­sen Asserate.

Schrif­ten: Esco­li­os a un tex­to implí­ci­to. Obra com­ple­ta, Bogo­tá 2005; Auf ver­lo­re­nem Pos­ten, Wien 1992; Auf­zeich­nun­gen des Besieg­ten, Wien 1994; Tex­te und ande­re Auf­sät­ze, Wien 2003; Notas. Unzeit­ge­mä­ße Gedan­ken, Ber­lin 2005; Scho­li­en zu einem inbe­grif­fe­nen Text, Wien 2006; Das Leben ist die Guil­lo­ti­ne der Wahr­hei­ten. Aus­ge­wähl­te Spreng­sät­ze, Frank­furt a. M. 2006; Es genügt, daß die Schön­heit unse­ren Über­druß streift … Apho­ris­men, Stutt­gart 2007.

Lite­ra­tur: Till Kin­zel: Nicolás Gómez Dávila. Par­tei­gän­ger ver­lo­re­ner Sachen, Schnell­ro­da 2003; Till Kin­zel: Rand­be­mer­kun­gen zu Nicolás Gómez Dávila als Leh­rer des Lesens, in: Ein­fa­che For­men und klei­ne Literatur(en). Für Hin­rich Hud­de zum 65. Geburts­tag, hrsg. v. Michae­la Weiß und Frau­ke Bay­er, Hei­del­berg 2010; Rein­hart Mau­rer: Reak­tio­nä­re Post­mo­der­ne – Zu N. G. D., in: J. Albertz (Hrsg.): Auf­klä­rung und Post­mo­der­ne – 200 Jah­re nach der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on das Ende aller Auf­klä­rung?, Ber­lin 1991; Peter Schult­ze-Kraft (Hrsg.): Dos­sier zu Nicolás Gómez Dávila, in: Akzen­te. Zeit­schrift für Lite­ra­tur 2 (April 2008).

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