dann die deutsche Übersetzung von Christopher Clarks Sleepwalkers. Das ist zunächst erklärungsbedürftig, handelt das Buch doch von einem Thema, das als ausgemachte Sache gilt: die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs.
Da die deutsche Schuld nicht nur im Versailler Vertrag festgeschrieben wurde, sondern mittlerweile auch als wissenschaftlich anerkannt gilt, muß es so etwas wie eine stille Sehnsucht nach Revision dieser Anschauung geben.
Denn dem australischen Historiker geht spätestens seit seiner Wilhelm II.-Biographie und seinem Preußen-Buch der Ruf voraus, die Dinge von den Mißdeutungen der letzten 50 Jahre zu befreien. Daß es bei seinem neuen Buch auch so sein würde, stand seit dem Erscheinen der Originalausgabe vor einem Jahr fest.
Die Reaktionen in Deutschland sind erstaunlich einhellig. Nicht nur steht das Buch an der Spitze zahlreicher Bestsellerlisten, auch die Rezensionen waren wohlwollend und zollten dieser gelehrten und tiefgründigen Arbeit ihren Respekt. Der Tenor war zwar nicht, die erleichterte Aussage „die Anderen sind schuld“, aber wenigstens, daß die Dinge in Zukunft differenzierter betrachtet werden müssen. Die Zeit der Erzählung von der deutschen Alleinschuld müßte damit vorbei sein. Aber es gibt vereinzelten Widerstand. Volker Ullrich von der Zeit und der Juli-1914-Spezialist Gerd Krumeich melden zaghaft Bedenken an. Doch beide kann man nicht als neutrale Beobachter gelten lassen. Krumeich muß mit Neid auf die detaillierte Arbeit von Clark schauen und (als Spezialist!) erstaunt feststellen, welch abgelegene Quellen Clark aufgetan hat. Volker Ullrich war früher Assistent beim historischen Gegenspieler von Fritz Fischer, Egmont Zechlin, und begeht hier also fortgesetzten Vatermord.
Clarks Buch weist ziemlich dieselbe Seitenzahl auf, wie das Buch, das die gegenwärtige Fixierung auf die deutsche Schuld mitverantwortet hat, Fitz Fischers Griff nach der Weltmacht (1961). Allerdings darf man bei dieser Gegenüberstellung nicht vergessen, daß Fischer der Vorgeschichte des Krieges lediglich 100 Seiten widmet, um sich dann dem Krieg selbst zuzuwenden. Clark überschreitet die Grenze zum Krieg nicht, sondern entfaltet mit erstaunlicher Geduld und Übersicht die verwirrenden politischen Verwicklungen, die letztendlich zum Krieg geführt haben. Dabei ist diese Diplomatiegeschichte so spannend geschrieben, daß man es kaum wagt, eine Seite ungelesen zu überblättern. Das Buch ist nicht zuletzt so umfangreich geworden, weil Clark kein Freund von starken Thesen ist, sondern lieber eine Begebenheit von vielen Seiten betrachtet, um ihr gerecht zu werden.
Clark hat sein Buch in drei große Abschnitte aufgeteilt. Im ersten Abschnitt geht es um die Entwicklung der beiden Protagonisten, deren Auseinandersetzung schließlich den Auslöser für den Ersten Weltkrieg bildete: Serbien und die Österreich-Ungarn. Clark beginnt mit der brutalen Ermordung des serbischen Königs 1903, was eine neue Epoche in der serbische Geschichte einleitete und von deren Drahtziehern ein direkter Weg zur Ermordung des österreichischen Thronfolgers 1914 führt, alles zusammengehalten von einer panserbischen Ideologie. Die österreichische Doppelmonarchie hatte als Vielvölkerstaat mit inneren und äußeren Herausforderungen zu kämpfen, obwohl sie keineswegs so schlecht dastand, wie es später oft behauptet wurde. Der auf Reformen und inneren Ausgleich bedachte Thronfolger Franz Ferdinand stand einer starken Fraktion von „Falken“ gegenüber, welche auf die Entwicklungen auf dem Balkan konsequenter reagieren wollten. Die k. u. k. Monarchie drohte ihre Vormachtstellung in der Region zu verlieren. Doch schon hier betont Clark: es gab keinen Automatismus zum Krieg, denn immerhin waren die beiden Balkankriege zuvor immer lokal gehalten worden.
Daß sich auf dem Balkan dennoch die Bruchlinien der europäischen Großmächte und ihrer Bündnisse zeigten, wird im zweiten Teil des Buches deutlich. Darin zeichnet Clark die Entwicklung Europas von einem vielstimmigen politischen Ökosystem hin zur Blockbildung nach, die dann ihre innere Logik entwickelte. Diese griff schließlich nach dem Mord in Sarajevo, der dritte Abschnitt, mit aller Konsequenz in das Geschehen ein, und zog Europa, ohne daß es notwendig gewesen wäre, in den Weltkrieg.
Clark sieht in der Julikrise von 1914 das „komplexeste Ereignis der heutigen Zeit, womöglich bislang aller Zeiten“. Er konzentriert sich in seinem Buch auf das Wie, die Abfolge der Interaktionen, ohne die Frage nach der Schuld zu stellen. Allerdings kann es angesichts der vorherrschenden und festgeschriebenen Meinung, daß Deutschland und seine Verbündeten den Weltkrieg vom Zaun gebrochen haben, nicht anders sein, als das Clarks Buch als eine große Anklageschrift gegen diese Art der Geschichtsauffassung angesehen wird.
Das für Deutschland entlastende Material wird von Clark in aller Ausführlichkeit ausgebreitet. Deutschland befand sich gegenüber den anderen Großmächten in einer benachteiligten Rolle und hatte geringere Handlungsoptionen, weil es auf den Kontinent beschränkt blieb und über kaum koloniale Handlungsmasse verfügte. Deutschlands Streben nach Seegeltung sieht Clark durch diese Lage gerechtfertigt und erblickt darin keinen Grund für einen Krieg. Letztendlich unterstellt Clark der deutschen Führung eine gewisse Naivität, weil diese nicht bemerkte, wie rasant sich die internationale Lage gegen Deutschland entwickelte. Wilhelm II. neigte zudem zum Verbalradikalismus, hatte aber echte Skrupel, den Worten Taten folgen zu lassen. Daher meinte man insbesondere in Frankreich, Deutschland provozieren zu können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Im Gegensatz zu den anderen Mächten konnte sich Deutschland von einem Krieg nicht viel versprechen. Das einzige Argument für einen Krieg war die wachsende Stärke der Gegner und die daraus folgende Überzeugung, daß es daher besser jetzt als später einen Krieg geben solle. Doch die Vertreter eines Präventivschlages waren in der Minderheit; auch in Deutschland gaben die zivilen Politiker den Ton vor, nicht die Militärs. In Frankreich gab es dagegen unter den verantwortlichen Politikern einen weit verbreiteten Deutschenhaß, man sann auf Rache für 1871 und man fühlte sich durch Deutschland bedroht. Letztendlich führte der französische Druck auf Rußland zum Ausbruch des Krieges, bei dem Frankreich Deutschland unbedingt in einen Zweifrontenkrieg ziehen wollte.
Rußland wiederrum gab den Serben die volle Unterstützung für deren Provokationen gegen Österreich, nicht nur der panslawischen Sache wegen, sondern auch, weil Rußland auf zwei Meerengen im Südosten scharf war. Das österreichische Ultimatum wird von Clark als maßvoll bewertet. Er vergleicht es mit dem, das die Nato Serbien 1999 in der Kosovo-Frage vorlegte und kommt zu dem Schluß, daß das von 1914 dagegen „harmlos“ war. England konnte wegen imperialistischer Gegensätze im Fernen Osten kein Interesse an einer Stärkung Rußlands haben und blieb deshalb bis zum Schluß Deutschlands Hoffnung auf Vermittlung. Deutschland und insbesondere Kaiser Wilhelm II. waren gewillt, den Krieg zu verhindern. Daß Deutschland schließlich als der Hauptschuldige dastand, hat nicht nur mit der Niederlage 1918, sondern auch einigen Ungeschicklichkeiten zu tun, die sich Deutschland erlaubte, weil es bei Kriegsbeginn nicht so skrupellos wie die Entente agierte, die ihren Krieg als Verteidigungskrieg tarnen konnte.
Da aber in allen Staaten bestimmte Mechanismen zu beobachten waren, insbesondere das Delegieren von Verantwortung an andere Staaten und die Kaschierung der eigenen Untätigkeit, zieht Clark insgesamt das Fazit, daß es sich beim Ausbruch des Weltkrieg um kein Verbrechen, sondern eine Tragödie und damit ein Verhängnis gehandelt habe. Etwas merkwürdig mutet es an, wenn Clark darin auch eine „Krise der Männlichkeit“ erblickt, in der überholte und übersteigerte Formen der Männlichkeit an ihr Ende gelangt seien. Das ist jedoch der einzige Kniefall vor dem Zeitgeist, den sich Clark erlaubt.
In Gänze ist sein Buch eine glänzende Bestätigung dessen, was bis zu Fritz Fischers unheilvollem Buch galt: Daß die Entente politische Ziele hatte, die sie nur mit einem Krieg erreichen konnte, auf den sie spätestens in der Julikrise zielstrebig hinarbeitete.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München: DVA 2013, 895 S., 39.99 Euro