Der dritte Streich des Christopher Clark

Wenn in den letzten Monaten hierzulande ein Buch mit Spannung erwartet worden ist,...

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

dann die deut­sche Über­set­zung von Chris­to­pher Clarks Sleep­wal­kers. Das ist zunächst erklä­rungs­be­dürf­tig, han­delt das Buch doch von einem The­ma, das als aus­ge­mach­te Sache gilt: die Vor­ge­schich­te des Ers­ten Weltkriegs.

Da die deut­sche Schuld nicht nur im Ver­sailler Ver­trag fest­ge­schrie­ben wur­de, son­dern mitt­ler­wei­le auch als wis­sen­schaft­lich aner­kannt gilt, muß es so etwas wie eine stil­le Sehn­sucht nach Revi­si­on die­ser Anschau­ung geben.

Denn dem aus­tra­li­schen His­to­ri­ker geht spä­tes­tens seit sei­ner Wil­helm II.-Biographie und sei­nem Preu­ßen-Buch der Ruf vor­aus, die Din­ge von den Miß­deu­tun­gen der letz­ten 50 Jah­re zu befrei­en. Daß es bei sei­nem neu­en Buch auch so sein wür­de, stand seit dem Erschei­nen der Ori­gi­nal­aus­ga­be vor einem Jahr fest.

Die Reak­tio­nen in Deutsch­land sind erstaun­lich ein­hel­lig. Nicht nur steht das Buch an der Spit­ze zahl­rei­cher Best­sel­ler­lis­ten, auch die Rezen­sio­nen waren wohl­wol­lend und zoll­ten die­ser gelehr­ten und tief­grün­di­gen Arbeit ihren Respekt. Der Tenor war zwar nicht, die erleich­ter­te Aus­sa­ge „die Ande­ren sind schuld“, aber wenigs­tens, daß die Din­ge in Zukunft dif­fe­ren­zier­ter betrach­tet wer­den müs­sen. Die Zeit der Erzäh­lung von der deut­schen Allein­schuld müß­te damit vor­bei sein. Aber es gibt ver­ein­zel­ten Wider­stand. Vol­ker Ull­rich von der Zeit und der Juli-1914-Spe­zia­list Gerd Krum­eich mel­den zag­haft Beden­ken an. Doch bei­de kann man nicht als neu­tra­le Beob­ach­ter gel­ten las­sen. Krum­eich muß mit Neid auf die detail­lier­te Arbeit von Clark schau­en und (als Spe­zia­list!) erstaunt fest­stel­len, welch abge­le­ge­ne Quel­len Clark auf­ge­tan hat. Vol­ker Ull­rich war frü­her Assis­tent beim his­to­ri­schen Gegen­spie­ler von Fritz Fischer, Egmont Zech­lin, und begeht hier also fort­ge­setz­ten Vatermord.

Clarks Buch weist ziem­lich die­sel­be Sei­ten­zahl auf, wie das Buch, das die gegen­wär­ti­ge Fixie­rung auf die deut­sche Schuld mit­ver­ant­wor­tet hat, Fitz Fischers Griff nach der Welt­macht (1961). Aller­dings darf man bei die­ser Gegen­über­stel­lung nicht ver­ges­sen, daß Fischer der Vor­ge­schich­te des Krie­ges ledig­lich 100 Sei­ten wid­met, um sich dann dem Krieg selbst zuzu­wen­den. Clark über­schrei­tet die Gren­ze zum Krieg nicht, son­dern ent­fal­tet mit erstaun­li­cher Geduld und Über­sicht die ver­wir­ren­den poli­ti­schen Ver­wick­lun­gen, die letzt­end­lich zum Krieg geführt haben. Dabei ist die­se Diplo­ma­tie­ge­schich­te so span­nend geschrie­ben, daß man es kaum wagt, eine Sei­te unge­le­sen zu über­blät­tern. Das Buch ist nicht zuletzt so umfang­reich gewor­den, weil Clark kein Freund von star­ken The­sen ist, son­dern lie­ber eine Bege­ben­heit von vie­len Sei­ten betrach­tet, um ihr gerecht zu werden.

Clark hat sein Buch in drei gro­ße Abschnit­te auf­ge­teilt. Im ers­ten Abschnitt geht es um die Ent­wick­lung der bei­den Prot­ago­nis­ten, deren Aus­ein­an­der­set­zung schließ­lich den Aus­lö­ser für den Ers­ten Welt­krieg bil­de­te: Ser­bi­en und die Öster­reich-Ungarn. Clark beginnt mit der bru­ta­len Ermor­dung des ser­bi­schen Königs 1903, was eine neue Epo­che in der ser­bi­sche Geschich­te ein­lei­te­te und von deren Draht­zie­hern ein direk­ter Weg zur Ermor­dung des öster­rei­chi­schen Thron­fol­gers 1914 führt, alles zusam­men­ge­hal­ten von einer pan­ser­bi­schen Ideo­lo­gie. Die öster­rei­chi­sche Dop­pel­mon­ar­chie hat­te als Viel­völ­ker­staat mit inne­ren und äuße­ren Her­aus­for­de­run­gen zu kämp­fen, obwohl sie kei­nes­wegs so schlecht dastand, wie es spä­ter oft behaup­tet wur­de. Der auf Refor­men und inne­ren Aus­gleich bedach­te Thron­fol­ger Franz Fer­di­nand stand einer star­ken Frak­ti­on von „Fal­ken“ gegen­über, wel­che auf die Ent­wick­lun­gen auf dem Bal­kan kon­se­quen­ter reagie­ren woll­ten. Die k. u. k. Mon­ar­chie droh­te ihre Vor­macht­stel­lung in der Regi­on zu ver­lie­ren. Doch schon hier betont Clark: es gab kei­nen Auto­ma­tis­mus zum Krieg, denn immer­hin waren die bei­den Bal­kan­krie­ge zuvor immer lokal gehal­ten worden.

Daß sich auf dem Bal­kan den­noch die Bruch­li­ni­en der euro­päi­schen Groß­mäch­te und ihrer Bünd­nis­se zeig­ten, wird im zwei­ten Teil des Buches deut­lich. Dar­in zeich­net Clark die Ent­wick­lung Euro­pas von einem viel­stim­mi­gen poli­ti­schen Öko­sys­tem hin zur Block­bil­dung nach, die dann ihre inne­re Logik ent­wi­ckel­te. Die­se griff schließ­lich nach dem Mord in Sara­je­vo, der drit­te Abschnitt, mit aller Kon­se­quenz in das Gesche­hen ein, und zog Euro­pa, ohne daß es not­wen­dig gewe­sen wäre, in den Weltkrieg.

Clark sieht in der Julikri­se von 1914 das „kom­ple­xes­te Ereig­nis der heu­ti­gen Zeit, womög­lich bis­lang aller Zei­ten“. Er kon­zen­triert sich in sei­nem Buch auf das Wie, die Abfol­ge der Inter­ak­tio­nen, ohne die Fra­ge nach der Schuld zu stel­len. Aller­dings kann es ange­sichts der vor­herr­schen­den und fest­ge­schrie­be­nen Mei­nung, daß Deutsch­land und sei­ne Ver­bün­de­ten den Welt­krieg vom Zaun gebro­chen haben, nicht anders sein, als das Clarks Buch als eine gro­ße Ankla­ge­schrift gegen die­se Art der Geschichts­auf­fas­sung ange­se­hen wird.

Das für Deutsch­land ent­las­ten­de Mate­ri­al wird von Clark in aller Aus­führ­lich­keit aus­ge­brei­tet. Deutsch­land befand sich gegen­über den ande­ren Groß­mäch­ten in einer benach­tei­lig­ten Rol­le und hat­te gerin­ge­re Hand­lungs­op­tio­nen, weil es auf den Kon­ti­nent beschränkt blieb und über kaum kolo­nia­le Hand­lungs­mas­se ver­füg­te. Deutsch­lands Stre­ben nach See­gel­tung sieht Clark durch die­se Lage gerecht­fer­tigt und erblickt dar­in kei­nen Grund für einen Krieg. Letzt­end­lich unter­stellt Clark der deut­schen Füh­rung eine gewis­se Nai­vi­tät, weil die­se nicht bemerk­te, wie rasant sich die inter­na­tio­na­le Lage gegen Deutsch­land ent­wi­ckel­te. Wil­helm II. neig­te zudem zum Ver­bal­ra­di­ka­lis­mus, hat­te aber ech­te Skru­pel, den Wor­ten Taten fol­gen zu las­sen. Daher mein­te man ins­be­son­de­re in Frank­reich, Deutsch­land pro­vo­zie­ren zu kön­nen, ohne Kon­se­quen­zen fürch­ten zu müssen.

Im Gegen­satz zu den ande­ren Mäch­ten konn­te sich Deutsch­land von einem Krieg nicht viel ver­spre­chen. Das ein­zi­ge Argu­ment für einen Krieg war die wach­sen­de Stär­ke der Geg­ner und die dar­aus fol­gen­de Über­zeu­gung, daß es daher bes­ser jetzt als spä­ter einen Krieg geben sol­le. Doch die Ver­tre­ter eines Prä­ven­tiv­schla­ges waren in der Min­der­heit; auch in Deutsch­land gaben die zivi­len Poli­ti­ker den Ton vor, nicht die Mili­tärs. In Frank­reich gab es dage­gen unter den ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­kern einen weit ver­brei­te­ten Deut­schen­haß, man sann auf Rache für 1871 und man fühl­te sich durch Deutsch­land bedroht. Letzt­end­lich führ­te der fran­zö­si­sche Druck auf Ruß­land zum Aus­bruch des Krie­ges, bei dem Frank­reich Deutsch­land unbe­dingt in einen Zwei­fron­ten­krieg zie­hen wollte.

Ruß­land wie­der­rum gab den Ser­ben die vol­le Unter­stüt­zung für deren Pro­vo­ka­tio­nen gegen Öster­reich, nicht nur der pan­sla­wi­schen Sache wegen, son­dern auch, weil Ruß­land auf zwei Meer­engen im Süd­os­ten scharf war. Das öster­rei­chi­sche Ulti­ma­tum wird von Clark als maß­voll bewer­tet. Er ver­gleicht es mit dem, das die Nato Ser­bi­en 1999 in der Koso­vo-Fra­ge vor­leg­te und kommt zu dem Schluß, daß das von 1914 dage­gen „harm­los“ war. Eng­land konn­te wegen impe­ria­lis­ti­scher Gegen­sät­ze im Fer­nen Osten kein Inter­es­se an einer Stär­kung Ruß­lands haben und blieb des­halb bis zum Schluß Deutsch­lands Hoff­nung auf Ver­mitt­lung. Deutsch­land und ins­be­son­de­re Kai­ser Wil­helm II. waren gewillt, den Krieg zu ver­hin­dern. Daß Deutsch­land schließ­lich als der Haupt­schul­di­ge dastand, hat nicht nur mit der Nie­der­la­ge 1918, son­dern auch eini­gen Unge­schick­lich­kei­ten zu tun, die sich Deutsch­land erlaub­te, weil es bei Kriegs­be­ginn nicht so skru­pel­los wie die Entente agier­te, die ihren Krieg als Ver­tei­di­gungs­krieg tar­nen konnte.

Da aber in allen Staa­ten bestimm­te Mecha­nis­men zu beob­ach­ten waren, ins­be­son­de­re das Dele­gie­ren von Ver­ant­wor­tung an ande­re Staa­ten und die Kaschie­rung der eige­nen Untä­tig­keit, zieht Clark ins­ge­samt das Fazit, daß es sich beim Aus­bruch des Welt­krieg um kein Ver­bre­chen, son­dern eine Tra­gö­die und damit ein Ver­häng­nis gehan­delt habe. Etwas merk­wür­dig mutet es an, wenn Clark dar­in auch eine „Kri­se der Männ­lich­keit“ erblickt, in der über­hol­te und über­stei­ger­te For­men der Männ­lich­keit an ihr Ende gelangt sei­en. Das ist jedoch der ein­zi­ge Knie­fall vor dem Zeit­geist, den sich Clark erlaubt.

In Gän­ze ist sein Buch eine glän­zen­de Bestä­ti­gung des­sen, was bis zu Fritz Fischers unheil­vol­lem Buch galt: Daß die Entente poli­ti­sche Zie­le hat­te, die sie nur mit einem Krieg errei­chen konn­te, auf den sie spä­tes­tens in der Julikri­se ziel­stre­big hinarbeitete.

Chris­to­pher Clark: Die Schlaf­wand­ler. Wie Euro­pa in den Ers­ten Welt­krieg zog, Mün­chen: DVA 2013, 895 S., 39.99 Euro

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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