Gunnar Heinsohn: eine werkbiographische Skizze

pdf der Druckfassung aus Sezession 15/Oktober 2006

sez_nr_153von Thomas Vieweg

Gunnar Heinsohn zeichnet sich durch eine erstaunliche publizistische Produktivität und eine extrem innovative Thesenbildung aus, die allerdings stets auf der souveränen Gesamtschau ganzer Forschungszweige und/oder enger Kooperation mit Vertretern anderer Disziplinen beruht. Eine zentrale Stellung im Gesamtwerk nimmt die Beschäftigung mit demographischen Problemen ein. Schon 1974 erklärt Heinsohn den Geburtenrückgang in Europa seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus der Zunahme der lohnabhängigen Beschäftigung. Da der Lohnabhängige in der Konkurrenzsituation durch eigenen Nachwuchs objektiv beeinträchtigt wird, hat er vergleichsweise wenig Interesse an der Geburt und - nach der Geburt - an bedarfsgerechter Aufzucht von Kindern. Er läßt sie in vergleichsweise starkem Maße verwahrlosen. Aus diesem Problem resultieren die verschiedenen Formen außerfamiliärer, meist staatlicher, Erziehungsanstalten. Mit den damals aktuellen deutschen Ausgestaltungen dieser Anstalten sowie anderen, insbesondere familienrechtlichen, Anstrengungen der Bundesrepublik auf bevölkerungspolitischem Gebiet hat sich Heinsohn im Rahmen seiner Bremer Assistenzprofessur für Elementar- und Vorschulerziehung äußerst kritisch befaßt.


Als ers­ten Höhe­punkt sei­ner demo­gra­phi­schen For­schun­gen konn­te Hein­sohn zusam­men mit zwei Bre­mer Kol­le­gen Ende der sieb­zi­ger Jah­re eine All­ge­mei­ne Bevöl­ke­rungs­theo­rie der Neu­zeit prä­sen­tie­ren. Dar­in ent­fal­tet er sei­ne viel­leicht bekann­tes­te The­se, daß die unge­heu­re euro­päi­sche Bevöl­ke­rungs­explo­si­on der Neu­zeit letz­ten Endes nur durch die sys­te­ma­ti­sche Bekämp­fung des aus der Anti­ke über­lie­fer­ten rei­chen Wis­sens über Gebur­ten­kon­trol­le (Ver­hü­tung, Abtrei­bung, Infan­ti­zid) mög­lich war, wel­ches vor allem von Heb­am­men, Kräu­ter­wei­bern und „wei­sen Frau­en” wei­ter­ge­ge­ben wur­de, die des­halb im Zuge der gro­ßen euro­päi­schen Hexen­ver­fol­gun­gen dezi­miert wor­den sei­en. Das aus­lö­sen­de Moment die­ser Ver­fol­gun­gen sieht er in den gro­ßen Pest­epi­de­mien, die den feu­da­len Land­wirt­schafts­be­trie­ben die Arbeits­kräf­te ent­zo­gen. Ver­ein­zelt sind Hin­rich­tun­gen von Gebur­ten­kon­troll­hel­fe­rin­nen durch ver­zwei­fel­te Feu­dal­her­ren bereits vor der ent­schei­den­den Hexen­bul­le des Paps­tes Inno­zenz VIII. belegt, durch wel­che die katho­li­sche Kir­che als damals größ­ter euro­päi­scher Grund­be­sit­zer der demo­gra­phi­schen Kata­stro­phe Herr zu wer­den ver­sucht habe. In die­sen bevöl­ke­rungs­po­li­ti­schen Zusam­men­hang wer­den auch ver­schie­de­ne wei­te­re kirch­li­che und staat­li­che Bemü­hun­gen gestellt, die Ver­meh­rung der Bevöl­ke­rung gegen deren eige­nes öko­no­mi­sches Inter­es­sen­kal­kül durch­zu­set­zen und das „tra­di­tio­nel­le elter­li­che Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl” aus­zu­schal­ten. Dazu rech­nen die Autoren ins­be­son­de­re die stren­ge Sexu­al- und Ehe­mo­ral, die dar­auf gerich­tet gewe­sen sei, alle For­men von Sexua­li­tät zu äch­ten, die nicht auf Ver­meh­rung inner­halb einer Ehe gerich­tet waren.
Auf dem Hin­ter­grund die­ser Erklä­rung der euro­päi­schen Bevöl­ke­rungs­explo­si­on aus den Fak­to­ren von abrup­tem Bevöl­ke­rungs­ver­lust durch Pest, reak­ti­ver Hexen­ver­fol­gung und for­cier­ter Sexu­al- und Ehe­mo­ral ent­wi­ckel­te Hein­sohn zuletzt die The­se vom Zusam­men­hang zwi­schen über­zäh­li­gen Söh­nen und Weltmacht.

Er betrach­tet die Erobe­rung fast der gesam­ten Erd­ober­flä­che durch die Euro­pä­er sowie den Auf­stieg und Nie­der­gang der ein­zel­nen euro­päi­schen Hege­mo­ni­al­mäch­te (in der Rei­hen­fol­ge Por­tu­gal, Spa­ni­en, Niederlande,
Eng­land, USA) im Lich­te ihrer jewei­li­gen demo­gra­phi­schen Situa­ti­on. Die Bevöl­ke­rungs­explo­si­on in der außer­eu­ro­päi­schen Welt wird hier aus der Über­nah­me des ursprüng­lich euro­päi­schen Modells durch die Erober­ten erklärt, das nun in Form von „far­bi­gen” youth bul­ges zur Bedro­hung der west­li­chen Welt werde.
Ein zwei­tes gro­ßes Inter­es­sen­ge­biet Hein­sohns betrifft die ver­glei­chen­de Völ­ker­mord-For­schung. Auch aus die­ser Rich­tung dürf­te er auf die Beschäf­ti­gung mit den über­zäh­li­gen Söh­nen, die in Krie­gen, Bür­ger­krie­gen – und eben Völ­ker­mor­den – ver­heizt wer­den, ver­fal­len sein. Als Spre­cher des seit 1999 bestehen­den Rapha­el-Lem­kin-Insti­tuts für Xeno­pho­bie- und Geno­zid­for­schung hat er sich vor allem mit der Her­aus­ga­be des Lexi­kons der Völ­ker­mor­de gro­ße Ver­diens­te erwor­ben. Hein­sohn war einer der weni­gen Lin­ken, die schon sehr früh dar­auf hin­ge­wie­sen haben, daß die Mas­sen­mor­de Sta­lins oder Maos die­je­ni­gen Hit­lers in der Opfer­zahl bei wei­tem über­tref­fen. Aller­dings glaubt er, daß sich der Holo­caust an den Juden von allen ande­ren Völ­ker­mor­den unter­schei­det. In sei­nem Buch War­um Ausch­witz? bie­tet Hein­sohn einen sehr instruk­ti­ven Über­blick über die wich­tigs­ten gän­gi­gen Theo­rien zum Völ­ker­mord an den Juden und setzt sich dabei auch inten­siv mit den ver­schie­de­nen theo­re­ti­schen Annä­he­run­gen Ernst Nol­tes aus­ein­an­der. Letzt­lich ver­wirft er die­se alle zuguns­ten sei­ner The­se, daß Hit­ler – ganz ohne per­sön­li­chen Juden­haß – in den Juden die phy­si­schen Trä­ger einer spe­zi­fi­schen Ethik der „Lebens­hei­lig­keit” besei­ti­gen woll­te, in der unter ande­rem schon Luden­dorff ein ent­schei­den­des mili­tär­stra­te­gi­sches Hin­der­nis erblickt habe. Es sei Hit­ler um die Wie­der­her­stel­lung des anti­ken Rechts auf rück­sichts­lo­se phy­si­sche Ver­nich­tung und Ver­skla­vung der Bevöl­ke­rung eines mili­tä­ri­schen Geg­ners – sym­bo­li­siert im Toten­kopf der SS – gegan­gen, wel­ches von der jüdi­schen Ethik über­wun­den wor­den sei.
Um die­sen Argu­men­ta­ti­ons­strang bes­ser nach­voll­zie­hen zu kön­nen, muß man einen Blick auf das drit­te gro­ße For­schungs­ge­biet Hein­sohns wer­fen: die Reli­gi­ons­ge­schich­te. Hier ver­tritt er die The­se, daß das reli­giö­se Men­schen- und Tier­op­fer als kol­lek­tiv­the­ra­peu­ti­sche „Nach­spie­lung” rea­ler kos­mi­scher Kata­stro­phen der Bron­ze­zeit ent­stan­den sei.
Aus die­sem blu­ti­gen Akt des Nach­spie­lens sei­en dann auch das Pries­ter­kö­nig­tum, die Göt­ter­bil­der in Men­schen- und Tier­ge­stalt sowie die Ent­ste­hung der pro­fes­sio­nel­len Küns­te abzu­lei­ten. Nach dem Abklin­gen der gro­ßen Natur­ka­ta­stro­phen (Kome­ten, Sint­flut) sei das blu­ti­ge Opfer dann aber zuneh­mend als pro­ble­ma­tisch emp­fun­den wor­den und nach und nach durch mil­de­re (sym­bo­li­sche) For­men ersetzt wor­den. Die apo­ka­lyp­ti­sche Grund­idee des Opfers sei aber bis heu­te bei­be­hal­ten wor­den, so daß es auch im Zuge ver­gleichs­wei­se klei­ner (etwa wirt­schaft­li­cher) Kri­sen jeder­zeit wie­der akti­viert wer­den kön­ne. Ledig­lich die anti­ken Juden hät­ten dem Opfer­ge­dan­ken an einem bestimm­ten Punkt der Geschich­te eine Absa­ge erteilt und durch eine ratio­na­le­re Lie­bes- und Lebens­ethik ersetzt („Du sollst nicht töten”, Fein­des­lie­be). Dafür wür­den sie bis heu­te von den ande­ren – wei­ter opfern­den – Völ­kern geh­aßt, ein Haß, den Hein­sohn aus der psy­cho­lo­gi­schen Situa­ti­on des Opfern­den erklärt, der sich von einem Nicht-Mit­op­fern­den beob­ach­tet und beschämt und damit um den psy­cho­lo­gisch-aus­söh­nen­den Gewinn des Opfers betro­gen fühlt.

Neben die­sen For­schun­gen hat Hein­sohn eine beacht­li­che Lei­den­schaft für chro­no­lo­gie­kri­ti­sche Fra­ge­stel­lun­gen ent­wi­ckelt. In der letz­ten Aus­ga­be der aus­schließ­lich auf archäo­lo­gi­sche Befun­de gestütz­ten Unter­su­chung Wie alt ist das Men­schen­ge­schlecht? schätzt er das Gesamt­al­ter des Jetzt­men­schen auf weni­ger als 6.500 Jah­re, even­tu­ell ledig­lich 4.000 Jah­re. Zahl­rei­che wei­te­re Titel befas­sen sich mit chro­no­lo­gi­schen Revi­sio­nen in der Anti­ke (ca. 500 Jah­re Abzug von der offi­zi­el­len Chro­no­lo­gie) und des Mit­tel­al­ters (ca. 300 Jah­re Abzug). Die­se For­schun­gen rufen beim unvor­ein­ge­nom­me­nen Betrach­ter viel­leicht zunächst die größ­ten Reser­ven her­vor. Den­noch muß auch hier betont wer­den, daß Hein­sohns Argu­men­ta­ti­on immer auf umfas­sen­der Kennt­nis der ein­schlä­gi­gen For­schungs­li­te­ra­tur auf­baut und deren Schwach­punk­te erbar­mungs­los ausleuchtet.
Ein fünf­tes Inter­es­sen­ge­biet Hein­sohns, der neben Sozio­lo­gie auch in Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten pro­mo­viert ist, betrifft die Wirt­schafts­theo­rie und ‑geschich­te. In die­sem Feld wen­det er sich vehe­ment gegen die vor­herr­schen­de (von allen Wirt­schafts­no­bel­preis­trä­gern und allen gän­gi­gen öko­no­mi­schen Theo­rien geteil­te) Auf­fas­sung von der Ent­ste­hung des Gel­des und der Wirt­schaft aus dem Tausch. In einem beein­dru­cken­den Ver­such zur his­to­ri­schen Rekon­struk­ti­on der Geld­ent­ste­hung gelangt er zu der Auf­fas­sung, daß sie sich letzt­lich den glei­chen bron­ze­zeit­li­chen Groß­ka­ta­stro­phen ver­dankt, wie das reli­giö­se Opfer.
Nach einer gewal­ti­gen Erschüt­te­rung der alten stam­mes­ge­sell­schaft­li­chen und feu­da­len Ord­nun­gen durch Natur­ka­ta­stro­phen hät­ten sich erst­ma­lig in der Geschich­te die „Hero­en” der Anti­ke zu einer Asso­zia­ti­on von prin­zi­pi­ell glei­chen, patri­ar­cha­li­schen Pri­vat­ei­gen­tü­mern in der Polis zusam­men­ge­schlos­sen. Durch das ver­pfänd­ba­re Pri­vat­ei­gen­tum sei das Geld als Schuld­schein in die Welt gekom­men und eben­so der Zins, als Risi­ko­ab­si­che­rung des Schuld­ners und nicht pri­mär als sein Pro­fit­in­ter­es­se. Im Bemü­hen um die Til­gung der Zins­last wird dann der Motor der Pro­duk­ti­on und des wirt­schaft­li­chen Fort­schritts erblickt. Das Sys­tem des „Kapi­ta­lis­mus” mit sei­nen extre­men Ungleich­hei­ten sei dem­nach ursprüng­lich als Sys­tem der Gleich­heit ange­legt gewe­sen, bei dem sich aber schnell her­aus­stell­te, daß die Pri­vat­ei­gen­tü­mer eben unter­schied­lich erfolg­reich mit ihrem Pfund wucher­ten. Auf der Basis die­ser Her­lei­tung ist inzwi­schen eine eigen­stän­di­ge wirt­schafts­theo­re­ti­sche Schu­le ent­stan­den, die soge­nann­te Eigentumsökonomik.
Sei­ne Kennt­nis und aus­drück­li­che Kennt­nis­nah­me der „sozia­lis­tisch” moti­vier­ten Mas­sen­mor­de und sei­ne auf anthro­po­lo­gi­schem Rea­lis­mus auf­ge­bau­te Wirt­schafts- und Reli­gi­ons­theo­rie brach­ten Gun­nar Hein­sohn schon früh auf Distanz zu sei­nem „grü­nen” aka­de­mi­schen Umfeld. In einem bemer­kens­wer­ten Essay aus den frü­hen acht­zi­ger Jah­ren macht er sich auf sub­til-ätzen­de Wei­se über „die vie­len hun­dert Mil­lio­nen, die sich Sozia­lis­ten und Kom­mu­nis­ten nen­nen” lus­tig.
Er stellt klar, daß die Mehr­heit der revo­lu­tio­nä­ren Maul­hel­den die „ent­frem­de­ten” Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen des moder­nen Groß­stadt­le­bens eigent­lich ganz gut fin­den und kei­nes­wegs dar­an inter­es­siert sind, in einer total unent­frem­de­ten sozia­lis­ti­schen Gemein­schaft zu leben. Eine sol­che Gemein­schaft erblickt Hein­sohn, der von 1976 bis 1978 in Isra­el gelebt hat, vor allem in den „frei­en Pro­du­zen­ten­as­so­zia­tio­nen”, wie sie in den Kib­but­zim gestal­tet sind. Die Opfer, die der Ein­zel­ne dort gegen­über dem moder­nen Stadt­le­ben zu brin­gen hat – vor allem im Bereich der frei­en Gestal­tung der Sexua­li­tät, der Leis­tungs­be­reit­schaft und der unbe­ob­ach­te­ten Pri­vat­sphä­re, wer­den nicht beschönigt.
So resü­miert er denn auch frei­mü­tig: „Für die meis­ten von uns bedeu­tet ‚Sozia­lis­mus‘ das Recht, den Kapi­ta­lis­mus zu ana­ly­sie­ren, abscheu­lich fin­den und refor­mie­ren zu dür­fen – kurz: Liberalismus.”

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