Wer ist ein gebildeter Mensch?

pdf der Druckfassung aus Sezession 15/Oktober 2006

sez_nr_155von Robert Spaemann

Gebildete Menschen sind nicht nützlicher als ungebildete und ihre Karrierechancen sind nicht besser. Die öffentlichen Schulen sind nicht daran interessiert, gebildete Menschen hervorzubringen. Für gebildete Menschen ist das kein Einwand. Warum nicht? Was ist ein gebildeter Mensch?


1. Ein gebil­de­ter Mensch hat den ani­ma­li­schen Ego­zen­tris­mus hin­ter sich gelas­sen. Zunächst ist ja jeder von uns im Mit­tel­punkt sei­ner Welt. Er setzt alles Begeg­nen­de zur „Umwelt” her­ab und stat­tet es mit Bedeut­sam­kei­ten aus, die die eige­ne Bedürf­nis­na­tur wider­spie­geln. Der Gebil­de­te hat begon­nen, die Wirk­lich­keit als sie selbst wahr­zu­neh­men. Bil­den heißt objek­ti­ve Inter­es­sen wecken, sich bil­den heißt „sich objek­tiv machen”. So schreibt Goe­the: „Sich mit­tei­len ist Natur. Mit­ge­teil­tes auf­fas­sen wie es gege­ben ist, ist Bil­dung.” Etwas „auf­fas­sen, wie es gege­ben ist”, setzt vor­aus, daß wir wis­sen: es gibt außer uns noch ande­re Mit­tel­punk­te der Welt und ande­re Per­spek­ti­ven auf sie. Ande­re sind nicht nur Teil mei­ner Welt, ich bin auch Teil der ihren. Gebil­det ist, wen es inter­es­siert, wie die Welt aus ande­ren Augen aus­sieht, und wer gelernt hat, das eige­ne Blick­feld auf die­se Wei­se zu erweitern.
2. Ein gebil­de­ter Mensch ist im Stan­de, dies bewußt zu tun. Sein Selbst­wert­ge­fühl lei­det nicht dar­un­ter, son­dern wächst damit zugleich. Der Unge­bil­de­te nimmt sich selbst sehr ernst und sehr wich­tig, aber sein Selbst­wert­ge­fühl, sei­ne Selbst­ach­tung ist gleich­zei­tig häu­fig gering. Der Gebil­de­te weiß, daß er nur „auch einer” ist. Er nimmt sich nicht sehr ernst und nicht sehr wich­tig. Aber da er sein Selbst­wert­ge­fühl nicht aus dem Ver­gleich mit ande­ren bezieht, hat er ein aus­ge­präg­tes Gefühl für sei­nen eige­nen Wert. Selbst­re­la­ti­vie­rung und Selbst­ach­tung sind für ihn kein Widerspruch.Überhaupt ist die­se Para­do­xie kenn­zeich­nend für sein Welt­ver­hält­nis. Fast nichts ist für ihn ohne Inter­es­se, aber nur sehr weni­ges wirk­lich wichtig.
3. Das Wis­sen des gebil­de­ten Men­schen ist struk­tu­riert. Was er weiß, hängt mit­ein­an­der zusam­men. Und wo es nicht zusam­men­hängt, da ver­sucht er einen Zusam­men­hang her­zu­stel­len, oder wenigs­tens zu ver­ste­hen, war­um dies schwer gelingt. Er lebt nicht so in ver­schie­de­nen Wel­ten, daß er bewußt­los von der einen in die ande­re hin­über­glei­tet. Er kann ver­schie­de­ne Rol­len spie­len, aber es ist immer er, der sie spielt.
4. Der gebil­de­te Mensch spricht eine dif­fe­ren­zier­te, nuan­cen­rei­che Umgangs­spra­che. Er beherrscht oft eine Wis­sen­schafts­spra­che, aber er wird von ihr nicht beherrscht und braucht wis­sen­schaft­li­che Ter­mi­no­lo­gie nicht als Krü­cke in der Lebens­ori­en­tie­rung und in der Ver­stän­di­gung mit ande­ren. Er sagt: „Ich möch­te” oder „Ich will” und nicht: „Ich bin moti­viert.” Vor allem mei­det er den psy­cho­lo­gi­schen Jar­gon. Psy­cho­lo­gie – wie jede Wis­sen­schaft – han­delt von Bedin­gungs­zu­sam­men­hän­gen. Sie ist wesent­lich pas­si­visch. Spon­ta­nei­tät ist für sie trotz gegen­tei­li­ger Beteue­run­gen kein Gegen­stand. Wes­sen Lebens­welt so sehr wis­sen­schaft­lich kolo­nia­li­siert ist, daß er sich nicht traut, ein­fa­che Sach­ver­hal­te ein­fach aus­zu­drü­cken und zu sagen wie ihm zumu­te ist, der ist nicht gebil­det. Und auch der ist es nicht, der, sobald er die Krü­cke der wis­sen­schaft­li­chen Ter­mi­no­lo­gie fal­len läßt, in den erha­be­nen oder in den ordi­nä­ren Ton fällt.
5. Der gebil­de­te Mensch zeich­net sich aus durch Genuß­fä­hig­keit und Kon­sum­di­stanz. Schon Epi­kur wuß­te, daß bei­des eng zusam­men­hängt. Wer sich wirk­lich freu­en kann an dem, was die Wirk­lich­keit ihm dar­bie­tet, braucht nicht viel davon. Und wer mit weni­gem aus­kommt, hat die grö­ße­re Sicher­heit, daß es ihm sel­ten an etwas feh­len wird. Die Abwe­sen­heit einer „Naß­zel­le” kann den­je­ni­gen nicht empö­ren, der weiß, daß Goe­the und Nico­laus Cusa­nus kei­ne sol­che hat­ten, Men­schen, deren Umgang er dem vie­ler sei­ner naß­zel­len­be­sit­zen­den Zeit­ge­nos­sen vor­zie­hen würde.

6. Der gebil­de­te Mensch kann sich mit etwas iden­ti­fi­zie­ren, ohne naiv oder blind zu sein. Er kann sich iden­ti­fi­zie­ren mit Freun­den, ohne deren Feh­ler zu leug­nen. Er kann sein Vater­land lie­ben, ohne die Vater­län­der ande­rer Men­schen zu ver­ach­ten, vor allem die­je­ni­gen Vater­län­der, die eben­falls von ihren Bür­gern geliebt wer­den. Das Frem­de ist ihm eine Berei­che­rung, ohne die er nicht leben möch­te, kein Grund, sich des Eige­nen zu schä­men. Iden­ti­fi­ka­ti­on bedeu­tet für ihn nicht Abgren­zung, son­dern „Oikei­osis”, Anver­wand­lung. Und wenn die christ­li­che Lit­ur­gie in der Oster­nacht davon spricht, daß Gott „unse­re Väter, die Kin­der Isra­els in die­ser Nacht tro­cke­nen Fußes durch das Rote Meer geführt hat”, so fällt es ihm weder schwer „unse­re Väter” noch „in die­ser Nacht” zu sagen. Bio­lo­gi­sche Kon­ti­nui­tät ist für ihn nicht eine Bedin­gung der Identifikation.
7. Der gebil­de­te Mensch kann bewun­dern, sich begeis­tern, ohne Angst, sich etwas zu ver­ge­ben. Inso­fern ist er das genaue Gegen­teil des Res­sen­ti­ment­typs, von dem Nietz­sche spricht, des Typs, der alles klein machen muß, um sich selbst nicht zu klein vor­zu­kom­men. Er kann neid­los Vor­zü­ge bewun­dern und sich an ihnen freu­en, die er selbst nicht besitzt. Denn er zieht sein Selbst­wert­ge­fühl nicht aus dem Ver­gleich mit ande­ren. So fürch­tet er auch nicht, durch Dank­bar­keit in Abhän­gig­keit zu gera­ten. Ja, er hat nicht ein­mal etwas gegen Abhän­gig­keit von Men­schen, denen er ver­traut. Er zieht das Risi­ko, von sei­nen Freun­den ent­täuscht zu wer­den, der Nie­der­tracht vor, ihnen zu mißtrauen.
8. Der gebil­de­te Mensch scheut sich nicht zu wer­ten, und er hält Wert­ur­tei­le für mehr als für den Aus­druck sub­jek­ti­ver Befind­lich­keit. Er bean­sprucht für sei­ne eige­nen Wert­ur­tei­le objek­ti­ve Gel­tung. Gera­de des­halb ist er auch bereit, sie zu kor­ri­gie­ren. Denn was kei­ne objek­ti­ve Gel­tung bean­sprucht, braucht auch nicht kor­ri­giert zu wer­den. Der gebil­de­te Mensch hält sich für wahr­heits­fä­hig, aber nicht für unfehl­bar. Kant hielt ästhe­ti­sche Urtei­le für eben­so objek­tiv gül­tig wie unbe­weis­bar. Gebil­de­te Men­schen haben im Umgang mit der Welt genü­gend Unter­schei­dungs­ver­mö­gen ent­wi­ckelt, um sich Qua­li­täts­ur­tei­le zuzu­trau­en. Sie wis­sen, daß es Kunst­wer­ke gibt, die bedeu­ten­der sind als ande­re, und Men­schen, die bes­ser sind als ande­re. Und wenn sie das auch nicht bewei­sen kön­nen, so zeigt sich doch, daß gebil­de­te Men­schen zu einer zwang­lo­sen, unwill­kür­li­chen Über­ein­stim­mung in den meis­ten die­ser Urtei­le kommen.
9. Der gebil­de­te Mensch weiß, daß Bil­dung nicht das Wich­tigs­te ist. Ein gebil­de­ter Mensch kann sehr wohl zum Ver­rä­ter wer­den. Die inne­re Distanz, die ihn aus­zeich­net, macht ihm den Ver­rat sogar leich­ter als ande­ren Men­schen. Bil­dung schafft eine men­schen­wür­di­ge Nor­ma­li­tät. Sie berei­tet nicht auf den Ernst­fall vor und ent­schei­det nicht über ihn. Schil­ler unter­schied zwi­schen der „mora­li­schen” und der „vol­len anthro­po­lo­gi­schen Schät­zung”. Jemand kann ein wohl­ge­ra­te­ner Mensch sein und doch der Ver­su­chung unter­lie­gen, wort­brü­chig zu wer­den. Jemand kann ein küm­mer­li­cher Mensch oder ein Schla­wi­ner sein und im ent­schei­den­den Augen­blick anstän­dig blei­ben und sei­nen Mit­men­schen nicht im Stich las­sen. Nicht jeder, der in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen sitt­lich han­delt, macht dabei im übri­gen eine gute Figur. Der Gebil­de­te hat eine Abnei­gung dage­gen, das Gute mit Schweiß auf der Stirn zu tun. Manch­mal sieht das Gute nicht mehr schön aus, und da schreckt er leicht zurück. Wirk­lich gebil­det ist nur der, der dies weiß. Und wenn er schon selbst sich nicht die Hand abhackt und das Auge aus­reißt, um ins Him­mel­reich ein­zu­ge­hen, so schätzt er den, der dies tut, doch nicht gerin­ger ein als den, der mit hei­len Glied­ma­ßen zur Höl­le fährt.
10. Es gibt aber einen Punkt, da kom­men Gebil­det­sein und Gut­sein zwang­los über­ein. Der gebil­de­te Mensch liebt die Freund­schaft, vor allem die Freund­schaft mit ande­ren gebil­de­ten Men­schen. Gebil­de­te Men­schen haben anein­an­der Freu­de, wie Aris­to­te­les sagt. Über­haupt haben sie mehr Freu­de als ande­re. Und das ist es, wes­halb es sich – unab­hän­gig von den Zufäl­lig­kei­ten gesell­schaft­li­cher Wert­schät­zung – lohnt, ein gebil­de­ter Mensch zu sein.

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