Und unvorstellbar scheint, daß die Meinung dieses Anführers eines Mitte-Rechts-Bündnisses kein Einzelfall ist im italienischen Gesamtbild: In einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut SWG im vergangenen Jahr für ein Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens durchgeführt hat, beantworteten 47 Prozent der Befragten die Aussage »Der Faschismus hatte gute und schlechte Seiten – sind Sie einverstanden?« mit Ja. »Das ist ein konstantes Ergebnis seit über 15 Jahren«, kommentierte der Leiter des Instituts SWG.
Die Hälfte aller Italiener verbindet also mit dem Faschismus noch heute positive Aspekte. Dies ist erstaunlich, aber sicher ohne Entsprechung im übrigen Europa und kann zu Mißverständnissen und oberflächlichen Interpretationen führen. Man könnte beispielsweise annehmen, daß die Beziehung der Italiener zum Faschismus heute oder sogar seit jeher eine versöhnliche sei und frei von Bitterkeit. Aber das stimmt nicht: Die Partisanen haben nach dem Krieg zwanzig- bis vierzigtausend Faschisten umgebracht – wenn man nur die am Ende des Krieges verübten Racheaktionen in Rechnung stellt. Allein in Reggio Emilia wurden nach 1945 mehr Tote gezählt als während der gesamten Französischen Revolution. Außerdem ist in Italien die größte kommunistische Partei des gesamten Westens verwurzelt.
Sie trägt die Verantwortung für einen roten Terrorismus, der einer der blutigsten in Europa war, mit breitem Konsens und wichtiger Deckung von politischer Seite. Erinnert sei an die Jagd auf die Faschisten in den 70er Jahren, die zig Tote hinterlassen hat und Hunderte von Verletzten, und deren Opfer meist sehr jung waren. Noch heute stammen ein großer Teil des Justizapparats und die gesamte Führungsschicht der größten italienischen Partei (Partito Democratico) aus den Rängen des militanten Antifaschismus, und in einigen Regionen und Städten ist die Verbindung zwischen dem aktuellen politischen Extremismus der Linken und der institutionellen Politik sehr eng.
Die Linke in Italien behauptet häufig, daß die Verfassung von 1948 aus juristischer Sicht auf dem Antifaschismus basiere, aber dabei handelt es sich um eine Unwahrheit. Wer den Text liest, wird bemerken, daß das Wort »Antifaschismus« nicht vorkommt. Es existiert eine Version der verfassungsgebenden Versammlung, ursprünglich als »Übergangsversion« gedacht, die jedoch bis heute in Kraft ist und in der man liest: »Die Neugründung der aufgelösten faschistischen Partei ist in jedweder Form verboten. Abweichend von Artikel 48 [der das Wahlrecht regelt] ist per Gesetz festgelegt, daß für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren nach dem Inkrafttreten der Verfassung für die verantwortlichen Führungskräfte des faschistischen Regimes temporäre Beschränkungen hinsichtlich ihres Wahlrechts sowie ihrer Wählbarkeit gelten«. Das sind Sätze mit Interpretationsspielraum: Ist nun jede Partei verboten, die sich auf den Faschismus beruft oder nur die historische Struktur des PNF (Partito Nazionale fascista)? Der zweite Teil läßt darüber hinaus den Schluß zu, daß Mussolini selbst, wäre er nicht ermordet worden, nach 1953 wieder hätte wählen gehen und in das demokratische Parlament gewählt werden können.
Ein Gesetz von 1952, das sogenannte »legge Scelba«, versucht, diesbezüglich Klarheit zu schaffen, indem präzisiert wird, daß es sich um die Neugründung der faschistischen Partei handelt, »wenn eine Vereinigung, eine Bewegung oder irgendeine andere Gruppe von mindestens fünf Personen antidemokratische Ziele verfolgt, die der faschistischen Partei zu eigen sind, Gewalt verherrlicht, androht oder als Mittel des politischen Kampfes benutzt, oder für die Abschaffung der durch die Verfassung garantierten Freiheit eintritt, oder die Demokratie, ihre Institutionen oder die Werte der Resistenza diffamiert, rassistische Propaganda betreibt oder auch seine Aktivitäten der Verherrlichung von Exponenten, Prinzipien und Methoden der zuvor genannten Partei verschreibt oder öffentliche Kundgebungen faschistischen Charakters ausübt«. Es handelt sich dabei also um eine Spannweite von Verhaltensweisen, die von der tatsächlich die Gesellschaft zersetzenden Aktivität bis zum einfachen Meinungsdelikt reicht.
Ein Urteil von 1957 präzisiert jedoch, daß »die Apologie des Faschismus nicht nur in der lobenden Verteidigung desselben liegen darf, um den Charakter einer Straftat anzunehmen, sondern ein Ausmaß annehmen muß, das zur Neugründung der faschistischen Partei führen könnte.« Faschistische Ansichten sind für sich genommen also noch keine Straftat, solange sie nicht in einem tatsächlich die demokratische Ordnung gefährdenden Kontext stehen. Diese Ungenauigkeit hat jedoch bis heute zur Folge, daß diese Normen auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden, je nach Gericht und von Fall zu Fall, mal einschränkender, mal toleranter.
Die Aktivität von CasaPound Italia (CPI) fügt sich in diesen politischen, kulturellen und rechtlichen Kontext. Die Bezugnahme auf den Faschismus als Hauptquelle der Inspiration für CPI könnte man für selbstverständlich halten, aber auch hier muß man sich vor oberflächlichen Lesarten hüten. Simone di Stefano, der Vizepräsident von CasaPound, hat häufig gesagt: »Als wir angefangen haben, Politik zu machen, haben wir den Faschismus vom Boden aufsammeln müssen«. Das bedeutet, daß in Italien in den 80er und 90er Jahren keiner vom Faschismus als einer tatsächlichen politischen Option sprach, einer konkret revolutionären Idee. Das Umfeld des MSI (Movimento Sociale Italiano), aber auch ein großer Teil der radikalen außerparlamentarischen Rechten dieser Jahre, schlug in Wirklichkeit ein Szenario vor, das bald Fantasy, bald am Ausland orientiert oder bereits »normalisiert« in einem liberaldemokratischen Sinn war. Diese Neofaschisten wußten alles über Codreanu oder den letzten Kampf um Berlin, sie lasen Tolkien und träumten von mittelalterlichen Rittern, aber sie hatten weder D’Annunzio oder Marinetti noch Gentile oder Pavolini gelesen, die Heldenepik der Squadristen. Aber auch jene 47 Prozent der Italiener, die »positive Aspekte« im Faschismus sehen, dürfen nicht überbewertet werden: viele von ihnen wählen antifaschistische Parteien, ohne den Widerspruch auch nur zu bemerken.
Aus dieser Situation zog CasaPound einige Schlußfolgerungen. Sie sind unentbehrlich für das Verständnis dieser neuen Bewegung:
- In Italien gibt es eine große Bereitschaft, die positiven Aspekte des Faschismus außerhalb seiner Dämonisierung und fern von Vorurteilen zu diskutieren;
- Diese Bereitschaft hat vor allem spontanen, folkloristischen und unpolitischen Charakter und wird nicht zwingend in konkrete Handlung übersetzt;
- Es gab und gibt immer noch einen heftigen Antifaschismus sowie Repression gegen politisch nicht korrekte Ansichten, die nicht unterbewertet werden dürfen.
Warum aber überhaupt faschistische Konzepte? Für deutsche Leser muß das klingen wie ein Rückgriff in das politische Arsenal finsterer Zeiten. So klingt das in Italien nicht, und es reicht manchmal schon aus, den Liberalen oder den Marxisten zu zeigen, daß der Faschismus eine für das 20. Jahrhundert typische Weltanschauung ist – im Gegensatz zu denen, zu denen sie selbst sich bekennen. Denn der Marxismus stammt aus dem 19., der Liberalismus aus dem 18. Jahrhundert, und niemand kann bestreiten, daß der Faschismus zugleich Synthese und Neuentwurf vor dem Hintergrund gescheiterter Ideologien war und ist. Bei Lichte betrachtet ist der Faschismus heute in der Tat der totale Gegenentwurf zur vorherrschenden Ideologie der Gleichheit und Gleichzeitigkeit.
Ernst Nolte hat das vor Jahrzehnten ausgeführt, als er vom Faschismus als dem »Widerstand gegen die Transzendenz« sprach, wobei er den Begriff Transzendenz als »Freiheit in Richtung der Unendlichkeit« verstand, die, als dem Individuum angeboren und als realer Bestandteil der universalen Evolution, droht, das zu vernichten, was man kennt und liebt. CasaPound nennt diese »Transzendenz« einfach »Entwurzelung« und liest Noltes Definition des Faschismus als »Widerstand gegen die Transzendenz« schlicht als »offenen Kampf gegen die Globalisierung«.
Die Vorstellung vom Faschismus als antimodernem, wenn nicht sogar vormodernem Phänomen, außerhalb seiner Zeit, als einem rein barbarischen Einbruch in eine vollkommen friedliche Moderne, ist von den Historikern vollständig beiseite gelegt worden. Ein »militanter« Historiker wie Adriano Romualdi konnte schreiben, daß »der Faschismus wirklich in dieser Synthese liegt zwischen dem Antiken und dem Neuen, in diesem riskanten Versuch, den Geist, den Mythos, die Symbole einer ursprünglichen Tradition in einer Rüstung aus Glas und Stahl zu erhalten. Beton und geometrischer Glanz des 20. Jahrhunderts, benutzt, um die Illusion einer klaren Verbindung mit der römischen Klassik zu erneuern.« Vor nicht langer Zeit hat dieselbe offizielle Geschichtsschreibung die charakteristischen Eigenschaften eines faschistischen Modernismus anerkannt. Denken wir nur an Emilio Gentile, den wichtigsten lebenden Historiker des Faschismus, der geschrieben hat: »Die faschistische Ideologie kann als ein Phänomen des politischen Modernismus verstanden werden, und zwar im Sinne einer Idee, die die Modernisierung akzeptiert und glaubt, die richtige Formel zu kennen, um den Menschen, die vom Strudel der Moderne mitgerissen werden, ›die Macht zu geben, die Welt zu verändern, die sie verändert, den eigenen Weg zu gehen inmitten dieses Strudels und ihn sich zu eigen zu machen‹ (M. Berman).«
Diese moderne Sensibilität, dieser heroische Modernismus unterscheiden sich im Grunde nicht von dem, was Ernst Jünger in der Gestalt des Arbeiters entwarf. Dies ist eine Haltung, die sich auch bei dem israelischen Historiker Zeev Sternhell ausformuliert findet. Sternhell beschrieb die Entwicklung zweier, auf dem Weg in die Moderne einander antithetisch gegenüber stehender Ansätze seit dem 18. Jahrhundert: Beim einen zähle, was die Menschen einander gleich mache (das »Projekt der Aufklärung«, das nach Habermas den »philosophischen Diskurs der Moderne« begründet); beim anderen sei ausschlaggebend, was die Menschen unterscheidet: die Geschichte, die Kultur, die Sprache und die ethnische Herkunft. In dem Moment, in dem der Wahnsinn des Freihandels, die Desaster der Globalisierung und die Häufung von Katastrophen jeglichen Optimismus bezüglich des Fortschritts im Kern erschüttern, ist es tatsächlich diese Habermassche Moderne, die in eine Krise gerät. Wer dies schon bedacht und einen anderen Weg in die Moderne vertreten hat, findet sich plötzlich auf der richtigen Seite der Geschichte wieder.
Klar ist: Wir befinden uns im Jahre 2013 und nicht im Jahre 1919. Die Faschisten hatten damals Erfolg, weil sie es verstanden, ihre eigene Zeit zu interpretieren und ihre Epoche zu verstehen. Unsere Zeit verlangt von uns dasselbe, denn der erste Schritt, um als Revolutionäre zu scheitern, wäre, die Epoche zu mißverstehen und in einer imaginären Realität zu leben. Der Faschismus hat, wie jedes historische Phänomen, eine Geisteshaltung und eine spezifische Theorie hervorgebracht. Erstere wird weiter verwendet, letztere muß der Geschichte übergeben werden.
Verschiedene rechte Bewegungen in Italien, aber auch in Frankreich, haben CasaPound beschuldigt, gefährliche Zugeständnisse an den Zeitgeist gemacht, sich der Sprache von heute bedient und für die eigene Propaganda auf Elemente der Rockkultur und des Hollywood-Kinos zurückgegriffen zu haben. All das ist für jene schon eine Sünde wider den reinen Geist. CasaPound jedoch glaubt, daß ein Baum, der tiefe Wurzeln hat, seine Äste in jedes Gebiet ausstrecken kann. Die postmoderne Vorstellungswelt ist voller Vitalität, die genutzt werden muß.
Es handelt sich nicht nur um die Aktualisierung der Sprache: Auch die Probleme müssen zeitgemäß erkannt und beschrieben werden. Biotechnologie, Internet, aufstrebende Mächte wie China und Indien, Massenimmigration: Wir können uns nicht mit der politischen Agenda jener begnügen, deren Hauptproblem die Folgen des Versailler Vertrags waren. Und auch die Methoden sind andere: Auf eine Zeit des Friedens können nicht die Mittel des Bürgerkrieges angewendet werden. Der Squadrismus hatte eine ihm eigene heroische Dimension, aber in seinen literarischen Formen gehört er augenscheinlich einer anderen Epoche an und ist heutzutage nicht mehr anwendbar. Es existiert heute ein legaler und institutioneller Rahmen, der unmöglich zu umgehen ist. Innerhalb dieses Rahmens agiert CasaPound.
Es geht ihr um eine Aktualisierung des Faschismus, und der Schwerpunkt liegt dabei erwartungsgemäß auf der Alltagsgestaltung. Für CasaPound bedeutet das konkret: Verwaltung und Bewachung eines besetzten Gebäudes, das sich im Zentrum Roms befindet und in dem dreiundzwanzig Familien untergebracht sind, die sich in konkreter Wohnungsnot befinden. Dies ist eine Aufgabe, die seit zehn Jahren ununterbrochen und rund um die Uhr erfüllt wird, und zwar ausschließlich von freiwilligen Aktivisten (»Militante« nennen wir sie), mit achtstündigen nächtlichen Wachdiensten und jeweils drei Schichten zu je vier Stunden tagsüber.
Dazu kommen Schichtdienste in Pubs und Buchläden – immer auf freiwilliger Basis – sowie traditionellere politische Aktivitäten wie Plakatieren, Aktionen im Sinne der politischen Kampagnen der Bewegung, zwei Konferenzen pro Monat, mindestens eine Versammlung pro Woche undsoweiter. CasaPound bemüht sich also um ein Ambiente der »totalen Militanz«, innerhalb dessen der einzelne Aktivist sich selbst der Sache ganz konkret verschreibt, ohne daß ihm Zeit bliebe, sich auf folkloristische oder intellektualistische Abwege zu begeben. Auf diese Art und Weise verliert das Gerede über das Wie, Wann und Wo der Revolution seine Bedeutung, denn der Aktivist ist sich sicher, daß er die Revolution vorantreibt, Tag für Tag, ganz real.
Natürlich stellt sich nach dieser Übersetzung des Faschismus in unsere Zeit die Frage nach dem Namen. Gehört das Wort »Faschismus« zur Geisteshaltung oder zum Vokabular? Trifft es den Wesenskern oder ist es ein Etikett? Viele meinen, daß dieses Etikett zu den Akten gelegt und ein neuer Name gefunden werden müsse. CasaPound sieht jedoch nicht ein, warum der Faschismus die einzige politische Idee sein muß, die nach so kurzer Zeit ihren Namen ändern sollte. Der Vergleich mit dem Christentum erklärt den Ansatz: Es ist offensichtlich, daß ein Gläubiger der römischen Epoche, einer aus dem Mittelalter und einer von heute zugleich derselbe und ein ganz und gar anderer ist. Die Sprache sowie die Formen des Kultes haben sich verändert, aber das, was unverändert geblieben ist, ist der Glaube. Er ist das einzige, was letztendlich wirklich zählt.