Das Ich steht der Welt gegenüber. Es muss sich in ihr einrichten. In einigen Fällen verspürt das Ich aber den Drang von der Welt unabhängig zu sein, frei. Das ist Lissons Ausgangslage. Von hier aus entwickelt er die Philosophie, die in seinen drei Werken „Homo Viator“ „Homo Creator“ und „Homo Absolutus“ niedergelegt ist. Herausgekommen ist ein Denken, welches entgegen der ausdrücklichen Absicht des Autors zur politischen Philosophie zu zählen ist. Denn was kann vor diesem Hintergrund „Freiheit“ – eines der populärsten Schlagwörter aller Zeiten – überhaupt bedeuten? Um dies zu klären bedarf es der beiden Grundbegriffe des, in der Reihenfolge des Gedankenganges, ersten Bandes, des Homo Viator: Die „Tendenz“ und den „Zustand“.
Den Begriff der „Tendenz“ kann man grob mit Zeitgeist beschreiben, er reicht aber tiefer. Tendenzen sind sich historisch entwickelnde, kollektive Ansichten und Urteile. In Lissons Worten: „Tendenzen entstehen dadurch, daß in einem Kulturkreis bestimmte biologische Impulse wirksam werden, nämlich solche, über die individuelle Zustände kollektiven Charakter erhalten. Verband und Einzelner verhalten sich entwicklungsgeschichtlich immer streng reziprok zueinander. Das heißt, der Einzelne ist immer zugleich Produkt oder Ergebnis der mentalen Verfassung des Verbandes, aus dem er hervorgegangen ist, wie der Zustand des Verbandes wiederum vom Zustand der Einzelnen abhängt.“ (Homo Viator S. 11)
An dieser Stelle ist bereits klar, warum Lisson „Freiheit“ nur im politischen Zusammenhang denken kann. Zwar bilden die Einzelnen die Tendenz, das Gewicht des Einzelnen ist dabei aber – wie bei einer Wahl – so gering, dass das Ergebnis für ihn eine unverrückbare Tatsache darstellt. Aus der subjektiven Sicht des Einzelnen ist sein Verhältnis zur herrschenden Tendenz daher keinesfalls reziprok. Die Tendenz ist ihm vielmehr ein unsichtbares Gefängnis, das nicht seinen Körper, sondern seinen Geist einschränkt. Die „Macht der Tendenzen“ verzerrt die Vernunft, da sie dem Menschen bestimmte Gedanken, die der herrschenden Tendenzen, anbietet, Gedanken die diesen Tendenzen zuwiderlaufen jedoch tabuisiert. Einen Gedanken zu denken erfordert also um so größere geistige Kraft und Souveränität, je weiter er von den herrschenden Tendenzen entfernt ist.
Mit dem Begriff des „Zustandes“ beschreibt Lisson eine, noch grundlegendere Bedingtheit des Denkens. Ein Zustand ist in Lissons Philosophie jene Bedingung des Denkens und Empfindens, die dem Menschen von den ihn umgebenden Dingen auferlegt wird. Die Dinge prägen das Denken. Lisson unterscheidet drei Hauptzustände der menschlichen Entwicklung. Die »Natur« (von den Anfängen des Menschen bis zur Sesshaftwerdung), die »Kultur« (von der Sesshaftwerdung bis ins 20. Jahrhundert) und die »Zivilisation« (zu der wir uns heute entwickeln). Ein Jäger und Sammler war von grundlegend anderen Dingen umgeben als ein Mensch der Kultur. Wessen Leben sich zwischen Jagdgeräten und Nomadenzelten abspielte, musste ein ganz anderes Denken entwickeln, als ein Mensch der Kultur, dessen Leben von festen Behausungen, Äckern, Nutzvieh, Handel und Handwerk geprägt war.
Einen ähnlichen Umbruch wie die neolithische Revolution, nur vielleicht noch weitaus schärfer, erleben wir heute mit dem in alle Lebensbereiche eingreifenden technologischen Wandel. Die geistige Freiheit sei allerdings in den verschiedenen Zuständen sehr unterschiedlich. Laut Lisson war sie in der »Kultur« mit Abstand am größten. In der »Natur« wie in der »Zivilisation«, welche eine Rückkehr zur Natur unter technischen Bedingungen sei, ist sie mangels geistiger Spannung weit geringer. Lisson setzt diese Zustandsbegriffe immer in spitze Klammern, um ihren Charakter als Behelfsbegriffe zu verdeutlichen. Sie sind aus Mangel an Alternativen ausgewählt, die diese extrem komplexen Hauptzustände der menschlichen Entwicklung treffender beschreiben.
Aber das Prinzip dahinter ist evident. Die rasante Veränderung unserer Umgebung durch den technologischen Fortschritt hat bereits jetzt massive Auswirkungen auf unser Denken und Handeln. Nur ist bisher kaum abzusehen, welche Folgen sich dabei langfristig zeigen werden. Es scheint durchaus so, dass die Schwierigkeiten des Menschen, sich seiner technisierten Umwelt anzupassen, in der »Zivilisation« neue Spannungen hervorruft, die es in der »Kultur« so nicht gab. Aber bisher ist alles in diese Richtung wilde Spekulation.
Aus Einsicht in die Bedingtheit des Denkens, versteht Lisson „Freiheit“ fast ausschließlich als die Freiheit des Denkens. Freiheit ist ihm die Fähigkeit eines Individuums, möglichst unabhängig von seiner gesellschaftlichen Bedingtheit zu denken. Den Pathos der Wahrheitssuche hält er allen politischen Freiheitskonzeptionen entgegen. Es gibt Menschen, die die innere Notwendigkeit verspüren, ohne persönliche und gesellschaftliche Rücksichten nach der Wahrheit zu suchen. Das sind ihm die echten Philosophen, die großen Einsamen. Der mit der Wahrheitssuche verbundene Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft ist ihnen bewusst. Das ist der Preis für ihre Freiheit.
Frank Lisson: Homo Viator. Die Macht der Tendenzen, Schnellroda: Antaios 2014. 304 S., 22 €, hier bestellen
Die Homines-Trilogie kann hier für 55 € statt 66 € (bei Einzelkauf) bestellt werden.
Strogoff
Mal sehen ob Frank Lisson sich wieder genötigt sieht einzuschreiten. Nach dem Poensgenschen Dreiteiler bei der BN gab es eine saftige Erwiderung von ihm.
Darauf folgte noch eine Gegenrede von Poensgen.
Dieses Duo könnte Kult werden.