Heideggers Frage nach dem Ort

PDF der Druckfassung aus Sezession 56 / Oktober 2013

von Harald Seubert

Heideggers vielberufene »Kehre« ist nicht als Etappe oder Periodisierung seines Denkens zu verstehen.

Ihre von Heid­eg­ger selbst wie­der­holt beton­te Not-Wen­dig­keit liegt viel­mehr im inne­ren Sinn der Seins­fra­ge selbst, die Heid­eg­ger mit höchs­ter Kon­zen­tra­ti­on auf sei­nem gesam­ten Denk­weg entfaltete.

Er hat­te in sei­nem frü­hen Haupt­werk Sein und Zeit (1927) bekannt­lich die Seins­fra­ge vom Dasein des Men­schen aus expo­niert. Das Dasein sei das Sei­en­de, dem es in sei­nem Sein um die­ses Sein selbst gehe. Heid­eg­gers Fra­ge gilt zunächst einem Welt­zu­gang, der nicht in der Car­te­si­schen Spal­tung zwi­schen »Ich« und »Welt« ver­fan­gen bleibt.

Das Dasein ist »je schon« in sei­ner Welt. In der Sor­ge um sich selbst, als beding­te Frei­heit und »gewor­fe­ner Ent­wurf« ist es per se welt­haft und in der Ein­heit der Zeit­sin­ne von Gewe­sen- und Zukünf­tig­sein nimmt es sich selbst in die Sor­ge. Das »Vor­lau­fen zum Tod«, das Wis­sen um die äußers­te Mög­lich­keit des Nicht-mehr-Seins gibt ihm sei­ne Tiefenkontur.

Das publi­zier­te Werk endet mit einer Keh­re der Fra­ge­ex­po­si­ti­on, die zugleich einen Zwei­fel in sich schließt: Kann das erschlie­ßen­de Ver­ständ­nis von Sein über­haupt vom Dasein aus mög­lich sein? Doch der kon­zi­pier­te zwei­te Teil von Sein und Zeit blieb unge­schrie­ben oder wur­de im Manu­skript ver­nich­tet – bis heu­te rankt sich dar­um ein gewis­ses Rät­sel. Heid­eg­ger indes frag­te in den fol­gen­den Jah­ren tie­fer boh­rend, auf die Grund­fra­ge der Meta­phy­sik hin: »War­um ist Sei­en­des und nicht viel­mehr nichts?«

Dar­in ver­birgt sich die Fra­ge: Ist die Abgrün­dig­keit des Schwe­bens und Aus­hal­tens vor dem Nichts nicht viel­leicht mit der Seins­er­fah­rung eins? Heid­eg­ger such­te also nun nach der Ein­wur­ze­lung des Den­kens und des Men­schen im Sein selbst, weil er ihn als seins­ver­or­tet wahr­nahm. Dies bedeu­tet nicht weni­ger, als daß der Mensch bedingt sei, von Anfang an, also nicht »frei« im abs­trak­ten Sinn, und nicht pri­mär das Sub­jekt des Denkaktes.

Dies alles kann und soll hier nicht wei­ter aus­ge­führt wer­den, nur noch soviel: Um die Keh­re zu ver­ste­hen, muß man auch das Par­men­i­dei­sche Sinn­bild mit im Blick hal­ten, wonach Hin-weg und Rück-weg der­sel­be sind: Wer der Seins-Ver­or­tung des Men­schen wirk­lich nahe­kom­men möch­te, muß heim­keh­ren können.

Sehr berech­tigt frei­lich ist die Fra­ge, aus wel­cher inne­ren und wel­cher die eige­ne Zeit reflek­tie­ren­den Denk­be­we­gung Heid­eg­ger zu der Not­wen­dig­keit der Keh­re kam. Letzt­lich ging sie aus der Ein­sicht in den End­punkt abend­län­di­schen Den­kens her­vor: Heid­eg­ger sah die­ses Ende in der tech­ni­schen Selbst­voll­stre­ckung des von Nietz­sche pro­gnos­ti­zier­ten und selbst ins Werk gesetz­ten »Wil­lens zur Macht« zum »Wil­len zum Wil­len«, die er auch als »Machen­schaft«, als das »Rie­sen­haf­te«, dem kein Maß gesetzt ist, und vor allem als »Gestell« begriff.

Die Vor­le­sun­gen der Jah­re nach 1933 zei­gen, daß nicht nur die »Aus­ein­an­der­set­zung« mit Nietz­sche, für Heid­eg­ger der letz­te Den­ker der abend­län­di­schen Meta­phy­sik, von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist, son­dern auch die Zwie­spra­che mit Höl­der­lins Dich­tung, die aus Exil und Fremd­heit zur Heim­kunft ins »Eige­ne« ruft und die in den Strom­hym­nen (vor allem »Der Rhein«) den Geist und Rich­tungs­sinn der Erde evoziert.

Heid­eg­ger fragt dabei nach dem »Wesen der Tech­nik«, kei­nes­wegs übt er eine – bil­li­ge – Tech­nik­kri­tik. Die ent­fes­sel­te Tech­nik macht die Ber­gung des Logos in der Wahr­heit, das Gegrün­det­sein im Sein zunich­te. Doch sie ist selbst ein Seins­ge­schick, in dem die Erde zum »Irr­stern« wird. Pla­ne­ta­ri­sche Tech­nik ist kei­nes­wegs als Mit­tel für ander­wei­ti­ge Zwe­cke ein­zu­set­zen. In ihr wird Natur in den Bestand gebracht, »ge-stellt« und ihres Selbst­seins entzogen.

Sie kennt, wie Heid­eg­ger im Blick auf die Kyber­ne­tik in den fünf­zi­ger Jah­ren scharf for­mu­liert, nur die Koor­di­na­ten von 0 und 1. Damit aber redu­ziert sie Welt und Erde auf einen »Bestand« für die pla­ne­ta­risch unge­deck­ten Wech­sel des Waren‑, Tech­no­lo­gie- und Geld­ver­kehrs. Die­se gro­ßen The­ma­ta sind grund­ge­legt in Heid­eg­gers nach­ge­las­se­nen Auf­zeich­nun­gen aus den drei­ßi­ger Jah­ren, vor allem dem Cor­pus der Bei­trä­ge zur Phi­lo­so­phie (GA 65, Frank­furt a. M. 1989), das den Arkan­ti­tel »Vom Ereig­nis« erhält.

In den fünf­zi­ger Jah­ren hat Heid­eg­ger die Tech­nik­phi­lo­so­phie in einem klei­nen und noblen Kreis in Bre­men erst­mals öffent­lich gemacht. Drei­er­lei ist dabei wesentlich:

  1. Tech­nik ist nach Heid­eg­ger das letz­te Ergeb­nis des Endes der abend­län­di­schen Meta­phy­sik: radi­ka­le Seins­ver­ges­sen­heit. Mit­hin ist auch die Seins­fra­ge der »Keh­re« die unab­ding­ba­re Vor­aus­set­zung dafür, das Wesen der Tech­nik in sei­ner Klar­heit zu erfassen.
  2. Men­schen im frü­hen 21. Jahr­hun­dert wer­den die Evi­denz von Heid­eg­gers »Gestell«-Bild unmit­tel­ba­rer ver­ste­hen als sei­ne Zeit­ge­nos­sen vor über sech­zig Jah­ren: Daß sich ein pla­ne­ta­ri­sches Netz um uns legt und die Welt­zu­gän­ge bestimmt, die­ses Bild von visio­nä­rer Wucht, ist in der Epo­che des welt­wei­ten Net­zes von bestri­cken­der Trivialität.
  3. Von höchs­ter Spreng­kraft bleibt aber in der Bestim­mung des »Gestells«, daß es Heid­eg­ger als gro­ßes »Nihi­le­ment« ver­stan­den hat und als eine Gefahr, die jene der bei­den Tota­li­ta­ris­men des 20. Jahr­hun­derts noch weit über­trifft. Sie sind ledig­lich Sym­pto­me. Daß Heid­eg­ger in ein­zel­nen Sät­zen Geno­zid und die Beto­nie­rung der Erde durch den Kunst­dün­ger in einem Atem­zug nennt, hat immer wie­der Unver­ständ­nis und Empö­rung pro­vo­ziert. Wie aber, wenn die Destruk­ti­on des Nahen und Nächs­ten, mit­hin der Treue zur Erde, tat­säch­lich mit­ur­säch­lich für die ideo­lo­gi­sche Ver­nich­tung des Men­schen wäre? Zugleich macht Heid­eg­ger deut­lich, daß das moder­ne Säku­lum der Seins­ver­las­sen­heit eine Welt »voll­stän­di­ger Ver­zau­be­rung« ist, der »Ver­he­xung« durch die Tech­nik, und daß wesent­li­che Ingre­di­en­zi­en der Moder­ne: »Wachs­tum«, das Pochen auf »Erleb­nis« und die Domi­nanz der Vita Acti­va in der Machen­schaft, aber auch die tech­no­kra­ti­sche Frag­lo­sig­keit (»Not der Not­lo­sig­keit«) und szi­en­tis­ti­sche Welt­re­duk­ti­on, einen tota­li­tä­ren Zustand kenn­zeich­nen, der erst in der One World zur vol­len Rea­li­sie­rung kommt.

Man soll­te nicht über­se­hen, mit wel­cher Prä­gnanz Heid­eg­ger die­sen tota­len Cha­rak­ter des tech­ni­schen Gestells bestimmt hat, in einer Sinn­tie­fe, die durch sozio­lo­gi­sche Empi­rie in kei­ner Wei­se erreicht wer­den kann. Heid­eg­ger lie­fert damit nicht weni­ger als einen Begriff der Hyper­mo­der­ne. Und er zeigt, in wel­cher Radi­ka­li­tät sie zur Besin­nung zwingt.

Inso­fern ist Heid­eg­gers Ein­sicht in das Wesen der Tech­nik mit Carl Schmitts Rede vom Feind als der »eige­nen Fra­ge als Gestalt« tref­fend wie­der­zu­ge­ben. Das Den­ken, das Heid­eg­ger dem­ge­gen­über in Stel­lung bringt, ist durch einen »Sprung« von der alten Meta­phy­sik getrennt.

Heid­eg­ger hat dies auch dadurch sicht­bar gemacht, daß er die »Sache des Den­kens« von der Phi­lo­so­phie unter­schie­den hat. Sie sieht er unwi­der­ruf­lich an das Ende ihrer Mög­lich­kei­ten gelangt. Er soll­te die­sem Den­ken in den Nach­kriegs­jah­ren den Cha­rak­ter der Gelas­sen­heit und des Sein-las­sens geben – Grund­wor­te, die aus der Mys­tik Meis­ter Eck­arts ver­traut sind. Im Auf­riß der Heid­eg­ger­schen Spät­phi­lo­so­phie spe­zi­fi­zie­ren sie sich einer­seits auf die Fra­ge nach dem »letz­ten«, kom­men­den Gott, der – nach der bekann­ten Aus­sa­ge im Spie­gel-Gespräch mit Rudolf Aug­stein – allein die Mensch­heit des pla­ne­ta­ri­schen Gestells ret­ten könne.

Dabei ist das Sein-Las­sen ein radi­ka­ler Ges­tus: Er erfor­dert die »Zu-künf­ti­gen«, die »Lan­than­on­ten«: eine Gemein­schaft der Leben­den und Toten, die die künf­ti­ge Auf­merk­sam­keit für das Sein vor­be­rei­ten. Heid­eg­ger ver­steht die lan­than­on­ti­sche Denk­art, die auch Züge des Wald­gan­ges hat und den Null­me­ri­di­an des euro­päi­schen Nihi­lis­mus über­schrei­ten muß, im Blick auf das »vor­aus­wei­sen­de Geleit« des Ereig­nis­ses. Dies ist ein sanf­tes Gesetz, das sich der Gleich­för­mig­keit der Tech­nik und »der Sinn­lo­sig­keit des abso­lut gesetz­ten mensch­li­chen Han­delns« entzieht.

Von beson­de­rem Gewicht ist dabei auch die Spra­che. Heid­eg­ger hat sie im Schwei­gen, einer »Sige­tik«, grund­ge­legt gese­hen: Im Erschwei­gen wer­de deut­lich, daß die Spra­che spre­che, daß Men­schen, in ihrer jewei­li­gen geschicht­li­chen Her­kunft, ihr zuge­hör­ten, und sie kei­nes­wegs ein blo­ßes Kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­stru­ment sei. So hat Heid­eg­ger die Spra­che auch als »Haus des Seyns« verstanden.

Heid­eg­gers Spät­phi­lo­so­phie ist ein »An-den­ken«, das frei­lich nicht nur in das Gewe­se­ne führt, son­dern auch die Zukunft vor­be­rei­tet: Den­ken habe bis­her, hat Heid­eg­ger bemerkt, pri­mär den Cha­rak­ter des »Vor­stel­lens« gehabt. Inso­fern es sich auf Sei­en­des und – mit der Car­te­sisch-neu­zeit­li­chen Wen­dung – auf Sub­jekt und Gegen­stand bezog, hat es sich als »Vor­stel­len« von Anwe­sen­dem gezeigt.

Damit sei aber noch nicht eigent­lich gedacht: Heid­eg­ger inten­diert dem­ge­gen­über ein An-den­ken, das im Geheim­nis der Ver­bor­gen­heit die höchs­te Fül­le und Prä­senz des Sei­en­den sucht.

Heid­eg­gers Spät­phi­lo­so­phie der »Gelas­sen­heit« hat zwei­fel­los öko­lo­gi­sche Anmu­tun­gen. Welt und Erde erwei­sen sich dabei als der dop­pel­te »Oikos«, das Haus der Wahr­heit des Seins, in dem zu woh­nen Inbe­griff des ber­gen­den Habi­tus der Gelas­sen­heit ist.

Die Rede von den Men­schen als den »Hir­ten des Seins« ist daher auch kei­nes­wegs vor­der­grün­dig idyl­lisch zu lesen. Woh­nen sie doch »unsicht­bar und außer­halb des Ödlan­des der ver­wüs­te­ten Erde, die nur durch die Siche­rung der Herr­schaft des Men­schen nüt­zen soll« (VuA, S. 94).

Der Ges­tus der Gelas­sen­heit soll­te also nicht als Rück­zug ent­schärft wer­den. In ihm liegt viel­mehr das äußers­te Gegen­bild zur machen­schaft­li­chen pla­ne­ta­ri­schen Welt. Wer ihr absagt, steht im Sturm; er ist einer­seits den Par­ti­sa­nen ver­wandt, er weiß aber auch, daß, so Heid­eg­ger, »kei­ne blo­ße Akti­on« geeig­net ist, den Welt­zu­stand zu ändern.

Daher bedeu­tet die Gelas­sen­heit auch, den Schmerz ange­sichts der zer­stör­ten Erde wie­der zu ertra­gen – in dem Wis­sen, daß er sich nicht durch Refor­men irgend abwen­den läßt. Zugleich mani­fes­tiert sich jene Gelas­sen­heit in der Acht­sam­keit für die Welt der Din­ge: Den alten Krug etwa, an dem, wie Heid­eg­ger sagt, das Geviert zwi­schen Him­mel und Erde, Göt­tern und Sterb­li­chen auf­geht. Der Krug ist kein Kunst­werk. Doch so wie er könn­te ein emi­nen­tes Kunst­werk beschaf­fen sein.

Die­se Acht­sam­keit gilt auch dem Bau­en, das für Heid­eg­ger ursprüng­lich ein »Woh­nen­las­sen« ist, »Errich­ten von Orten durch das Fügen ihrer Räu­me«. Und im Ges­tus der Gelas­sen­heit bemerkt er: »Nur wenn wir das Woh­nen ver­mö­gen, kön­nen wir bau­en«. Auch die alte Neckar­brü­cke, die er in sei­nen Tech­nik-Abhand­lun­gen evo­ziert, ist in der­art emi­nen­tem Sin­ne ein »Ding«. Sie sam­melt über­haupt erst die Land­schaft zur Land­schaft und bewahrt sie in einem Umgang.

Dies wäre der Grund­sinn des­sen, was Hei­mat als In- der-Welt-sein und Auf­ent­halt beim Sein von Heid­eg­ger her bedeu­tet. Jener Zeit-Raum ist frei­lich bei Heid­eg­ger nie­mals vom kon­kre­ten Chro­no­to­pos erfah­re­ner Lebens­zeit zu tren­nen. Und dies unter­schei­det sei­nen Hei­mat­be­griff, wie der mar­xis­ti­sche Ger­ma­nist Hans May­er einst treff­si­cher erkann­te, von dem Ernst Blochs: Hei­mat ist nicht ein Uto­pos, Nicht-Ort, an dem noch nie­mand war, son­dern das stets neu anzu­eig­nen­de Eigens­te und Eigene.

Für Heid­eg­ger bleibt dies eng mit der Zeit­er­fah­rung ver­bun­den: Die befris­te­te Zeit mag dem »Mes­mer­bu­ben«, der die Glo­cken in Meß­kirch geläu­tet hat, zuerst sinn­fäl­lig gewor­den sein. Im Klos­ter Beu­ron geht dem bedeu­ten­den Phi­lo­so­phen Ende der zwan­zi­ger Jah­re der Rhyth­mus des Über­gangs vom Tag zur Nacht am Stun­den­ge­bet auf.

Hei­mat als Zeit-Raum ist indes Grund und Abgrund zugleich. Im »Rein­ent­sprun­ge­nen« (so ein berühm­tes Höl­der­lin­wort aus der »Rhein­hym­ne«) zu leben, ist am schwers­ten. Denn kei­ne Ideo­lo­gie reicht dorthin.

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