Zwei Jahre nach Wiederherstellung der deutschen Einheit zog der niederländische Historiker Jan Herman Brinks folgendes Fazit über die Geschichtsschreibung in der DDR: Sie sei eine »Fortsetzung der Politik mit historischen Mitteln. Sie hatte eine legitimierende und gesellschaftlich integrierende Funktion, vergleichbar mit der Rolle der Theologie in einer Theokratie«.
Ein Blick auf den Umgang mit dem preußischen Erbe bestätigt: Die Geschichtsschreibung der DDR (hier stets im Sinne von Geschichtswissenschaft und ‑publizistik zu verstehen) war nichts weiter als der Knecht des Marxismus-Leninismus. Diese einen Anspruch auf Allgültigkeit erhebende Weltanschauung, die sich als ernstzunehmende Wissenschaft tarnte, gab auch der Geschichtsschreibung ihre Maximen absolut vor.
In aller Schärfe wird das etwa durch ein Standardwerk deutlich, die Einführung in das Studium der Geschichte. Dieses Werk, das bis 1986 in mehreren Auflagen erschien, trichterte schon den Studenten ein: »Der Marxismus-Leninismus ist die weltanschauliche, erkenntnistheoretische und methodologische Grundlage der Geschichtswissenschaft.« Karl Marx und Friedrich Engels, so die Autoren, hätten eine geistige Revolution vollzogen, »die die Geschichte überhaupt erst in den Rang einer Wissenschaft erhob«. Wladimir Lenins Werk wiederum verkörpere »eine neue Etappe in der Geschichte der marxistischen Geschichtswissenschaft und des Geschichtsdenkens überhaupt«.
Somit galten die Dogmen des »historischen Materialismus« für jedermann. Sei es die Historie als eine Aneinanderreihung von Klassenkämpfen oder die gesetzmäßig verlaufende Entwicklung der Gesellschaft zum Kommunismus oder die Volksmassen als entscheidende Triebkraft der Geschichte – von diesen Prämissen abzuweichen war fast unmöglich. Die These, wonach (auch) große Persönlichkeiten den Verlauf der Vergangenheit nachdrücklich beeinflußten, galt als reaktionär. Obwohl das in augenfälligem Gegensatz zur nachgerade peinlichen Vergötzung lebender und toter Kommunistenführer stand – es wurde allen Historikern schwergemacht, die sich einen nichtsozialistischen Herrscher, Denker oder Kriegsmann zum biographischen Subjekt erwählen wollten. Der Philosoph Guntolf Herzberg von der Berliner Humboldt-Universität kam zu dem Schluß, 40 Jahre SED-Herrschaft »haben fast alle Wissenschaften in der DDR gegängelt, gebremst, deformiert. Es hat sich in der Historikerschaft eine bis auf wenige Ausnahmen parteiergebene ›Elite‹, ein Establishment herausgebildet, das die Forschung kanalisierte und monopolisierte, das von der westlichen Historikerzunft in der Regel ignoriert, doch in einigen Fällen auch honoriert wurde.«
Die DDR stand seit dem Beginn ihrer staatlichen Existenz vor dem Dilemma (zumindest im Verständnis orthodoxer SED-Funktionäre), daß ihr Territorium die letzten Reste der brandenburg-preußischen Keimzelle repräsentierte – samt solcher symbolträchtiger Orte wie Potsdam, Berlin, Brandenburg/Havel, Rheinsberg oder Magdeburg. Im Umgang mit diesem Erbe kann man zwei recht klar voneinander abzugrenzende Perioden erkennen.
Bis zum Ende der 60er Jahre (der sogenannten Ulbricht-Ära) herrschte ein Klima der Negation und des Bildersturmes. Deutschlands Geschichte sei der Irrweg einer Nation, so der Titel einer progammatischen Kampfschrift des SED-Kulturfunktionärs Alexander Abusch. Und Schuld an diesem Irrweg trage vor allem Preußen, der »Hort des Militarismus und der Reaktion«. Diesem Ungeiste folgend wurden Schlösser vernichtet, Herrenhäuser gesprengt, Denkmäler abgerissen, Straßen und Städte umbenannt, Bücher auf den Index gesetzt. Es war wohl die betrüblichste Zeit für den deutschen Historiker: gnadenlos unfruchtbar und gähnend langweilig. Jan Peters, verdienstvoller Nordeuropaexperte aus Greifswald, stellte denn auch vier Verhaltenstypen bei den Historikern der DDR fest, die er als bedingungslose Apologeten, unbekümmerte Anpaßlinge, Eigensinnige und Subversive bezeichnet. Daß die letzen beiden Typen zur absoluten Rarität zählten und selbstverständlich keine Bücher veröffentlichen durften, sollte unbedingt erwähnt werden.
Das änderte sich partiell Anfang der 70er Jahre mit Erich Honeckers Machtantritt. Während die Politik der SED sich zuvor noch explizit auf eine deutsche Einheit, natürlich unter sozialistischen Vorzeichen, kapriziert hatte, fand nun allmählich eine Abgrenzung statt, die schließlich in der Theorie von einer »eigenständigen sozialistischen Nation DDR« gipfelte, welche sich im Gegensatz zur »imperialistischen Nation« der Bundesrepublik entwickele.
Wenn man diese gewagte Konstruktion einigermaßen plausibel ins kollektive Bewußtsein impfen wollte, dann bedurfte die DDR-Nation unbedingt einer historischen Legitimierung. Und dies betraf vorrangig das Verhältnis zu Preußen. Hier setzte 1979 gleich einem Paukenschlag die Biographie Friedrichs des Großen der Ostberliner Historikerin Ingrid Mittenzwei Maßstäbe. Sie kulminierte in der Forderung, man dürfe in Preußens Vergangenheit »nicht die positiv-progressiven Momente mißachten oder negieren«. Da in der DDR nichts zufällig geschah, mußte man Mittenzweis Vorstoß als Kopfgeburt der Parteiführung und somit als von der Obrigkeit abgesegnet interpretieren. Ein bemerkenswerter Fortschritt, hatten doch neun Jahre zuvor die zwei DDR-Historiker Günter Vogler und Klaus Vetter eine Geschichte Preußens verfaßt, in der häufig vom dort waltenden »Militärdespotismus« die Rede war.
1980 wurde das Reiterdenkmal Friedrichs des Großen (bis dato schamhaft in einer Ecke des Potsdamer Sanssouci-Parks verborgen) wieder am traditionellen Ort Unter den Linden aufgestellt. Es war der Ritterschlag für einen Fürsten, der 25 Jahre lang geradezu als Oberteufel eines bedrohlich kriegslüsternen Preußen galt. Offiziell hieß der König zwar weiterhin nur Friedrich II.; »der Große« durfte man ihn erst nennen, nachdem Erich Honecker 1986 ihn im Interview mit einer schwedischen Tageszeitung wohl eher versehentlich so titulierte.
Als dann 1985 auch noch die zweibändige Bismarckbiographie aus der Feder des renommierten Ernst Engelberg erschien, ging das manch altgedientem SED-Funktionär zu weit. Bismarck, bisher nur als Todfeind der Arbeiterklasse, Kriegshetzer und reaktionärer Junker apostrophiert, war nun ein Mann der »einfallsreichen und klug abwägenden, ebenso phantasievollen wie raffinierten Politik«, eine Gestalt, welche »ein historisch fortschrittliches Werk vollbracht« hatte. Jetzt drohte auch noch Otto von Bismarck vom Erbe zur Tradition aufzusteigen. Diese Diskussion um »Erbe und Tradition« beherrschte sämtliche Aspekte der erstaunlich deutschlandzentrierten DDR-Geschichtsschreibung während der letzten 15 Jahre ihrer Existenz. Aus dem mehr oder weniger ungeliebten Erbe (»Last der Vergangenheit, der wir uns als Ganzes zu stellen haben«) mutierten nun immer mehr Orte und Persönlichkeiten zum traditionswürdigen Gut. Nachdem der preußische General Gerhard von Scharnhorst bereits 1966 dem höchsten Militärorden der Nationalen Volksarmee seinen Namen lieh, avancierten auch Generale wie Blücher und Gneisenau zu »den Unseren«. Ihre Denkmale kehrten in den (Ost-)Berliner Stadtkern zurück.
1983 entriß die erklärtermaßen atheistische SED sogar der evangelischen Kirche ihren Gründer Martin Luther – ehedem als Bauernfeind und Fürstenknecht verdammt – und zelebrierte dessen 500. Geburtstag mit staatlich dirigiertem Pomp. Zum Schwanengesang der offiziellen Feierorgien geriet schließlich 1987 das 750-Jahr-Jubiläum der Stadt Berlin. Jetzt mußte alles, was Berlin, und damit untrennbar verbunden auch Preußen, einst repräsentierte, in rosigem Lichte betrachtet werden. Der für gelegentlich unkonventionelle Sprüche bekannte Berlinforscher Laurenz Demps bezeichnete in diesem Zusammenhang sogar die letzte deutsche Kaiserin Auguste Viktoria in seinem Vortrag als »eine sehr gütige und fromme Dame«.
In nachgerade verzweifelten Rückzugsgefechten versuchte die etablierte Historikerzunft noch etwas klassenkämpferisches Terrain vor der pragmatischen Politik zu retten. Königin Luise von Preußen etwa bezeichnete Anfang 1988 ein führender Mann, Mitglied des Präsidiums der Historikergesellschaft der DDR, als »marginal, reaktionär, nicht traditionswürdig«. Wenn der Autor dieser Zeilen dennoch zwölf Monate später, kurz vor dem Mauerfall, eine Luisebiographie veröffentlichen durfte, zeigt das evident, wie weit die Preußenrenaissance zum Ende der DDR gediehen war.