Der 200. Jahrestag eines Ereignisses von der Tragweite des Wiener Kongresses darf nicht im Schatten eines anderen Jubiläums verschwinden. In Wien wurde 1814/15 die Revolution überwunden, Europa in vielerlei Hinsicht neu geordnet und eine Friedensordnung begründet, die in potentiell sehr unruhigen Zeiten den Ausbruch eines großen europäischen Krieges für 100 Jahre verhindern konnte.
In Buchhandlungen und Bahnhofskiosken wird derzeit vor allem ein kleiner Band von Heinz Duchhardt (Der Wiener Kongreß. Die Neugestaltung Europas 1814/15, C.H. Beck 2013. 128 S., 8.95 €) präsentiert. Der Verfasser ist zweifelsfrei ein ausgezeichneter Kenner seines Fachs, chronologisch ausgreifend zieht er Parallelen, erklärt und stellt Zusammenhänge her. Allzusehr im Heute verwurzelter Werturteile oder gar Schuldzuweisungen enthält er sich, ohne andererseits Abläufe oder Personen zu heroisieren, sodaß ein ausgewogenes Gesamtbild entsteht. Seine oft gestelzte Sprache belastet aber die Qualität des Werks. Ohne Unterlaß aneinandergereihte, komplexe Bandwurmsätze, die in Einzelfällen über eine Drittelseite gehen können, gehen zulasten der Eingängigkeit und der Verständlichkeit. Zudem ist einiges Vorwissen erforderlich. Wer mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts nur auf Abiturientenniveau vertraut ist, wird nicht leicht folgen können. Dies läßt daran zweifeln, ob der Band in diesem Format und in der Beck’schen Reihe, die doch schnelle Zugriffe für wenig Geld ermöglichen soll, wirklich gut aufgehoben ist.
Einem ähnlichen Ansatz, viel Information für wenig Geld auf engem Raum zu bieten, folgt Wolf Gruner (Der Wiener Kongreß 1814/15, Reclam 2014. 261 S., 8 €). Angesichts des Preises sicherlich die erste Wahl für den vage Interessierten, muß es trotz sorgfältiger Bearbeitung enttäuschen. Es mag beachtlich sein, wie viel Information in einen winzigen Band gepreßt werden kann – Verständlichkeit und Zugänglichkeit leiden darunter. 250 Seiten Fließtext mit wenigen Absätzen, einer kaum in die Tiefe gehenden Gliederung und winziger Schrift sind Mängel, die auch ein guter Stil nicht wettmachen kann. Hinzu kommen thematische Sprünge.
Da, wie sich hier wiederum zeigt, deutsche Historiker ihr Fachwissen nicht oft mit Schreibfertigkeit verbinden, setzen die großen Verlage zur Begehung des Jubiläums auf ausländische Autoren. Ein Buch des Amerikaners David King von 2008 ist nun auf Deutsch erschienen (Wien 1814. Von Kaisern, Königen und dem Kongreß, der Europa neu erfand, Piper 2014. 512 S., 29.99 €). Die englischsprachige Welt bringt immer wieder Sachbuchautoren hervor, die es verstehen, inhaltlich auf hohem Niveau in einer Weise zu schreiben, der Laien folgen können. Diese Kunst des leichten, eher essayistischen Stils wird bei King zur Vorliebe für flapsige Formulierungen. Der Band erinnert streckenweise an einen Roman, direkte Rede wird eingesetzt und erreicht doch nicht die erwünschte Lebendigkeit. King legt mehr Augenmerk auf Skandale und Schlüpfrigkeiten als auf Politik und historisches Zeitgeschehen. Er läßt keine Gelegenheit aus, den Vorhang zu lüften, umgeht aber manche staatstheoretisch oder machtpolitisch bedeutsame Auseinandersetzung. Frauen werden unangemessen hervorgehoben. Nachdem Metternichs Liebeskummer den Autor entschieden mehr interessierte als dessen ordnungspolitische Vorstellungen, überrascht ein Anhang von über hundert kleingedruckten Seiten voller Literaturhinweise und Anmerkungen, der King zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht etwas rehabilitiert.
Weniger sensationistisch liest sich das konkurrierende Werk von Thierry Lentz (1815. Der Wiener Kongreß und die Neugründung Europas, Siedler 2014. 432 S., 24.99 €). Er läßt den politischen Ereignissen und der Diplomatie erheblich mehr Raum, ohne die feierlichen Rahmenbedingungen aus den Augen zu verlieren. Grammatische Holprigkeiten und eigenwillige Formulierungen gehen aufs Konto der Übersetzung, aber Lentz zeigt insgesamt eine Neigung zu »lässigen« Formulierungen und sucht geradezu die Gelegenheiten, respektlos über die Kongreßteilnehmer zu sprechen. Metternich ist »der hinkende Fürst«, die Monarchen der Vier Mächte »spielen sich auf«. Gliederung und Gedankenführung sind unkonzentriert und wenig einleuchtend. Dennoch: passabel.
Ein im Vergleich zu diesen Versuchen exzellentes Buch haben Christa Bauer und Anna Ehrlich verfaßt (Der Wiener Kongreß. Diplomaten, Intrigen und Skandale, Amalthea 2014. 304 S., 24.95 €). In größerem Format und mit einer Fülle sorgfältig ausgewählter Abbildungen setzt es sich schon äußerlich von anderen Büchern ab. Dazu ist es von einer beeindruckend leichthändigen Vollständigkeit. Während manche eher zweitrangige Themen in keiner Darstellung fehlen, gibt es etliche Ereignisse, die einzig bei Ehrlich und Bauer angesprochen werden. Die bedeutungsvolle religiöse Feier der Monarchen Preußens, Österreich-Ungarns und Rußlands am 18. Oktober (immerhin einer der historisch ersten ökumenischen Gottesdienste aller drei christlichen Großkonfessionen und sicherlich der am prominentesten besuchte) wird beispielsweise nur in diesem Buch gewürdigt. Unverzichtbar ist der Hinweis, das Vorurteil vom nur tanzenden, aber nicht arbeitenden Kongreß entstamme dem Willen der Teilnehmer, die Kongreßarbeit nicht nach außen dringen zu lassen, weshalb etwa ein gewichtiger Teil der Botengänge durch Tunnel zwischen Hofburg und Ballhausplatz geschehen sei. Tatsächlich sei in den Ausschüssen, bei Gesandtentreffen und bei der omnipräsenten Geheimpolizei sehr viel gearbeitet worden. Auch für Laien verständlich und ohne Vorwissen genießbar führen die Autorinnen durch den historisch-politischen Bereich ebenso wie durch das Gewirr von Festivitäten und Intrigen. So entsteht ein außerordentlich vielseitiges Werk, das getragen von einer intuitiv verständlichen Gliederung den fast neunmonatigen Kongreß in seinen Facetten »erlesbar« macht.
Übertroffen wird diese Arbeit noch von Eberhard Straubs Beitrag (Der Wiener Kongreß. Das große Fest und die Neuordnung Europas, Klett-Cotta 2014. 255 S., 21.95 €). Der Meister der historischen Essayistik legt den Fokus in seinem konzentriert, bündig und dennoch detailliert geschriebenen Buch auf die Politik. Festlichkeiten, Skandale und »Galanterie« blendet er aus. Nur ein Fünftel des Bandes behandelt den eigentlichen Kongreß, viel wichtiger sind Straub die politischen Systeme in Europa davor und danach. Gerade diese Ausführungen liest man mit großem Gewinn.
Sein oft ironischer, aber dennoch sachlicher Stil ist eine einzige Freude. Besonderen Spott hält er für die Engländer bereit, deren schlecht informierte, ungebildete und teils lächerlich auftretende Gesandte dennoch mit weit mehr Glück und starrsinnigem Egoismus als Verstand und Gemeinsinn letztlich die größten Gewinner des Kongresses waren. Unter Durchsetzung fast sämtlicher Wünsche gingen sie, die gegen Napoleon die geringsten Opfer gebracht hatten, aus den Verhandlungen und sicherten dem Britischen Imperium die Vormachtstellung in Europa. Auch andere entscheidende Weichenstellungen für das folgende Jahrhundert weiß Straub knapp, aber höchst informativ aufzugreifen und zu erläutern: Die Konstituierung des Deutschen Bundes zur Verhinderung eines deutschen Nationalstaates, die Schaffung eines »Systems kollektiver Sicherheit«, schließlich die Umwandlung der Monarchien in Systeme öffentlicher Ästhetisierung der Herrschaftsgewalt, in denen man ansonsten bürgerlich auftrat.
Straubs Buch ist in Maßen konservativ und im Tonfall deutlich, die man einem bundesdeutschen Publikumsverlag kaum mehr zugetraut hätte. Sein Alter, seine Erfahrung und die essayistische Form erlauben ihm drastische Werturteile. An einigen Stellen kommt Straub zu klarsichtigen Aussagen mit Bezug auf unsere Gegenwart, die auch den abgebrühten Sezession-Leser überraschen sollten. In der jakobinischen und napoleonischen Verfolgung von Andersdenkenden und in deren Expansionsdrang sieht er den gleichen Tugenddruck walten wie in heutigen Bürgerüberwachungsprogrammen und im Menschheitsimperialismus der »Terrorbekämpfung«.
Das Buch endet mit einer ausführlichen Vorausschau in das Jahrhundert der öffentlichen Meinung, der säkularuniversalistischen Borniertheit und der Ächtung kriegerischer Gegnerschaft zugunsten ungezügelter Mordlust gegen »Feinde der Menschheit«. Solche Ligaturen machen aus einem sehr guten ein hervorragendes Werk.
Allen Autoren ist gemein, daß sie die Gemeinplätze vergangener Jahrzehnte kaum mehr einer Erwähnung für wert halten. Metternich wird entweder als sympathisch-respekteinflößend oder wenigstens als ambivalentes Schlitzohr, nie aber als finsterer Unterdrücker beschrieben. Die einhellige Meinung der Autoren, deren Werke für die nächsten Jahrzehnte die Debatten über den Wiener Kongreß beeinflussen werden, geht in eine günstige Richtung: Das Ordnungssystem der Zeit nach 1815 war eine auf vernünftige Einsicht und Friedenswillen gegründete europäische Errungenschaft, ins Werk gesetzt von verantwortlichen, traditionsverbundenen und weder liberal noch revolutionär denkenden Eliten.