Katechonten vor Neunzehnvierzehn

Joseph Roths Roman Radetzkymarsch las ich zum ersten Mal im Sommer 2011 und verfiel rasch seiner vielgerühmten erzählerischen Meisterschaft.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Ich war etwa im letz­ten Drit­tel des Buches ange­langt, als am 4. Juli Otto von Habs­burg, der letz­te Thron­fol­ger der Donau­mon­ar­chie, in sei­nem 99. Lebens­jahr ver­starb. Da der Tod des grei­sen Kai­sers Franz Joseph eine zen­tra­le Rol­le in Roths Roman spielt, erschien mir das als ein gera­de­zu sub­li­mer Zufall. Mir war das Buch offen­bar zum rich­ti­gen Zeit­punkt in die Hän­de gefal­len, nach­dem ich die Lek­tü­re auf­grund all­zu emsi­ger Emp­feh­lun­gen jah­re­lang hin­aus­ge­scho­ben hat­te. Ver­stärkt wur­de der Ein­druck noch durch mei­ne Fas­zi­na­ti­on für Men­schen, die ein hohes Alter errei­chen und somit leben­di­ge Brü­cken in die Ver­gan­gen­heit bilden.

Nach­rich­ten über das Able­ben der letz­ten und aller­letz­ten Vete­ra­nen des Ers­ten Welt­kriegs habe ich stets ver­folgt. 2008 star­ben der letz­te Deut­sche, Erich Käst­ner, und der letz­te Öster­rei­cher, Franz Künst­ler, bei­de gebo­ren 1900, sowie der letz­te Fran­zo­se, Laza­re Pon­ti­cel­li (geb. 1897); 2009 der letz­te Bri­te, Har­ry Patch (geb. 1898). Eine Pho­to­gra­phie aus dem Jah­re 1914 zeigt den zwei­jäh­ri­gen Otto auf dem Schoß sei­nes Urgroß­on­kels Franz Joseph I., der im Jah­re 1830 gebo­ren wur­de. Ein ande­res zeigt den Vier­jäh­ri­gen im Jah­re 1916 im Trau­er­zug zu Ehren des ver­stor­be­nen Mon­ar­chen neben sei­nen Eltern Kai­ser Karl I. und Zita von Bour­bon-Par­ma. Womög­lich war Otto zum Zeit­punkt sei­nes Todes der letz­te leben­de Zeu­ge der Beer­di­gungs­ze­re­mo­nie, an der auch der jun­ge Sol­dat Joseph Roth teil­ge­nom­men hatte.

Roth, gebo­ren 1894 in Ost­ga­li­zi­en, hat­te sich im Lau­fe sei­nes ruheund hei­mat­lo­sen Lebens vom mode­ra­ten jüdi­schen Sozia­lis­ten zum katho­li­schen Legi­ti­mis­ten gewan­delt und sich im Pari­ser Exil zu Tode gesof­fen – ver­trie­ben und geäch­tet von den nun auch in Rest-Öster­reich herr­schen­den Natio­nal­so­zia­lis­ten, nur weni­ge Mona­te vor Aus­bruch des Zwei­ten Welt­kriegs. Einer bekann­ten Anek­do­te zufol­ge hat­te Otto von Habs­burg kurz zuvor noch ver­geb­lich ver­sucht, Roth per kai­ser­li­chem Befehl von sei­ner fata­len Trunk­sucht abzu­brin­gen. Daß Otto ein der­art hohes Alter erreicht hat, ist eine Poin­te des Schick­sals, die gut zum Geist des 1932 erschie­ne­nen Romans paßt. Über wei­te Stre­cken kann man Radetz­ky­marsch als Medi­ta­ti­on dar­über lesen, wie der Kon­takt zur Geschich­te und ihr Fort­le­ben vom Dasein und der Anwe­sen­heit kon­kre­ter Men­schen abhängt, wie der Strom der his­to­ri­schen Exis­tenz nur dann kon­ti­nu­ier­lich wei­terflie­ßen kann, wenn er die Form eines Gesichts, einer Gestalt, einer mensch­li­chen Inkar­na­ti­on und Bin­dung annimmt. Der Gedan­ke, daß im Jah­re 2011 ein Mann stirbt, der phy­si­schen Kon­takt zu einem Mann hat­te, der im Jah­re 1830 gebo­ren ist, sprengt bei­na­he mein Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, umso mehr, als es sich hier um Per­so­nen han­delt, die einer Linie ent­stam­men, die die euro­päi­sche Geschich­te maß­geb­lich geprägt hat.

In die­sem Som­mer hat­te ich einen Traum, der mir bis heu­te im Gedächt­nis geblie­ben ist. Ich sah mei­nen Groß­va­ter väter­li­cher­seits (gebo­ren 1916), der vor über einem Jahr­zehnt gestor­ben ist, leben­dig und mit jugend­li­cher Fri­sche in einem Schup­pen sei­nes Hau­ses arbei­ten, das über 250 Jah­re alt ist und heu­te noch steht. Mei­ne Groß­el­tern haben dar­in seit den drei­ßi­ger Jah­ren gelebt. Das Nach­bar­grund­stück gehör­te einst einem legi­ti­mis­ti­schen Off­zier, der 1921 maß­geb­lich am glück­lo­sen Ver­such Kai­ser Karls betei­ligt war, die unga­ri­sche Mon­ar­chie zu restau­rie­ren. Wie üblich im Traum, wun­der­te ich mich nicht lan­ge über die Auf­er­ste­hung mei­nes Groß­va­ters. Er öff­ne­te eine Tür und führ­te mich in ein anhei­melnd-alt­mo­disch ein­ge­rich­te­tes Zim­mer, das ich noch nie in mei­nem Leben gese­hen hat­te. Und plötz­lich hat­te ich eine gera­de­zu mys­ti­sche Erkennt­nis: mein Groß­va­ter und mein Vater waren ein und die­sel­be Per­son, in unter­schied­li­cher Gestalt inkar­niert, und auch ich war mit ihnen iden­tisch. Sie bei­de und das Haus ver­ban­den und ver­bin­den mich selbst phy­sisch mit der Zeit, in der Roth sei­nen Roman ange­sie­delt hat.

Von drei­en mei­ner Urgroß­vä­ter besit­ze ich Pho­to­gra­phien aus den Jah­ren kurz vor dem Ers­ten Welt­krieg. Der Vater mei­ner Groß­mutter väter­li­cher­seits, 1878 gebo­ren in der unga­ri­schen Reichs­hälf­te, ist in einer Husa­ren­uni­form zu sehen; der eben­falls 1878 gebo­re­ne Vater mei­nes Groß­va­ters väter­li­cher­seits – also das nächs­te Glied der patri­ar­cha­len Rei­he, von der ich geträumt habe – ist als Artil­le­rist zu sehen; in den Jah­ren 1915–17 hat­te er an den Ison­zo-Schlach­ten teil­ge­nom­men, die auf öster­rei­chi­scher Sei­te zu den ver­lust­reichs­ten des Krie­ges über­haupt zähl­ten. Alle vier Urgroß­vä­ter haben den Krieg über­lebt; die bei­den genann­ten star­ben Ende 1945.

Ein wei­te­rer per­sön­li­cher Zufall: Roths fik­ti­ver Carl Joseph von Trot­ta, der in den ers­ten Mona­ten des Krie­ges von 1914 an der rus­si­schen Gren­ze fällt, trägt die Namen mei­ner Groß­vä­ter, die auch ich als zwei­te Vor­na­men geerbt habe. Mei­ne väter­li­che Linie stammt aus einem klei­nen slo­we­ni­schen, wenn auch weit­ge­hend »ger­ma­ni­sier­ten« Dorf, eben­so wie die Roth­schen Trot­tas, deren »Ahn­herr« Joseph den »lan­gen Zug sei­ner bäu­er­li­chen sla­wi­schen Vor­fah­ren«, per­so­nif­ziert in sei­nem nur schlecht deutsch spre­chen­den, kriegs­in­va­li­den Vater, hin­ter sich ließ und – nicht zuletzt durch end­gül­ti­ge Annah­me der Spra­che – zum reichs­treu­en Öster­rei­cher wur­de. Joseph Roth selbst ist vater­los auf­ge­wach­sen. Der chas­si­di­sche Getrei­de­händ­ler Nachum Roth war früh dem Wahn­sinn ver­fal­len und wur­de von der Fami­lie, die eine fluch­be­la­de­ne Schan­de wie die­se kaum ertra­gen konn­te, für tot erklärt. Sei­ten­ver­kehrt zu sei­nem eige­nen Leben ließ Roth sei­nen Alters­ge­nos­sen Carl Joseph mut­ter­los aufwachsen.

Wenn man so will, kann man den Radetz­ky­marsch als einen pro-patri­ar­cha­len Roman lesen. Zumin­dest zeich­net der Autor dar­in die patri­ar­cha­le Kon­ti­nui­tät und Prä­senz als eine wesent­li­che Stüt­ze der Gesell­schaft und der Kul­tur, in die­sem Fall eines gan­zen Rei­ches, das in dem Moment zusam­men­bricht, als die Väter zu alt und die Söh­ne nicht mehr imstan­de sind, ihre Fackel und ihre Last wei­ter­zu­tra­gen. Die Alters­schwä­che der Väter und die Deka­denz der Söh­ne stel­len sich bei Roth mit schick­sal­haf­ter Unaus­weich­lich­keit ein. Er sucht nicht nach Ursa­chen, die man hät­te ver­mei­den kön­nen, nach Wei­chen, die anders gestellt hät­ten wer­den müs­sen. Die Trot­tas tra­gen kei­ne Schuld an einer Ent­wick­lung, die ihr eige­nes Sein und Wol­len über­steigt und über­rollt. Der Unter­gang der k.u.k. Mon­ar­chie wie auch ihres »jun­gen Geschlechts« in einem alten Reich voll­zieht sich als Fatum einer abge­lau­fe­nen Zeit.

Zwei Krie­ge, die mit einer Nie­der­la­ge Öster­reichs ende­ten, bil­den die erzäh­le­ri­sche Klam­mer des Romans. Er beginnt im Jah­re 1859 mit der Schlacht von Sol­fe­ri­no, in der der jun­ge slo­we­ni­sche Infan­te­rist Joseph Trot­ta aus dem fkti­ven Sipol­je dem etwa gleich­alt­ri­gen Kai­ser das Leben ret­tet, indem er ihn geis­tes­ge­gen­wär­tig zu Boden reißt und dabei mit sei­nem eige­nen Leib eine Kugel auf­fängt. Zum Dank wird Trot­ta in den erb­li­chen Adels­stand erho­ben. Der Dienst am Kai­ser­reich wird fort­an zur rai­son d’être der Trot­tas, die­ser »Spar­ta­ner unter den Öster­rei­chern« (Roth), die ihr Leben der selbst­lo­sen Pflicht­er­fül­lung gegen­über dem kai­ser­li­chen Staat wid­men. Joseph von Trot­ta und Sipol­je zeich­net sich durch Beschei­den­heit und Fleiß aus; er will ein Die­ner, kein Held sein. Als er vie­le Jah­re spä­ter erfährt, daß die k.u.k. Schul­bü­cher die Epi­so­de von Sol­fe­ri­no hero­isch-patrio­tisch ver­kit­schen und auf­bau­schen, erbit­tet der über die »Lüge« auf­ge­brach­te Haupt­mann nach abge­wie­se­nen Beschwer­den bei den zustän­di­gen Minis­te­ri­en eine Audi­enz beim Kai­ser, auf daß die­ser per­sön­lich ver­an­las­se, die Unwahr­hei­ten zu ent­fer­nen. Die­ser gibt sich jovial und ver­steht die Empö­rung über so harm­lo­se »Geschich­ten« nicht so recht, erfüllt dem »Hel­den von Sol­fe­ri­no« aber sei­nen Wunsch.

Roth schil­dert den Kai­ser als lie­bens­wür­dig, aber kau­zig-ver­spon­nen. Die Gestalt Trot­tas ver­liert er zuneh­mend aus dem Gedächt­nis. Als sich der über 80jährige Regent und Trot­tas Sohn Franz (offen­sicht­lich nach dem Mon­ar­chen benannt), der eine Beam­ten­lauf­bahn ein­ge­schla­gen hat, Jahr­zehn­te spä­ter in einer wei­te­ren Audi­enz gegen­über­ste­hen, kann der senil gewor­de­ne Kai­ser den Vater und den Sohn nicht mehr unter­schei­den: er glaubt den »Hel­den von Sol­fe­ri­no« selbst vor sich zu haben. In meh­re­ren Sze­nen läßt Roth den Leser an inne­ren Mono­lo­gen Franz Josephs teil­ha­ben, die einen beängs­ti­gend mür­be und kin­disch gewor­de­nen Geist offen­ba­ren. Auch er hat einen Vater im Him­mel, den »lie­ben Gott«, von des­sen Gna­den sein Amt als »Kai­ser­li­che und König­li­che Apos­to­li­sche Majes­tät« stammt, und mit dem er eine etwas ein­fäl­ti­ge Zwie­spra­che hält.

Aber am Leben, am Da-Sein die­ses fra­gi­len und alters­schwa­chen Kai­sers hän­gen das Leben und Dasein einer gan­zen Welt, 1914 nicht weni­ger als 1859, als der jun­ge Leut­nant der Infan­te­rie mit Ent­set­zen die Gefahr erkennt, in der sein Regent schwebt: »Die Angst vor der unaus­denk­ba­ren, der gren­zen­lo­sen Kata­stro­phe, die ihn selbst, das Regi­ment, die Armee, den Staat, die gan­ze Welt ver­nich­ten wür­de, jag­te glü­hen­de Frös­te durch sei­nen Kör­per«. Fort­an erfül­len die Trot­tas, welt­ge­schicht­lich betrach­tet nur für sehr kur­ze Zeit, über zwei schnell ver­strei­chen­de Gene­ra­tio­nen hin­weg, die Rol­le von Kat­echon­ten im klei­nen, als Stüt­zen des Kai­sers, der ein Kat­echon im gro­ßen ist: und die Rol­le des Kat­echon ist es eben, den Unter­gang auf­zu­hal­ten und auf­zu­schie­ben. Die­ser aber muß eines Tages kom­men. »Wär’ ich nur bei Sol­fe­ri­no gefal­len!« läßt Roth den Kai­ser, der sein Reich im Wel­ten­brand zer­fal­len sieht, am Ende des Buches auf dem Toten­bett flüstern.

Wenn der Kai­ser »welt­li­cher Bru­der des Paps­tes« und Reprä­sen­tant der gott­ge­woll­ten Ord­nung auf Erden ist, so wird die über­ra­gen­de Figur des »Hel­den von Sol­fe­ri­no« zum Reprä­sen­tan­ten der kai­ser­li­chen Ord­nung im Rah­men sei­ner Fami­lie. So wie Franz Joseph im Lau­fe sei­ner Regent­schaft zum Über­va­ter des Rei­ches wird (auch sein Sohn fand einen frü­hen, tra­gi­schen Tod), das solan­ge ste­hen wird, solan­ge er lebt und der himm­li­sche Gott­va­ter ihm sei­nen Segen gewährt, so wird Joseph von Trot­ta zum Minia­tur-Kai­ser und stif­ten­den Patri­ar­chen, der gebie­te­risch über dem Leben sei­nes Enkels Carl Joseph als tyran­ni­sches, weil uner­reich­ba­res Ide­al thront. Die­ser ist zwar guten, aber schwa­chen Wil­lens. Die Über­tra­gung der alten Ord­nung auf sei­ne Per­son gelingt nicht mehr.

Er schlägt auf Anord­nung sei­nes äußer­lich stren­gen, aber letzt­lich sen­ti­men­ta­len und güti­gen Vaters eine Off­ziers­lauf­bahn ein, die sei­ner Natur wider­strebt, ver­liert sich in Alko­hol, Spiel­schul­den und Lie­bes­af­fä­ren mit deut­lich älte­ren Frau­en, eher als pas­siv Getrie­be­ner denn als Herr über sei­ne Hand­lun­gen. Ehe es ihm gelingt, erwach­sen zu wer­den, ist sei­ne Zeit und jene der Welt, die er zu tra­gen bestimmt ist, abge­lau­fen. Der Maelstrom, der ihn schließ­lich ver­schlingt, steht aller­dings über sei­nem und sei­nes Vaters Wol­len oder Nicht-Wollen.

Dem Tod der bei­den wesent­li­chen kat­echon­ti­schen Figu­ren des Romans, des Kai­sers und sei­nes Statt­hal­ters im Hau­se Trot­ta, geht der Tod eines drit­ten Cha­rak­ters vor­aus, der zu ihnen in par­al­le­ler Bezie­hung steht. Der alte Die­ner Jac­ques ist neben dem Kai­ser die letz­te leben­de Brü­cke zu dem Stif­ter­pa­tri­ar­chen des kurz­le­bi­gen »Geschlechts« der Trot­tas. In sei­ner Anwe­sen­heit ver­kör­pert sich eine leben­di­ge Kon­ti­nui­tät, eine gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­de Klam­mer. Er ist einer der weni­gen Men­schen, die den ins Reich der Fami­li­en­le­gen­de auf­ge­stie­ge­nen Kriegs­hel­den noch per­sön­lich kann­ten. Er war bereits in der Kind­heit des Franz von Trot­ta prä­sent; für Carl Joseph ist er ein pri­mä­res Ver­bin­dungs­glied zu sei­nem mythi­schen Groß­va­ter, den er selbst nie ken­nen­ge­lernt hat. In einer Schlüs­sel­sze­ne des Romans erhebt sich der bereits auf dem Ster­be­la­ger fieb­rig deli­rie­ren­de Jac­ques über­ra­schend noch ein­mal von den Toten und macht sich schein­bar frisch gesun­det wie­der an die Arbeit – nur um kurz dar­auf eben­so plötz­lich doch noch zu ver­schei­den. Er muß ein­mal eben doch ster­ben, wie auch der Kai­ser ein­mal ster­ben muß, so alt er auch wer­den mag.

Nie­mand ist an die­sem Ende schuld, es sei denn die Müh­len der Zeit selbst. In einer ande­ren Sze­ne läßt Roth den pol­ni­schen Gra­fen Cho­j­ni­cki, einen »Reak­tio­när« alter Schu­le, der gegen Demo­kra­ten, Juden, Nationalis­ten, Sozia­lis­ten und ähn­li­ches Pack zu wet­tern beliebt, die schreck­li­che Wahr­heit aus­spre­chen. »Das Vater­land ist nicht mehr da«, sagt er zum Bezirks­haupt­mann von Trot­ta, ihm einen jähen »Stich ins Herz« ver­set­zend. »Wir alle leben nicht mehr!« Frei­lich, »wört­lich genom­men«, als Gerüst, bestehe sie noch, die Mon­ar­chie, mit Beam­ten und Armee. Aber inner­lich sei sie längst tot, denn Gott habe sie und den Kai­ser verlassen.

Trot­tas ein­zi­ger Sohn wird nach Aus­bruch des Krie­ges also einem Vater­land geop­fert, das bereits vor der Nie­der­la­ge auf­ge­hört hat, zu exis­tie­ren. Nur drei Tage nach dem Begräb­nis des Kai­sers stirbt auch er, der nutz­los gewor­de­ne Die­ner. Ich weiß nicht, ob hun­dert Jah­re spä­ter, in einer Welt, die schein­barso anders und doch Erbin der unter­ge­gan­ge­nen Welt des Joseph Roth ist, der »Tod schon sei­ne kno­chi­gen Hän­de« auch heu­te wie­der »über unse­ren Kel­chen kreuzt«. Grün­de, das anzu­neh­men, gibt es genug. Nun schei­nen auch die Natio­nal­staa­ten, die auf die Mon­ar­chien und Rei­che gefolgt sind, am Ende zu sein; die neue »Reli­gi­on« ist der ega­li­tä­re Glo­ba­lis­mus, der sie von innen auf­frißt, und der hin­ter den Kulis­sen im Grun­de nichts wei­ter als einen Kult des Mam­mons ver­birgt. Wer sich heu­te noch am Kulis­sen­schie­ben betei­ligt und sich ein­bil­det, er tue etwas für »die Demo­kra­tie«, ist nicht weni­ger blind als der Bezirks­haupt­mann von Trot­ta, der zumin­dest im Gegen­satz zu den meis­ten heu­ti­gen Mit­mi­schern und Gesell­schafts­stüt­zen ein anstän­di­ger Mensch war.

Mein »Vater­land« war die zwei­te öster­rei­chi­sche Repu­blik, die eben­falls »nicht mehr da« ist, allen­falls noch als eine ver­ächt­li­che, kul­tu­rell und poli­tisch her­un­ter­ge­kom­me­ne Far­ce besteht. Von Gott wol­len wir schon gar nicht mehr reden. Man kann jedoch gewiß sagen, daß auch hin­ter den Fas­sa­den unse­rer Zivi­li­sa­ti­on nicht mehr viel See­le zu fin­den ist. Zugleich wer­den die Väter und Groß­vä­ter geäch­tet, wie das Vater­sein und die Vater­schaft und die patri­ar­cha­le Ord­nung selbst lächer­lich gemacht, unter­mi­niert und dif­fa­miert wer­den, womit auch die Zukunft der Söh­ne zer­stört und ver­spielt wird. In vie­ler­lei Hin­sicht hat­te ich in die­sem Som­mer, als ich den Radetz­ky­marsch ent­deck­te und Otto von Habs­burg starb, das Gefühl, ein Buch über mei­ne und die kom­men­de Zeit zu lesen.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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