Die Bestsellerlisten werden bereits seit Monaten von Veröffentlichungen bestimmt, die irgend etwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun haben. Während es bislang um das letzte Jahr vor dem Weltkrieg (Florian Illies’ 1913) und vor allem um die Vorgeschichte desselben (Christopher Clarks Die Schlafwandler) ging und die ersten Volksbücher à la Guido Knopp auf der Frankfurter Buchmesse zu besichtigen waren, setzt der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel wieder einmal editorische Maßstäbe.
Vor drei Jahren veröffentlichte er erstmals die originalen Kriegstagebücher Jüngers (die sogenannten Kladden) aus dem Ersten Weltkrieg, nun liegt eine historisch-kritische Ausgabe des daraus verfaßten, wichtigsten Buches aus der Erlebnisperspektive vor: Ernst Jüngers In Stahlgewittern (Stuttgart: Klett-Cotta 2013, 2 Bände, 1245 Seiten, 68 Euro). Über den Sinn solcher Editionen läßt sich trefflich streiten. Meistens sind solche Unternehmungen reine Drittmitteleinwerbemaschinen, die den Bearbeitern (aus dem universitären Mittelbau) einige Jahre Arbeit und damit Lohn und Brot geben. Und zu Jüngers Kultbuch, das er aus den Tagebüchern des Grabens extrahierte, will solch eine Edition schon gar nicht passen. Die Jünger-Jünger haben ihre Lieblingsausgabe im Regal und werden sich den Lesespaß nicht durch einen riesigen Variantenapparat verderben lassen. Für Leute, die mit Jünger bisher nichts anfangen konnten, dürften sich über tausend Seiten nicht gerade als Einstieg anbieten. Doch die Begründung für diese Ausgabe liegt im Text selbst.
Kiesels Edition ist auf zwei Bände verteilt. Im ersten Band, dem eigentlichen Textband, fnden sich sowohl die Erstausgabe von 1920 als auch die Ausgabe letzter Hand, die Jünger für die zweite Werkausgabe erstellt hatte und die seitdem auch unverändert als Einzelausgabe im Buchhandel zu haben ist. Zur Präsentation hat sich Kiesel etwas Besonderes einfallen lassen: Auf der linken Seite fndet sich die Ausgabe von 1920, auf der rechten die von 1978, die entsprechenden Textseiten parallel gegenübergestellt. So läßt sich leicht ersehen, was Jünger verändert, ergänzt und gestrichen hat. Da es jedoch nicht nur diese beiden Fassungen gibt, sondern mindestens sieben, sind die entsprechenden Passagen unterschiedlich farbig markiert und mit Jahreszahlen versehen, wann sie eingefügt oder gestrichen wurden. Ergänzt wird das Ganze durch das ausführliche Variantenverzeichnis (320 Seiten) im zweiten Band, in dem wirklich jede Zeichenänderung vermerkt ist. Das hätte man natürlich auch ins Internet verfrachten können, doch immerhin ist nun ein für allemal geklärt, was verändert wurde.
Der eigentliche Wert des Bandes liegt aber an anderer Stelle: in der ausführlichen Einleitung des Herausgebers, die sicher die kundigste Einführung in Jüngers Hauptwerk überhaupt sein dürfte und den Materialen, die im Anhang abgedruckt sind, wobei vor allem die Ausführungen zum Absatz des Buches und die Beispiele der Rezeption von Interesse sein dürften. Wenn man bedenkt, daß die erste Auflage im Selbstverlag erschien und sich Jüngers Vater um Kontakte zum Buchhandel und um Rezensenten bemühte, sind 2000 verkaufte Exemplare in einem Jahr keine schlechte Zahl. Auch nach dem Wechsel zum renommierten Verlag Mittler & Sohn blieb es bis 1929 bei rund 2000 Exemplaren pro Jahr. Die guten Jahre begannen ab 1929, als Jünger sich auch mit anderen Büchern einen Namen gemacht hatte und Remarque reüssierte, und hielten bis 1943 an. Erst 1961 erschien dann eine Nachkriegsausgabe.
Ein Bestseller war Jüngers Erstling also nie. Eher ein Longseller, denn bis heute haben sich, nach Schätzung Kiesels, insgesamt (mit Übersetzungen) maximal 400000 Exemplare verkauft. Das sind, auf einen Zeitraum von 93 Jahren gesehen, im Schnitt 4300 Exemplare pro Jahr – verglichen mit Remarques Im Westen nichts Neues, von dem 30 bis 40 Millionen verkauft worden sein sollen, nicht viel. Und auch Kriegsbücher mit verherrlichender Tendenz erlebten höhere Auflagen, so Hans Zöberleins Der Glaube an Deutschland (fast eine Million). Aber keines hat sich als so gültig erwiesen und so lange in der Diskussion halten können wie Jüngers In Stahlgewittern.
Der entscheidende Grund für das Erscheinen der nun vorliegenden historisch-kritischen Ausgabe ist die Tatsache, daß Jünger sein Buch bis zu, wie er selbst einmal an Armin Mohler schrieb, zwanzigmal überarbeitet hat. Das wird anhand der Rezeptionsgeschichte erst recht spät deutlich, weil die Bearbeitungen der ersten Jahre nicht so einschneidend waren und es der philologischen
Kärrnerarbeit bedurfte, um diese Dinge aufzuspüren. Allerdings hat, wie Kiesel ausführlich darstellt, der zeitweilige Sekretär Armin Mohler bei Erscheinen der ersten Gesamtausgabe in mehreren Artikeln auf diese Tatsache hingewiesen.
Der Tenor lautete: Jünger weigere sich, seinen Büchern eine Mündigkeit zuzugestehen. Stilistisches dürfe man ändern, den Sinn nicht: »Es sind Schriften, die um ihres geschichtliches Zeugniswertes willen auch jeder nachträglichen Zensur … entzogen sind.« Über diese Auseinandersetzung ist es zum Bruch zwischen Mohler und Jünger gekommen, der lange nicht geheilt werden konnte. Mohler sah keinen Grund, seinen Vorwurf zurückzunehmen, Jünger habe seine Bücher, die in der ursprünglichen Form über das Schicksal einer Generation entschieden hätten, »ad usum democratorum« umfrisiert.
Jünger hat die Stahlgewitter tatsächlich mehrfach bearbeitet, eben nicht nur in stilistischer, sondern auch in inhaltlicher und ideologischer Hinsicht. Und auch wenn Kiesel meint, das sei nichts Außergewöhnliches, verweist er als Beleg jedoch nur auf Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, von denen es genau zwei Fassungen gibt. Es dürfte schwerfallen, ein Werk der Weltliteratur zu finden, das der Autor ähnlich exzessiv bearbeitet hat, wie das Jünger mit den Stahlgewittern tat.
Jünger hat diese Bearbeitungen nicht verschwiegen und in die Neuauflagen Vermerke wie »völlig neubearbeitet« einfügen lassen. Ihm ging es dabei um die Annäherungen an die vollkommene Form eines Werkes, die »Herausschälung des Kerns«, die Schärfung des Ausdrucks, aber auch um die Säuberung von Stellen, die er eben jetzt nicht mehr haben wollte. Und da wird man zum einen eine Entfernung von der Unmittelbarkeit (und auch Unbedarftheit) des Urtextes konstatieren können als auch eine gewisse Zeitgeistigkeit, der sich Jünger wohl nicht verschließen konnte – selbst dann nicht, wenn er die nationalistischen Tendenzen der späten zwanziger Jahre Anfang und Mitte der dreißiger Jahre wieder tilgte, weil ihm klargeworden war, daß das jetzt Konjunktur hatte und einem Klassiker schlecht zu Gesicht stand.
Die erste Verlagsausgabe (1922) war gegenüber der Erstausgabe nur leicht verändert worden. Es handelt sich meist um Zugeständnisse an ein größeres Publikum, das nicht mehr unbedingt um die gleichen Erfahrungen wie Jünger verfügt. Details und auch einige »Elemente des blutigen Humors« wurden ergänzt. Die nächsten Veränderungen sind inhaltlich gravierender, darauf weist schon das Jahr 1923 hin, als die Überarbeitung stattfand. Jünger war aus der Reichswehr ausgeschieden, studierte in Leipzig und entwickelte sich zum wichtigsten Autor des Neuen Nationalismus. Kiesel: »Das Kriegserlebnis wird durch die Streichung subjektiv wertender Stellen objektiviert und als Basis eines nationalistischen politischen Engagements profliert … der Ton wird kälter und schneidender.«
In der Ausgabe von 1934 wird das alles wieder gestrichen und der Text insgesamt geschmeidiger (literarischer) gemacht. Jünger hat diese Tendenz in den Ausgaben, die bis 1935 erscheinen, fortgesetzt und das Buch dann bis 1943 unverändert gelassen. Die Ausgabe von 1961 schließt dann die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs mit ein, so daß Jünger sein Buch weiter humanisierte und es generell mit einer versöhnlichen Tendenz versah. Für die zweite Gesamtausgabe hat Jünger den Text 1978 nur noch geringfügig stilistisch überarbeitet.
Was die Motivation der Überarbeitung betrifft, unterscheidet Kiesel zwei Thesen. Die – auch von Jünger vertretene – Finalitätsthese zielt auf die Bearbeitung zur Herausbildung des bestmöglichen Textes ab. Die zweite, die Opportunitätsthese von Mohler, geht davon aus, daß Jünger damit auf den Zeitgeist Bezug nehmen wollte und somit weniger unabhängig war, als er selbst immer behauptet hat. Kiesel sieht eine Verschränkung der beiden Motivationen, die sich in jeder Fassung unterschiedlich stark zeigen.
Welche Fassung die beste ist, bleibt umstritten. Kiesel vertritt die Auffassung, daß die literarische Qualität mit jeder Ausgabe zunimmt, andere geben der Ausgabe von 1934 den Vorzug, weil sie noch nicht so sehr mit ethischen Reflexionen beladen sei.