»Ein Philosoph ist mehr als bloß Erkennender. Ihn charakterisiert das Material, das er erkennt, und dessen Herkunft. In seiner Persönlichkeit ist die Zeit, ihre Bewegung, ihre Problematik gegenwärtig; in ihr sind die Kräfte der Zeit von entschiedenstem Leben in ungewöhnlicher Helligkeit. Er ist repräsentativ, was die Zeit ist; er ist es in substantiellster Weise, während andere nur Teile, Abartungen, Entleerungen, Verzerrungen der zeitlichen Kräfte verwirklichen. Der Philosoph ist das Herz im Leben der Zeit, aber er ist es nicht nur, sondern vermag die Zeit auszusagen, ihr den Spiegel vorzuhalten und, indem er sie ausspricht, geistig zu bestimmen. Darum ist der Philosoph ein Mensch, der immer mit seiner Persönlichkeit haftet, sich ganz einsetzt, wenn er sich überhaupt irgendwo einsetzt.«
Diese Worte, die Karl Jaspers (1883–1969) am 17. Juli 1920 bei der Trauerfeier für Max Weber vor der Heidelberger Studentenschaft sprach, dienten der Charakterisierung Webers und waren gleichzeitig ein Anspruch, den Jaspers nicht zuletzt für sich selbst formulierte, als er vor der Entscheidung stand, die Philosophie zu seinem Beruf zu machen. Weber gilt zwar als eine der wichtigsten Gelehrtengestalten des 20. Jahrhunderts, doch würde heute kaum jemand mit diesem Pathos an ihn erinnern. Man spürt aus Jaspers’ Worten, daß weniger das Werk Webers sein Urteil bestimmte, mehr hingegen das prägende Erlebnis der Persönlichkeit Webers.
Bei seinem Verhältnis zu Weber spielt der eigentliche Beruf Jaspers’ eine wichtige Rolle. Obwohl später Philosophieprofessor, hat Jaspers nie Philosophie studiert, sondern nach zwei Semestern Jura ein Medizinstudium absolviert. Dabei spezialisierte er sich auf die Psychiatrie und promovierte 1909 in Heidelberg mit einer Arbeit über Hausmädchen, die fern der Heimat straffällig wurden: Heimweh und Verbrechen. In Heidelberg traf Jaspers auf Max Weber, der zwar 1903 seine Professur wegen eines Nervenleidens aufgegeben hatte, seitdem aber gemeinsam mit seiner Frau einen Salon veranstaltete, an dem auch Jaspers teilnahm. Kurzzeitig war Weber zudem bei Jaspers in Behandlung, der vor dem Ersten Weltkrieg in der psychiatrischen Klinik in Heidelberg arbeitete.
Der Einfluß Webers auf Jaspers ist bereits deutlich zu spüren, als dieser 1913 seine Habilitation vorlegte, die Allgemeine Psychopathologie. Damit gelang dem knapp Dreißigjährigen der große Wurf. Er bahnte der verstehenden Psychologie den Weg und brachte der Psychopathologie eine methodische Phänomenologie bei, die sich bewährte und bis heute gültig ist. Bereits seine Antrittsvorlesung als Privatdozent widmete Jaspers mit den Grenzen der Psychologie einem Thema, das auch sein philosophisches Werk bestimmen sollte: die Grenzen der Erkenntnis und damit dessen, was dem Menschen möglich ist. 1916 wird er außerordentlicher Professor für Psychologie in Heidelberg.
Ein Anstoß für Jaspers Psychologie ist dabei die »enthüllende Psychologie« Nietzsches gewesen, die ihn gleichzeitig wieder auf die philosophischen Grundprobleme verwiesen habe. Ein weiterer Schritt hin zur Philosophie war die Lektüre des Werks von Sören Kierkegaard kurz vor dem Ersten Weltkrieg, der von der damaligen Philosophie weitestgehend ignoriert wurde. In den Jahren des Ersten Weltkriegs hält Jaspers Vorlesungen, die ihn auf dem Weg von der Psychologie zur Philosophie zeigen und aus denen sein Übergangswerk, die Psychologie der Weltanschauungen (1919), resultiert. Darin unternimmt Jaspers den Versuch zu verstehen, welche »letzten Positionen die Seele« einnimmt. Sein Buch will aber ausdrücklich nicht selbst Weltanschauung sein, sondern »an die freie Geistigkeit und Aktivität des Lebens durch Darbietung von Orientierungsmitteln« appellieren.
Auch wenn dieses Buch noch nicht ausdrücklich unter dem Begriff der »Existenzphilosophie« firmiert, finden sich darin bereits viele Elemente, die Jaspers in seinen späteren Schriften lediglich präzisiert und systematisiert. Seinen Erfolg verdankt es der bis heute gültigen Beschreibung der Situation des Menschen, die er von der Subjekt-Objekt-Spaltung bestimmt sieht (eine Denkfigur von Nietzsche). Der Mensch kann nicht mit den Dingen eins sein, ein Zurück in den unentfremdeten Urzustand ist nicht möglich. So hat der Mensch (Subjekt) die Möglichkeit, sich verschieden zur Welt (Objekt) zu verhalten (z.B. enthusiastisch oder selbstreflektierend), von der er sich ein Bild machen muß, um sich überhaupt zu ihr verhalten zu können. Die daraus resultierenden Weltbilder sind die »Gehäuse« Webers, in denen man sich gut einrichten kann und nicht in Gefahr gerät.
Jaspers geht es aber nicht um die Weltbilder, sondern um den »lebendigen Prozeß des Geistes«, aus dem die eigentlichen Weltanschauungen resultieren. Dieser Prozeß vollzieht sich in den berühmten Grenzsituationen: Leiden, Kampf, Tod, Zufall und Schuld. Diese Situationen sind unwandelbar und stellen insofern eine Grenze dar, als sie der Mensch nicht verändern oder vermeiden kann. Das Wissen um meinen unausweichlichen Tod erfordert beispielsweise die Tapferkeit, sich den Tod nicht durch sinnliche Jenseitsvorstellungen zu verharmlosen. Doch wieso leben und arbeiten, wenn wir doch sterben müssen? Weil nur der sich seiner Sterblichkeit bewußt sein kann, der lebt und damit als Mensch in irgendeiner Weise auch arbeitet.
Hinter dieser Lehre von den Grenzsituationen steht die Erfahrung der antinomischen Struktur der Wirklichkeit, wie sie bereits in der griechischen Tragödie zum Ausdruck kommt: kein Handeln ohne Schuld, keine Erfüllung ohne Leid, kein Leben ohne Tod, kein Frieden ohne Kampf, kein Sinn ohne Zufall. Es ist unmöglich, sich Grenzsituationen objektiv so zu vergegenwärtigen, als ob sie einen selbst nicht beträfen. Man kann ihnen nur ausweichen, wenn man sich von der eigentlich menschlichen Fähigkeit, sich ergreifen zu lassen, verabschiedet hat.
Damit war ein neuer Ton in der Philosophie angeschlagen, und folgerichtig kam es über die Psychologie der Weltanschauungen zur Begegnung und Freundschaft mit Martin Heidegger. Gemeinsam bildete man eine »Kampfgemeinschaft« gegen die Universitätsphilosophie, die der Jugend nichts mehr sagte, weil sie sich der Erkenntnistheorie verschrieben und dabei den Menschen aus den Augen verloren habe. Jaspers war seit 1922 Ordinarius in Heidelberg, Heidegger bekam 1928 Husserls Lehrstuhl in Freiburg. Allerdings war die Freundschaft schon früh von Mißtönen begleitet. Heidegger schrieb eine lange, ambivalente Rezension zur Psychologie der Weltanschauungen, Jaspers fühlte sich mißverstanden. Sein größter Widersacher in Heidelberg, Heinrich Rickert, stand Heidegger, der 1915 bei ihm habilitiert hatte, nahe, und es wirft ein bezeichnendes Licht auf Heidegger, daß er an Rickert schreibt, daß Jaspers’ Buch »auf das Schärfste bekämpft werden« müsse. Umgekehrt hat Jaspers Sein und Zeit nie richtig gelesen.
Durch sein Buch Sein und Zeit (1927) war Heidegger der neue Stern der Existenzphilosophie, auch, weil Jaspers sich mit einem neuen, größeren Werk lange Zeit ließ. Im Oktober 1931 erschien dann zunächst Die geistige Situation der Zeit, das als Nr. 1000 der bekannten Sammlung Göschen rasch fünf Auflagen erlebte. Wenige Wochen später ließ Jaspers seine dreibändige Philosophie folgen, die den philosophischen Hintergrund zu dem populären Bändchen bietet. Existenzphilosophie wird von Jaspers als das »alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte« definiert. Daß es für den Menschen notwendig und gleichzeitig schwierig ist, sich selbst zu gewinnen, liegt daran, daß er das »Zwischenwesen« ist, dem die Natürlichkeit nicht als Maßstab dienen kann und das sich daher im »Unbedingten« seiner selbst vergewissern muß. Gleichzeitig ist der Mensch der »Knotenpunkt allen Daseins«, ohne den das Dasein gleichsam sinnlos wäre.
Um dieses Problem der menschlichen Existenz herum entfaltet Jaspers seine Philosophie der Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik als Nachvollzug der klassischen Themen der Philosophie: Welt, Mensch, Gott. Wie eingangs mit der Charakterisierung des Philosophen angedeutet, ist die Welt die Herausforderung und Grenze für den Menschen. Wenn aus der Weltorientierung kein Bewußtsein für die Grenzen dieser Erkenntnis mitschwingt, wird der Rest, das Begreifen des Menschen als Existenz, die sich in der Transzendenz, bei Gott, aufgehoben und gerechtfertigt weiß, unmöglich und damit unverständlich. Wer also der Meinung ist, die Welt sei durchgehend erkennbar, wird nicht in die Lage kommen, einer Grenzsituation gegenüberzustehen. Die Welt wäre dann ausrechen- und damit veränderbar, Grenzsituationen würden unmöglich.
Jaspers’ Auffassung von Politik leitet sich von dieser Einsicht her. Gerade im Bereich des Politischen kommt das Unbedingte der Existenz zu Geltung, so daß dem Planbaren und Machbaren der Mensch immer wieder als nicht berechenbares Hindernis in den Weg tritt. In der Geistigen Situation der Zeit geht es ihm daher um die »Grenzen der Daseinsordnung«, die von der Herrschaft des Apparats und der Masse geprägt sei und die Refugien des Privaten zerstöre. Demgegenüber stehe die Sehnsucht nach einer beständigen Daseinsordnung, die jedoch unmöglich sei. Hier diskutiert er kurz die Alternativen des Bolschewismus und Faschismus, die eben diese Möglichkeit behaupten. Obwohl Jaspers den Reiz dieser Alternativen deutlich sieht, hat er den Nationalsozialismus nicht weiter beachtet, wie er nach dem Krieg zugab, und war von dessen Erfolg überrascht. Durch den zunächst fortgeführten Austausch mit Heidegger konnte er die Auswirkungen, die sich vor allem in dem Gefühl äußerten, daß jetzt eben doch, wenn nicht alles, so doch wenigstens einiges machbar sei, miterleben.
Für Jaspers stellte sich die Frage des Mitmachens nicht nur aus philosophischen Gründen nicht. Er war durch eine angeborene, unheilbare Krankheit der Atemwege stark behindert und bedauerte im Dezember 1931, »daß ich nicht in die Welt kann, nicht in lebendiger Gegenwart die Menschen am Kopfe fassen und mich fassen lassen darf«. Dennoch versuchte er die »nationalistische Jugend«, bei der er »soviel guten Willen und echten Schwung in verworrenem und verkehrtem Geschwätz« fand, durch die Schilderung der Persönlichkeit Max Webers noch 1932 auf den Anspruch hinzuweisen, »der darin liegt, ein Deutscher zu sein«. Was ein Mitmachen nach 1933 von vornherein ausschloß, war die Tatsache, daß Jaspers mit einer Jüdin verheiratet war und ihr die Treue hielt.
Seine Philosophie selbst wurde von den meisten Nationalsozialisten als nicht anschlußfähig betrachtet. Jedoch haben vor allem kommunistische Emigranten ihm damals und auch später die Nichtfestgelegtheit seiner Philosophie zum Vorwurf gemacht und darin einen irrationalen Zug gesehen, der dem NS indirekt Vorschub geleistet habe. Auch wenn diese Interpretation völlig an Jaspers’ Intention vorbeigeht, hat dieser in den dreißiger Jahren versucht, seine Philosophie gegen solche Interpretationen abzusichern und die Vernunft als Referenzpunkt für die Lebensführung eingeführt, ohne die Existenz nicht möglich sei. Im »Umgreifenden«, einem weiteren Begriff dieser Jahre, haben Vernunft und Existenz ihren gemeinsamen Ursprung, hängen also voneinander ab. Jaspers Philosophie wird dadurch schwerfälliger, und es klingt bereits hier der etwas pastorale Ton des späten Jaspers an, der sich nicht mit der Existenzerhellung zufrieden gibt, sondern belehren möchte.
1937 erfolgte zwangsweise die Versetzung in den Ruhestand, nicht aus politischen, sondern aus rassischen Gründen, weil er sich nicht von seiner jüdischen Ehefrau trennte. Bis Ende der dreißiger Jahre konnte er noch publizieren und legte 1936 eine Auseinandersetzung mit Nietzsche und ein Jahr später eine mit Descartes vor. Die verbleibende Zeit bis zum Kriegsende – Urlaub, wie Jaspers es rückblickend nannte – nutzte er zum einen, um seine Philosophie des Umgreifenden auszuarbeiten und zum anderen, um die wichtigsten Philosophen zu interpretieren, darunter Platon und Kant. Beide Bücher konnten erst nach dem Krieg erscheinen.
Doch es ist weniger die Kontinuität als der Bruch im Denken, den man bei Jaspers wahrnimmt, wenn man seine Veröffentlichungen vor und nach 1945 miteinander vergleicht. Bereits 1946, Jaspers war wieder Professor in Heidelberg, trat er mit seiner Schrift Die Schuldfrage an die Öffentlichkeit. Auch wenn diese wesentlich moderater als der gegenwärtige Schuldkult ist, so bleibt doch bestehen, daß Jaspers die Deutschen pauschal für den Nationalsozialismus in Haftung nimmt und dadurch, wenngleich er der Wahrheit dienen möchte, die Wirklichkeit verzerrt widergibt. Ein weiteres Indiz für diesen Bruch ist Jaspers Wechsel auf eine Professur nach Basel während des Zweiten Weltkriegs, was ihm von nicht wenigen als Fahnenflucht ausgelegt wurde. Da er Deutschland in den Jahren der größten Not verließ, wurde dies wie eine Verurteilung Deutschlands durch Jaspers empfunden. Für Carl Schmitt war Jaspers daher nur ein moralinsaurer Bußprediger und ein »geisteswissenschaftliches pin up des befreiten Deutschlands«. Daß es ganz so einfach nicht ist, zeigt die »alt-liberale, heute seltene Lektion«, die Jaspers Mohler erteilte, indem er ihm, wie Mohler schreibt, den »Doktortitel rettete«, obwohl er in Mohler sofort den fremden Geist erkannte.
Daß es bei Jaspers einen Bruch gibt, wurde in den folgenden Jahren immer offensichtlicher, auch wenn er seine alten Bücher alle unverändert wieder auflegen ließ. Insofern bekannte er sich zu deren Inhalt, ging aber einen Weg, der noch vor 1933 undenkbar für ihn gewesen wäre. Was dabei besonders heraussticht, ist das Engagement als »politischer Schriftsteller«, der zunehmend ungehaltener mit der deutschen Vergangenheit und Gegenwart ins Gericht ging. Diese Blickverengung ist vermutlich nur biographisch zu erklären. Jaspers und seine Frau hatten in den letzten Jahren der NS-Zeit unter permanenter Angst vor Deportation gelebt. Sein Vertrauen in die Haltbarkeit der Daseinsordnung war daher noch geringer geworden. Offenbar gab er sich an 1933 eine Mitschuld und sah sich jetzt als Philosoph in der Pflicht, sich politisch einzumischen. Hinzu kommen die menschliche Enttäuschung über Heidegger und die Freundschaft zu Hannah Arendt, die ihn in dieser Hinsicht offenbar motivierte.
Wie wenig seine politische Schriftstellerei ausrichten konnte, mußte Jaspers spätestens klar werden, als seine 1960 erschienene Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik (eine Warnung vor der drohenden Parteienoligarchie) von links als antidemokratische Tendenzschrift interpretiert wurde. Daß Jaspers vorgeworfen wurde, sich aus dem Arsenal der Schmitt-Schule zu bedienen, kann als Ironie der Geschichte gelten. Daß er als politischer Publizist keinen praktischen Erfolg hatte, dürfte ihn, wenn er seiner Überzeugung von der »Notwendigkeit des Scheiterns« treu geblieben ist, nicht überrascht haben. Denn was er 1932 über Max Weber geschrieben hatte, galt für ihn genauso: »Sein Scheitern war wesentlich, da er das menschlich Wahre, aber faktisch unmöglich wollte.«