Autorenporträt Karl Jaspers

PDF der Druckausgabe aus Sezession 68 / Oktober 2015

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

»Ein Phi­lo­soph ist mehr als bloß Erken­nen­der. Ihn cha­rak­te­ri­siert das Mate­ri­al, das er erkennt, und des­sen Her­kunft. In sei­ner Per­sön­lich­keit ist die Zeit, ihre Bewe­gung, ihre Pro­ble­ma­tik gegen­wär­tig; in ihr sind die Kräf­te der Zeit von ent­schie­dens­tem Leben in unge­wöhn­li­cher Hel­lig­keit. Er ist reprä­sen­ta­tiv, was die Zeit ist; er ist es in sub­stan­ti­ells­ter Wei­se, wäh­rend ande­re nur Tei­le, Abar­tun­gen, Ent­lee­run­gen, Ver­zer­run­gen der zeit­li­chen Kräf­te ver­wirk­li­chen. Der Phi­lo­soph ist das Herz im Leben der Zeit, aber er ist es nicht nur, son­dern ver­mag die Zeit aus­zu­sa­gen, ihr den Spie­gel vor­zu­hal­ten und, indem er sie aus­spricht, geis­tig zu bestim­men. Dar­um ist der Phi­lo­soph ein Mensch, der immer mit sei­ner Per­sön­lich­keit haf­tet, sich ganz ein­setzt, wenn er sich über­haupt irgend­wo einsetzt.«

Die­se Wor­te, die Karl Jas­pers (1883–1969) am 17. Juli 1920 bei der Trau­er­fei­er für Max Weber vor der Hei­del­ber­ger Stu­den­ten­schaft sprach, dien­ten der Cha­rak­te­ri­sie­rung Webers und waren gleich­zei­tig ein Anspruch, den Jas­pers nicht zuletzt für sich selbst for­mu­lier­te, als er vor der Ent­schei­dung stand, die Phi­lo­so­phie zu sei­nem Beruf zu machen. Weber gilt zwar als eine der wich­tigs­ten Gelehr­ten­ge­stal­ten des 20. Jahr­hun­derts, doch wür­de heu­te kaum jemand mit die­sem Pathos an ihn erin­nern. Man spürt aus Jas­pers’ Wor­ten, daß weni­ger das Werk Webers sein Urteil bestimm­te, mehr hin­ge­gen das prä­gen­de Erleb­nis der Per­sön­lich­keit Webers.

Bei sei­nem Ver­hält­nis zu Weber spielt der eigent­li­che Beruf Jas­pers’ eine wich­ti­ge Rol­le. Obwohl spä­ter Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor, hat Jas­pers nie Phi­lo­so­phie stu­diert, son­dern nach zwei Semes­tern Jura ein Medi­zin­stu­di­um absol­viert. Dabei spe­zia­li­sier­te er sich auf die Psych­ia­trie und pro­mo­vier­te 1909 in Hei­del­berg mit einer Arbeit über Haus­mäd­chen, die fern der Hei­mat straf­fäl­lig wur­den: Heim­weh und Ver­bre­chen. In Hei­del­berg traf Jas­pers auf Max Weber, der zwar 1903 sei­ne Pro­fes­sur wegen eines Ner­ven­lei­dens auf­ge­ge­ben hat­te, seit­dem aber gemein­sam mit sei­ner Frau einen Salon ver­an­stal­te­te, an dem auch Jas­pers teil­nahm. Kurz­zei­tig war Weber zudem bei Jas­pers in Behand­lung, der vor dem Ers­ten Welt­krieg in der psych­ia­tri­schen Kli­nik in Hei­del­berg arbeitete.

Der Ein­fluß Webers auf Jas­pers ist bereits deut­lich zu spü­ren, als die­ser 1913 sei­ne Habi­li­ta­ti­on vor­leg­te, die All­ge­mei­ne Psy­cho­pa­tho­lo­gie. Damit gelang dem knapp Drei­ßig­jäh­ri­gen der gro­ße Wurf. Er bahn­te der ver­ste­hen­den Psy­cho­lo­gie den Weg und brach­te der Psy­cho­pa­tho­lo­gie eine metho­di­sche Phä­no­me­no­lo­gie bei, die sich bewähr­te und bis heu­te gül­tig ist. Bereits sei­ne Antritts­vor­le­sung als Pri­vat­do­zent wid­me­te Jas­pers mit den Gren­zen der Psy­cho­lo­gie einem The­ma, das auch sein phi­lo­so­phi­sches Werk bestim­men soll­te: die Gren­zen der Erkennt­nis und damit des­sen, was dem Men­schen mög­lich ist. 1916 wird er außer­or­dent­li­cher Pro­fes­sor für Psy­cho­lo­gie in Heidelberg.

Ein Anstoß für Jas­pers Psy­cho­lo­gie ist dabei die »ent­hül­len­de Psy­cho­lo­gie« Nietz­sches gewe­sen, die ihn gleich­zei­tig wie­der auf die phi­lo­so­phi­schen Grund­pro­ble­me ver­wie­sen habe. Ein wei­te­rer Schritt hin zur Phi­lo­so­phie war die Lek­tü­re des Werks von Sören Kier­ke­gaard kurz vor dem Ers­ten Welt­krieg, der von der dama­li­gen Phi­lo­so­phie wei­test­ge­hend igno­riert wur­de. In den Jah­ren des Ers­ten Welt­kriegs hält Jas­pers Vor­le­sun­gen, die ihn auf dem Weg von der Psy­cho­lo­gie zur Phi­lo­so­phie zei­gen und aus denen sein Über­gangs­werk, die Psy­cho­lo­gie der Welt­an­schau­un­gen (1919), resul­tiert. Dar­in unter­nimmt Jas­pers den Ver­such zu ver­ste­hen, wel­che »letz­ten Posi­tio­nen die See­le« ein­nimmt. Sein Buch will aber aus­drück­lich nicht selbst Welt­an­schau­ung sein, son­dern »an die freie Geis­tig­keit und Akti­vi­tät des Lebens durch Dar­bie­tung von Ori­en­tie­rungs­mit­teln« appellieren.

Auch wenn die­ses Buch noch nicht aus­drück­lich unter dem Begriff der »Exis­tenz­phi­lo­so­phie« fir­miert, fin­den sich dar­in bereits vie­le Ele­men­te, die Jas­pers in sei­nen spä­te­ren Schrif­ten ledig­lich prä­zi­siert und sys­te­ma­ti­siert. Sei­nen Erfolg ver­dankt es der bis heu­te gül­ti­gen Beschrei­bung der Situa­ti­on des Men­schen, die er von der Sub­jekt-Objekt-Spal­tung bestimmt sieht (eine Denk­fi­gur von Nietz­sche). Der Mensch kann nicht mit den Din­gen eins sein, ein Zurück in den unent­frem­de­ten Urzu­stand ist nicht mög­lich. So hat der Mensch (Sub­jekt) die Mög­lich­keit, sich ver­schie­den zur Welt (Objekt) zu ver­hal­ten (z.B. enthu­si­as­tisch oder selbst­re­flek­tie­rend), von der er sich ein Bild machen muß, um sich über­haupt zu ihr ver­hal­ten zu kön­nen. Die dar­aus resul­tie­ren­den Welt­bil­der sind die »Gehäu­se« Webers, in denen man sich gut ein­rich­ten kann und nicht in Gefahr gerät.

Jas­pers geht es aber nicht um die Welt­bil­der, son­dern um den »leben­di­gen Pro­zeß des Geis­tes«, aus dem die eigent­li­chen Welt­an­schau­un­gen resul­tie­ren. Die­ser Pro­zeß voll­zieht sich in den berühm­ten Grenz­si­tua­tio­nen: Lei­den, Kampf, Tod, Zufall und Schuld. Die­se Situa­tio­nen sind unwan­del­bar und stel­len inso­fern eine Gren­ze dar, als sie der Mensch nicht ver­än­dern oder ver­mei­den kann. Das Wis­sen um mei­nen unaus­weich­li­chen Tod erfor­dert bei­spiels­wei­se die Tap­fer­keit, sich den Tod nicht durch sinn­li­che Jen­seits­vor­stel­lun­gen zu ver­harm­lo­sen. Doch wie­so leben und arbei­ten, wenn wir doch ster­ben müs­sen? Weil nur der sich sei­ner Sterb­lich­keit bewußt sein kann, der lebt und damit als Mensch in irgend­ei­ner Wei­se auch arbeitet.

Hin­ter die­ser Leh­re von den Grenz­si­tua­tio­nen steht die Erfah­rung der anti­no­mi­schen Struk­tur der Wirk­lich­keit, wie sie bereits in der grie­chi­schen Tra­gö­die zum Aus­druck kommt: kein Han­deln ohne Schuld, kei­ne Erfül­lung ohne Leid, kein Leben ohne Tod, kein Frie­den ohne Kampf, kein Sinn ohne Zufall. Es ist unmög­lich, sich Grenz­si­tua­tio­nen objek­tiv so zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, als ob sie einen selbst nicht beträ­fen. Man kann ihnen nur aus­wei­chen, wenn man sich von der eigent­lich mensch­li­chen Fähig­keit, sich ergrei­fen zu las­sen, ver­ab­schie­det hat.

Damit war ein neu­er Ton in der Phi­lo­so­phie ange­schla­gen, und fol­ge­rich­tig kam es über die Psy­cho­lo­gie der Welt­an­schau­un­gen zur Begeg­nung und Freund­schaft mit Mar­tin Heid­eg­ger. Gemein­sam bil­de­te man eine »Kampf­ge­mein­schaft« gegen die Uni­ver­si­täts­phi­lo­so­phie, die der Jugend nichts mehr sag­te, weil sie sich der Erkennt­nis­theo­rie ver­schrie­ben und dabei den Men­schen aus den Augen ver­lo­ren habe. Jas­pers war seit 1922 Ordi­na­ri­us in Hei­del­berg, Heid­eg­ger bekam 1928 Huss­erls Lehr­stuhl in Frei­burg. Aller­dings war die Freund­schaft schon früh von Miß­tö­nen beglei­tet. Heid­eg­ger schrieb eine lan­ge, ambi­va­len­te Rezen­si­on zur Psy­cho­lo­gie der Welt­an­schau­un­gen, Jas­pers fühl­te sich miß­ver­stan­den. Sein größ­ter Wider­sa­cher in Hei­del­berg, Hein­rich Rickert, stand Heid­eg­ger, der 1915 bei ihm habi­li­tiert hat­te, nahe, und es wirft ein bezeich­nen­des Licht auf Heid­eg­ger, daß er an Rickert schreibt, daß Jas­pers’ Buch »auf das Schärfs­te bekämpft wer­den« müs­se. Umge­kehrt hat Jas­pers Sein und Zeit nie rich­tig gelesen.

Durch sein Buch Sein und Zeit (1927) war Heid­eg­ger der neue Stern der Exis­tenz­phi­lo­so­phie, auch, weil Jas­pers sich mit einem neu­en, grö­ße­ren Werk lan­ge Zeit ließ. Im Okto­ber 1931 erschien dann zunächst Die geis­ti­ge Situa­ti­on der Zeit, das als Nr. 1000 der bekann­ten Samm­lung Göschen rasch fünf Auf­la­gen erleb­te. Weni­ge Wochen spä­ter ließ Jas­pers sei­ne drei­bän­di­ge Phi­lo­so­phie fol­gen, die den phi­lo­so­phi­schen Hin­ter­grund zu dem popu­lä­ren Bänd­chen bie­tet. Exis­tenz­phi­lo­so­phie wird von Jas­pers als das »alle Sach­kun­de nut­zen­de, aber über­schrei­ten­de Den­ken, durch das der Mensch er selbst wer­den möch­te« defi­niert. Daß es für den Men­schen not­wen­dig und gleich­zei­tig schwie­rig ist, sich selbst zu gewin­nen, liegt dar­an, daß er das »Zwi­schen­we­sen« ist, dem die Natür­lich­keit nicht als Maß­stab die­nen kann und das sich daher im »Unbe­ding­ten« sei­ner selbst ver­ge­wis­sern muß. Gleich­zei­tig ist der Mensch der »Kno­ten­punkt allen Daseins«, ohne den das Dasein gleich­sam sinn­los wäre.

Um die­ses Pro­blem der mensch­li­chen Exis­tenz her­um ent­fal­tet Jas­pers sei­ne Phi­lo­so­phie der Welt­ori­en­tie­rung, Exis­tenz­er­hel­lung und Meta­phy­sik als Nach­voll­zug der klas­si­schen The­men der Phi­lo­so­phie: Welt, Mensch, Gott. Wie ein­gangs mit der Cha­rak­te­ri­sie­rung des Phi­lo­so­phen ange­deu­tet, ist die Welt die Her­aus­for­de­rung und Gren­ze für den Men­schen. Wenn aus der Welt­ori­en­tie­rung kein Bewußt­sein für die Gren­zen die­ser Erkennt­nis mit­schwingt, wird der Rest, das Begrei­fen des Men­schen als Exis­tenz, die sich in der Tran­szen­denz, bei Gott, auf­ge­ho­ben und gerecht­fer­tigt weiß, unmög­lich und damit unver­ständ­lich. Wer also der Mei­nung ist, die Welt sei durch­ge­hend erkenn­bar, wird nicht in die Lage kom­men, einer Grenz­si­tua­ti­on gegen­über­zu­ste­hen. Die Welt wäre dann aus­re­chen- und damit ver­än­der­bar, Grenz­si­tua­tio­nen wür­den unmöglich.

Jas­pers’ Auf­fas­sung von Poli­tik lei­tet sich von die­ser Ein­sicht her. Gera­de im Bereich des Poli­ti­schen kommt das Unbe­ding­te der Exis­tenz zu Gel­tung, so daß dem Plan­ba­ren und Mach­ba­ren der Mensch immer wie­der als nicht bere­chen­ba­res Hin­der­nis in den Weg tritt. In der Geis­ti­gen Situa­ti­on der Zeit geht es ihm daher um die »Gren­zen der Daseins­ord­nung«, die von der Herr­schaft des Appa­rats und der Mas­se geprägt sei und die Refu­gi­en des Pri­va­ten zer­stö­re. Dem­ge­gen­über ste­he die Sehn­sucht nach einer bestän­di­gen Daseins­ord­nung, die jedoch unmög­lich sei. Hier dis­ku­tiert er kurz die Alter­na­ti­ven des Bol­sche­wis­mus und Faschis­mus, die eben die­se Mög­lich­keit behaup­ten. Obwohl Jas­pers den Reiz die­ser Alter­na­ti­ven deut­lich sieht, hat er den Natio­nal­so­zia­lis­mus nicht wei­ter beach­tet, wie er nach dem Krieg zugab, und war von des­sen Erfolg über­rascht. Durch den zunächst fort­ge­führ­ten Aus­tausch mit Heid­eg­ger konn­te er die Aus­wir­kun­gen, die sich vor allem in dem Gefühl äußer­ten, daß jetzt eben doch, wenn nicht alles, so doch wenigs­tens eini­ges mach­bar sei, miterleben.

Für Jas­pers stell­te sich die Fra­ge des Mit­ma­chens nicht nur aus phi­lo­so­phi­schen Grün­den nicht. Er war durch eine ange­bo­re­ne, unheil­ba­re Krank­heit der Atem­we­ge stark behin­dert und bedau­er­te im Dezem­ber 1931, »daß ich nicht in die Welt kann, nicht in leben­di­ger Gegen­wart die Men­schen am Kop­fe fas­sen und mich fas­sen las­sen darf«. Den­noch ver­such­te er die »natio­na­lis­ti­sche Jugend«, bei der er »soviel guten Wil­len und ech­ten Schwung in ver­wor­re­nem und ver­kehr­tem Geschwätz« fand, durch die Schil­de­rung der Per­sön­lich­keit Max Webers noch 1932 auf den Anspruch hin­zu­wei­sen, »der dar­in liegt, ein Deut­scher zu sein«. Was ein Mit­ma­chen nach 1933 von vorn­her­ein aus­schloß, war die Tat­sa­che, daß Jas­pers mit einer Jüdin ver­hei­ra­tet war und ihr die Treue hielt.

Sei­ne Phi­lo­so­phie selbst wur­de von den meis­ten Natio­nal­so­zia­lis­ten als nicht anschluß­fä­hig betrach­tet. Jedoch haben vor allem kom­mu­nis­ti­sche Emi­gran­ten ihm damals und auch spä­ter die Nicht­fest­ge­legt­heit sei­ner Phi­lo­so­phie zum Vor­wurf gemacht und dar­in einen irra­tio­na­len Zug gese­hen, der dem NS indi­rekt Vor­schub geleis­tet habe. Auch wenn die­se Inter­pre­ta­ti­on völ­lig an Jas­pers’ Inten­ti­on vor­bei­geht, hat die­ser in den drei­ßi­ger Jah­ren ver­sucht, sei­ne Phi­lo­so­phie gegen sol­che Inter­pre­ta­tio­nen abzu­si­chern und die Ver­nunft als Refe­renz­punkt für die Lebens­füh­rung ein­ge­führt, ohne die Exis­tenz nicht mög­lich sei. Im »Umgrei­fen­den«, einem wei­te­ren Begriff die­ser Jah­re, haben Ver­nunft und Exis­tenz ihren gemein­sa­men Ursprung, hän­gen also von­ein­an­der ab. Jas­pers Phi­lo­so­phie wird dadurch schwer­fäl­li­ger, und es klingt bereits hier der etwas pas­to­ra­le Ton des spä­ten Jas­pers an, der sich nicht mit der Exis­tenz­er­hel­lung zufrie­den gibt, son­dern beleh­ren möchte.

1937 erfolg­te zwangs­wei­se die Ver­set­zung in den Ruhe­stand, nicht aus poli­ti­schen, son­dern aus ras­si­schen Grün­den, weil er sich nicht von sei­ner jüdi­schen Ehe­frau trenn­te. Bis Ende der drei­ßi­ger Jah­re konn­te er noch publi­zie­ren und leg­te 1936 eine Aus­ein­an­der­set­zung mit Nietz­sche und ein Jahr spä­ter eine mit Des­car­tes vor. Die ver­blei­ben­de Zeit bis zum Kriegs­en­de – Urlaub, wie Jas­pers es rück­bli­ckend nann­te – nutz­te er zum einen, um sei­ne Phi­lo­so­phie des Umgrei­fen­den aus­zu­ar­bei­ten und zum ande­ren, um die wich­tigs­ten Phi­lo­so­phen zu inter­pre­tie­ren, dar­un­ter Pla­ton und Kant. Bei­de Bücher konn­ten erst nach dem Krieg erscheinen.

Doch es ist weni­ger die Kon­ti­nui­tät als der Bruch im Den­ken, den man bei Jas­pers wahr­nimmt, wenn man sei­ne Ver­öf­fent­li­chun­gen vor und nach 1945 mit­ein­an­der ver­gleicht. Bereits 1946, Jas­pers war wie­der Pro­fes­sor in Hei­del­berg, trat er mit sei­ner Schrift Die Schuld­fra­ge an die Öffent­lich­keit. Auch wenn die­se wesent­lich mode­ra­ter als der gegen­wär­ti­ge Schuld­kult ist, so bleibt doch bestehen, daß Jas­pers die Deut­schen pau­schal für den Natio­nal­so­zia­lis­mus in Haf­tung nimmt und dadurch, wenn­gleich er der Wahr­heit die­nen möch­te, die Wirk­lich­keit ver­zerrt wider­gibt. Ein wei­te­res Indiz für die­sen Bruch ist Jas­pers Wech­sel auf eine Pro­fes­sur nach Basel wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs, was ihm von nicht weni­gen als Fah­nen­flucht aus­ge­legt wur­de. Da er Deutsch­land in den Jah­ren der größ­ten Not ver­ließ, wur­de dies wie eine Ver­ur­tei­lung Deutsch­lands durch Jas­pers emp­fun­den. Für Carl Schmitt war Jas­pers daher nur ein mora­lin­saurer Buß­pre­di­ger und ein »geis­tes­wis­sen­schaft­li­ches pin up des befrei­ten Deutsch­lands«. Daß es ganz so ein­fach nicht ist, zeigt die »alt-libe­ra­le, heu­te sel­te­ne Lek­ti­on«, die Jas­pers Moh­ler erteil­te, indem er ihm, wie Moh­ler schreibt, den »Dok­tor­ti­tel ret­te­te«, obwohl er in Moh­ler sofort den frem­den Geist erkannte.

Daß es bei Jas­pers einen Bruch gibt, wur­de in den fol­gen­den Jah­ren immer offen­sicht­li­cher, auch wenn er sei­ne alten Bücher alle unver­än­dert wie­der auf­le­gen ließ. Inso­fern bekann­te er sich zu deren Inhalt, ging aber einen Weg, der noch vor 1933 undenk­bar für ihn gewe­sen wäre. Was dabei beson­ders her­aus­sticht, ist das Enga­ge­ment als »poli­ti­scher Schrift­stel­ler«, der zuneh­mend unge­hal­te­ner mit der deut­schen Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart ins Gericht ging. Die­se Blick­ver­en­gung ist ver­mut­lich nur bio­gra­phisch zu erklä­ren. Jas­pers und sei­ne Frau hat­ten in den letz­ten Jah­ren der NS-Zeit unter per­ma­nen­ter Angst vor Depor­ta­ti­on gelebt. Sein Ver­trau­en in die Halt­bar­keit der Daseins­ord­nung war daher noch gerin­ger gewor­den. Offen­bar gab er sich an 1933 eine Mit­schuld und sah sich jetzt als Phi­lo­soph in der Pflicht, sich poli­tisch ein­zu­mi­schen. Hin­zu kom­men die mensch­li­che Ent­täu­schung über Heid­eg­ger und die Freund­schaft zu Han­nah Are­ndt, die ihn in die­ser Hin­sicht offen­bar motivierte.

Wie wenig sei­ne poli­ti­sche Schrift­stel­le­rei aus­rich­ten konn­te, muß­te Jas­pers spä­tes­tens klar wer­den, als sei­ne 1960 erschie­ne­ne Schrift Wohin treibt die Bun­des­re­pu­blik (eine War­nung vor der dro­hen­den Par­tei­en­olig­ar­chie) von links als anti­de­mo­kra­ti­sche Ten­denz­schrift inter­pre­tiert wur­de. Daß Jas­pers vor­ge­wor­fen wur­de, sich aus dem Arse­nal der Schmitt-Schu­le zu bedie­nen, kann als Iro­nie der Geschich­te gel­ten. Daß er als poli­ti­scher Publi­zist kei­nen prak­ti­schen Erfolg hat­te, dürf­te ihn, wenn er sei­ner Über­zeu­gung von der »Not­wen­dig­keit des Schei­terns« treu geblie­ben ist, nicht über­rascht haben. Denn was er 1932 über Max Weber geschrie­ben hat­te, galt für ihn genau­so: »Sein Schei­tern war wesent­lich, da er das mensch­lich Wah­re, aber fak­tisch unmög­lich wollte.«

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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