von Jan Moldenhauer
Aus Sezession 68/ Oktober 2020
Auch im frühen 21. Jahrhundert hat Erdöl seine Bedeutung als Weltleitenergie nicht eingebüßt.
Noch immer werden Ölkriege (siehe Irakkrieg 2003) geführt, um den Zugang zum schwarzen Gold zu gewährleisten. Ölverfügbarkeit ist indes nicht nur ein wichtiger Faktor für Krieg, sondern – seit dem Ersten Weltkrieg – auch im Krieg, welcher auch der mächtigsten Streitmacht die Grenzen militärischer Machbarkeit aufzeigen kann.
Im Zweiten Weltkrieg erweiterte der Zugang zu billigem Öl den militärischen Machbarkeitsspielraum der Alliierten, die damals 86 Prozent der weltweiten Erdölvorkommen kontrollierten, wohingegen das Dritte Reich mit fortschreitendem Kriegsverlauf unter stetig zunehmendem Treibstoffmangel litt und zuletzt auf teure Kohleverflüssigung angewiesen war.
Jene dramatische Treibstoffknappheit erwies sich als Achillesferse, schränkte sie doch den militärischen Machbarkeitsspielraum der deutschen Generalität signifikant ein. Dieser Nachteil konnte im Ergebnis auch nicht durch ein »in Form gebrachtes« Volk aufgewogen werden. Was können zu allem entschlossene Soldaten ausrichten, wenn das schwere Kriegsgerät liegenbleibt und die Nachschublinien aufgrund von akutem Treibstoffmangel zusammenbrechen?
Der Zugang zu billigem Öl als strategische Ressource wurde somit zum (mit-)entscheidenden Faktor für den Kriegsausgang. Der Zugang zu kostengünstigem Öl ist jedoch nicht nur ein essentieller Faktor der Kriegsführung. Erdöl ist auch der Schmierstoff der Weltwirtschaft. In diesem Zusammenhang werden nachfolgend zunächst die Auswirkungen einer an die Grenzen technischer und quantitativer Machbarkeit stoßenden globalen konventionellen Ölförderung (Peak Oil) beschrieben.
Anschließend werden daraus resultierende Grenzen der Machbarkeit im Hinblick auf die ökonomische Globalisierung skizziert. Abschließend wird der damit einhergehende sich erweiternde konservative Machbarkeitsspielraum hinsichtlich der Verteidigung des Eigenen hergeleitet.
Der Begriff »Peak Oil« ist definiert als der Zeitraum, in dem das globale konventionelle Ölfördermaximum erreicht wird. Die weltweite tägliche Ölförderung kann fortan nicht mehr erhöht werden, stagniert also, und beginnt schließlich zu sinken. Seit 1980 übersteigt die Vernutzung schon entdeckter Ölreserven die mittels Probebohrungen neu entdeckten Reserven.
Die konventionelle Ölproduktion stagniert nunmehr seit dem Jahre 2008. Laut dem World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur wird jegliche Nettozunahme der globalen Ölproduktion bis zum Jahre 2035 ausschließlich auf unkonventioneller Ölproduktion basieren. Wissenschaftliche Studien resümieren, daß der Scheitelpunkt konventioneller globaler Ölförderung erreicht ist.
Die Ölfelder, die besonders kostengünstig zu förderndes konventionelles Öl enthalten, wurden mittlerweile größtenteils ausgebeutet. Die Mehrzahl jener großen Ölfelder, die seit Jahrzehnten das Rückgrat der globalen Ölproduktion bilden, ist seit 40 bis 60 Jahren in Betrieb. Ihre zeitnahe Erschöpfung und der daraus resultierende Rückgang der jeweiligen Fördermenge sind absehbar. Die weitere Ausbeutung dieser großen Ölreservoirs mittels Sekundär- (Wasserinjektion) und Tertiärförderung (Fracking) sowie die Neuerschließung kleinerer und weniger rentabler Ölfelder zur Befriedigung steigender Nachfrage gehen mit steigenden Förderkosten und sinkenden Nettoenergiegewinnungsraten (Energy Return on Energy Invested) einher.
Energiegeschichtlich gesehen ist es der Menschheit bislang stets gelungen, beim Übergang von einem alten in ein neues Energiezeitalter Energiequellen mit jeweils höherer Energiedichte nutzbar zu machen. Die Hauptenergiequelle Holz bzw. Biomasse wurde durch Kohle, die Hauptenergiequelle Kohle schließlich durch Erdgas und insbesondere Erdöl teilsubstituiert.
Stets führte also eine Energiezeitenwende zur Substitution einer im Sinne von Energiedichte und Nutzbarkeit niedrigerwertigen durch eine höherwertige Energiequelle und dadurch zu weiterem technischem Fortschritt und fortgesetzter ökonomischer Prosperität. Bei den aktuell verfügbaren Substituten im Bereich der Mobilitätsgewährleistung (unkonventionelles Öl, Erdgas, Biomasse- und Kohleverflüssigung, Elektro- und Wasserstoffmobilität) handelt es sich indes nicht um höherwertige Alternativen, sondern um Energiequellen mit geringerer Energiedichte, deutlich höheren Produktionskosten und nicht ausgereiften Technologien.
Aufgrund dessen hat bis dato im Transportsektor keine Energiewende stattgefunden. Noch immer basiert die weltweite Transportwirtschaft zu 95 Prozent auf Öl. Was folgt aus der oben beschriebenen Entwicklung? Die Antwort: steigende Transportkosten.
Darüber können auch die gegenwärtigen moderaten Ölpreise aufgrund des temporären Überangebots an den Ölmärkten nicht hinwegtäuschen, das auf folgende Ursachen zurückzuführen ist:
- eine künstlich durch Absenkung von Umweltstandards, Vergabe zinsloser Kredite und den Anreiz hoher Ölpreise aufgeblähte US-Fracking-Industrie;
- ein Preiskampf Saudi-Arabiens gegen eben jene Fracking-Industrie, die mittlerweile vor einer Pleitewelle steht und rückläufige Produktionsmengen aufweist;
- eine schwächelnde Weltwirtschaft;
- ein starker Dollar.
Der geschulte Beobachter erkennt in der Ölpreiszeitreihe vergangener Jahre einen klassischen »Boomandbust«-Zyklus, in dessen weiterem Verlauf die Ölpreise in absehbarer Zeit erneut deutlich anziehen werden. Wir halten fest: Die konventionelle Ölförderung ist an technologische und quantitative Grenzen der Machbarkeit gestoßen.
Gleich- oder sogar höherwertige und kostengünstigere Substitute für die Transportindustrie sind derzeit nicht verfügbar. Die Handelsglobalisierung ist natürlich kein Naturereignis, sondern politisch gewollt.
Ohne Freihandelsabkommen und niedrige Transportkosten sowie Transportkostensubventionen in Höhe von weltweit 200 Milliarden Dollar per annum wäre das globale Handelsvolumen signifikant niedriger und die zunehmende Aufsplittung der Produktions- bzw. Wertschöpfungskette und deren Dislozierung rund um den Globus (vertikale Spezialisierung) in dieser Form schlechterdings unmöglich.
Die Tatsache, daß aus dem Peak Oil resultierende steigende Transportkosten die Handelsglobalisierung in Frage stellen, läßt sich am Beispiel der Periode steigender Ölpreise zwischen 1998 (zwölf Dollar) und 2008 (147 Dollar) unschwer belegen: Zwischen 2003 und Anfang 2007 stiegen die Ölpreise aufgrund des sich anbahnenden Peak Oil von 30 auf 100 Dollar an und wurden durch den Transportkostenkanal (Peak Oil ➔ steigende Ölpreise ➔ steigende Treibstoffpreise ➔ steigende Transportkosten) wirksam.
Dadurch erhöhte sich die tägliche Treibstoffrechnung eines Frachtschiffs durchschnittlicher Größe von 9500 auf 32.000 Dollar. Insgesamt stiegen die Treibstoffkosten für Handelsschiffe zwischen 2002 und Mitte 2008 um 500 Prozent an.
Besagte Ölpreissteigerungen gingen in einigen Industrien mit signikanten Regionalisierungseffekten einher. Beispiel Stahlindustrie: Während der ersten drei Quartale 2008 – also vor der einsetzenden Finanzkrise im vierten Quartal – sanken die US-Stahlimporte aus Italien im Vergleich zum Vorjahr um 29,7 Prozent und aus China um 20,8 Prozent, wohingegen die US-Stahlimporte aus dem benachbarten Kanada (+21,3 Prozent) und Mexiko (+6,8 Prozent) signifikant stiegen.
Im selben Zeitraum stieg die US-Stahlproduktion um vier Prozent. Ökonometrische Zeitreihenanalysen zeigen, daß zwischen der Regionalisierung der Stahlindustrie und dem steigenden Ölpreis ein kausaler Zusammenhang besteht. Zahlreiche weitere Studien belegen ebenfalls einen Deglobalisierungseffekt während der 2000er Jahre aufgrund steigender Ölpreise.
Der Ölpreisschock zeitigte zudem einen Substitutionseffekt zuungunsten des transportkostenintensiven Lufttransports und zugunsten des vergleichsweise kostengünstigen, aber langsameren Seetransports. Die hohen Ölpreise führten also auch zu einer Entschleunigung des globalen Handels. Die Handelsglobalisierung stieß demnach an die Grenzen der Machbarkeit.
Ökonomische Globalisierung, das bedeutet nicht nur Handelsglobalisierung, also die Ausweitung weltweiter Handelsströme, sondern auch zunehmende globale Menschen- und Finanzströme. Während niedrige Transportkosten die willkürliche Verschiebung des Produktionsfaktors Mensch rund um den Globus begünstigen, haben hohe Transportkosten einen gegenteiligen Effekt. Außerdem argumentiert der Ökonom Thomas Fricke, der Peak Oil habe die Finanzkrise im Jahre 2008 (mit-)ausgelöst.
Die mögliche Kausalkette: steigende Ölpreise ➔ drastisch steigende US-Inflation ➔ kräftige Leitzinserhöhung durch die FED ➔ Pleitewelle verschuldeter Hausbesitzer infolge steigender variabler Zinssätze ➔ platzende Immobilienblase in den USA ➔ Pleite Lehman Brothers ➔ Rettungspakete europäischer Staaten ➔ steigende europäische Staatsverschuldung ➔ Griechenlandpleite ➔ Eurokrise.
Eine 2010 erstellte Studie der Bundeswehr greift die oben beschriebenen Zusammenhänge auf und bewertet den Peak Oil als systemisches Risiko für die Globalisierung, und von dorther ist nun eine abschließende konservative Perspektive sinnvoll: Billige Energie ist die Voraussetzung für Innovation und Fortschritt. Kostengünstig erschließbare fossile Energieressourcen (Erdgas, Kohle, Öl) wurden in vergangenen Jahrzehnten gemäß ökonomischer Gesetze im Regelfall zuerst ausgebeutet.
Aufgrund dessen ist eine Tendenz hin zu im Zeitverlauf steigenden Energiekosten bei ausbleibenden oder bei Förderkosten erhöhenden technologischen Quantensprüngen vorgegeben. Erneuerbare Energien werden fossile Energieträger – das gilt insbesondere für den Transportsektor – in absehbarer Zeit nicht ersetzen können.
Der Peak Oil könnte sich in diesem Zusammenhang als Fortschrittsbremse im Sinne einer Deglobalisierung erweisen, die die liberale Fortschritts‑, Konsum- und Wachstumsideologie in Frage stellt. Gelangt hier der liberale Machbarkeitswahn, also die Wahnvorstellung von der Grenzenlosigkeit des Machbaren, an seine Grenzen?
Gemäß dieser These führen billiges Öl und die damit einhergehende ökonomische Globalisierung (Ideologie des totalen globalen Marktes) zu Maßlosigkeit (Konsum- und Wachstumsideologie), Beschleunigung, Entgrenzung, Entortung, Individualisierung und Verlust der Gemeinschaft (Ideologie des Individualismus) und Identitätsverlust bzw. dem Verlust des Eigenen.
Im Umkehrschluß begünstigt teures Öl und die sich daraus ergebende ökonomische Deglobalisierung folgende Entwicklungen: Zwang zum Maßhalten, Entschleunigung, Begrenzung, Verortung und Wiederentdeckung des Ortes, Wiederkehr der Gemeinschaften und die Möglichkeit der Identitätsbewahrung bzw. der Verteidigung des Eigenen.
Billige Energie (ver-)führt zu liberalem Machbarkeitswahn und resultiert in der Einengung des konservativen Machbarkeitsspielraums. Sich signifikant verteuernde Energie wirkt wider den liberalen Machbarkeitswahn, der sich in den liberalen Subideologien manifestiert (Ideologie des totalen globalen Marktes und des Individualismus, Fortschritts‑, Konsum- und Wachstumsideologie), und führt zur Erweiterung des konservativen Machbarkeitsspielraums hinsichtlich der Verteidigung des Eigenen.
In diesem Kontext entfaltet der Peak Oil eine – wenn auch indirekte – identitätsstiftende Wirkung.