Autorenporträt Michail Bulgakow

Wenn man in Kiew die Wladimirstraße vom Goldenen Tor her an der vielkuppeligen Sophienkathedrale vorbeigeht, stößt man auf den Andreevskij Spusk, der steil hinunter in den Stadtteil Podol ans Ufer des Dnepr führt. Auf diesem Abhang, wo heute Maler und Kunsthandwerker aller Art ihre Produkte zum Verkauf anbieten, be ndet sich das Elternhaus Michail Bulgakows, das in seinem ersten Roman Die weiße Garde eine herausragende Rolle spielt. Vierzehn Machtwechsel durchlebte Kiew nach Bulgakows eigener Zählung in jenen Monaten am Ende des Ersten Weltkrieges, als deutsche Truppen, zarentreue Weißrussen, ukrainische Nationalisten und Bolschewiki um die Stadt rangen. In dieser von Straßenkämpfen, Zwangsrekrutierungen und willkürlichen Erschießungen geprägten Atmosphäre überlebten die »Turbins«, wie Bulgakow die seiner eigenen Familie nachempfundenen Protagonisten des Romans nennt, allein durch die ewigen vorpolitischen Werte des familiären Zusammenhalts, der Freundschaft und der Kameradschaft.

Wenn man in Kiew die Wla­di­mirst­ra­ße vom Gol­de­nen Tor her an der viel­kup­pe­li­gen Sophien­ka­the­dra­le vor­bei­geht, stößt man auf den And­reevs­kij Spusk, der steil hin­un­ter in den Stadt­teil Podol ans Ufer des Dne­pr führt. Auf die­sem Abhang, wo heu­te Maler und Kunst­hand­wer­ker aller Art ihre Pro­duk­te zum Ver­kauf anbie­ten, be ndet sich das Eltern­haus Michail Bul­ga­kows, das in sei­nem ers­ten Roman Die wei­ße Gar­de eine her­aus­ra­gen­de Rol­le spielt. Vier­zehn Macht­wech­sel durch­leb­te Kiew nach Bul­ga­kows eige­ner Zäh­lung in jenen Mona­ten am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges, als deut­sche Trup­pen, zaren­treue Weiß­rus­sen, ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten und Bol­sche­wi­ki um die Stadt ran­gen. In die­ser von Stra­ßen­kämp­fen, Zwangs­re­kru­tie­run­gen und will­kür­li­chen Erschie­ßun­gen gepräg­ten Atmo­sphä­re über­leb­ten die »Tur­bins«, wie Bul­ga­kow die sei­ner eige­nen Fami­lie nach­emp­fun­de­nen Prot­ago­nis­ten des Romans nennt, allein durch die ewi­gen vor­po­li­ti­schen Wer­te des fami­liä­ren Zusam­men­halts, der Freund­schaft und der Kameradschaft.

Nur den ers­ten Teil die­ses als Tri­lo­gie ange­leg­ten Wer­kes voll­ende­te der Dich­ter, sein Hand­lungs­bo­gen spannt sich von der Erobe­rung der Stadt durch die Natio­na­lis­ten Petl­ju­ras – der spä­ter zum ers­ten Prä­si­den­ten der Ukrai­ne wur­de – im Dezem­ber 1918 bis zur vor­über­ge­hen­den Macht­über­nah­me durch die Rote Armee im Febru­ar 1919. Das Cha­os und die Ver­wir­rung, den mord­be­rei­ten poli­ti­schen Haß und die Angst der Bevöl­ke­rung macht Bul­ga­kow zum Haupt­the­ma sei­ner Dar­stel­lung. Die Hal­tung der Tur­bins ist dabei klar: Mit ande­ren Offi­zie­ren und Jun­kern kämp­fen sie in der zaren­treu­en Frei­wil­li­gen­ar­mee des Het­mans Skoropadskyj.

Bul­ga­kow selbst, der wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs als Land­arzt gear­bei­tet hat­te, wur­de von den sieg­rei­chen ukrai­ni­schen Natio­na­lis­ten zwangs­re­kru­tiert, setz­te sich jedoch bald ab und schloß sich dem weiß­rus­si­schen Gene­ral Deni­kin am Kau­ka­sus an. An Typhus erkrankt, lag er in Fie­ber­träu­men, als die Stadt Wla­di­kaw­kas im März 1920 von der Roten Armee ein­ge­nom­men wur­de. Sei­nen Beruf als Arzt hat der Dich­ter ab die­sem Zeit­punkt nie mehr wie­der ausgeübt.

Noch im Novem­ber 1919 hat­te Bul­ga­kow in der Lokal­zei­tung der Stadt Gros­ny einen Durch­hal­te­ap­pell ver­öf­fent­licht und zum gna­den­lo­sen Kampf gegen die als »gesin­nungs­lo­se Schur­ken und Rasen­de« bezeich­ne­ten Bol­sche­wi­ki auf­ge­ru­fen. Nun aber akzep­tier­te er die Revo­lu­ti­on und Schre­ckens­herr­schaft einer halb analpha­be­ti­schen, jahr­hun­der­te­lang ernied­rig­ten bäu­er­lich-pro­le­ta­ri­schen Schicht, die alle Greu­el der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on und des Jako­bi­ner­ter­rors in den Schat­ten stel­len wür­de, als unab­wend­bar. An die­ser Erkennt­nis läßt er sein Alter Ego Alex­ei Tur­bin in der Wei­ßen Gar­de teil­ha­ben. Der Haß der Bau­ern (Dos­to­jew­skis »Got­tes­trä­ger«) auf die obe­ren Schich­ten wird in die­sem Roman bereits deut­lich. Der Dich­ter zeigt ver­hal­te­nes Ver­ständ­nis. Den natio­na­lis­ti­schen »Pogrom-Hel­den« Petl­ju­ras ste­hen die Tur­bins aber völ­lig feind­se­lig gegen­über, schon die ukrai­ni­sche Spra­che ist ihnen ver­haßt. Die schließ­lich sieg­reich her­an­rü­cken­de Rote Armee erscheint dem­ge­gen­über sogar als das klei­ne­re Übel – zumin­dest aber als Trä­ger eines groß­rus­si­schen Nationalismus.

Ein sowje­ti­scher Schrift­stel­ler ist Bul­ga­kow den­noch nie gewor­den. Aller­dings wag­te er (im Unter­schied zu zwei­en sei­ner Brü­der) den Gang in die Emi­gra­ti­on letzt­lich nicht, son­dern über­sie­del­te 1921 nach Mos­kau, um als Schrift­stel­ler zu arbei­ten. In den ers­ten Jah­ren muß­te Bul­ga­kow aber alle mög­li­chen Gele­gen­heits­ar­bei­ten anneh­men, um nicht mit sei­ner Frau zu ver­hun­gern. Als Wohn­raum stand dem Ehe­paar anfangs nur ein Zim­mer in einer Kom­mu­nal­woh­nung zur Ver­fü­gung, wor­un­ter der Dich­ter extrem litt. Durch den star­ken Zuzug bäu­er­li­cher Schich­ten in die Städ­te war man dazu über­ge­gan­gen, gro­ße Woh­nun­gen so auf­zu­tei­len, daß jeder Fami­lie ein Zim­mer zuge­wie­sen wur­de, wäh­rend Küche und Bad geteilt wer­den muß­ten. 1930 ste­hen in Mos­kau nur 5,5 Qua­drat­me­ter Wohn­flä­che pro Per­son zur Ver­fü­gung. Die Woh­nungs­not war auch poli­tisch gewollt: Das Leben in die­sen soge­nann­ten Kom­mu­nal­woh­nun­gen soll­te zur Auf­lö­sung der bür­ger­li­chen Fami­lie füh­ren und den kom­mu­nis­ti­schen Men­schen
her­vor­brin­gen. Vie­le Arbei­ter­fa­mi­li­en muß­ten in kaser­nen­ar­ti­gen Unter­künf­ten woh­nen, deren ein­zel­ne »Räu­me« nur mit Vor­hän­gen von­ein­an­der abge­trennt waren. Auch in den kom­for­ta­ble­ren, neu errich­te­ten Kom­mu­nal­häu­sern reich­ten die Wän­de nicht bis zur Decke, sodaß jedes gespro­che­ne Wort von den Nach­barn belauscht wer­den konn­te. Die Rus­sen ver­wan­del­ten sich in ein Volk von »Flüs­te­rern«. Zu einem Hort des Unfrie­dens, schon allein wegen der gemein­sa­men Benut­zung der­sel­ben Küche durch ver­schie­de­ne Fami­li­en, sind die­se Kom­mu­nal­woh­nun­gen trotz­dem gewor­den. Nur eine klei­ne Schicht von für die Sowjet­macht unver­zicht­ba­ren »Intel­li­genz­lern« ver­moch­te sich in die­sen Jah­ren eine pri­vi­le­gier­te­re Stel­lung zu sichern.

Die Ein­füh­rung der Plan­wirt­schaft durch die sieg­rei­chen Kom­mu­nis­ten hat­te zudem zu einer lan­des­wei­ten Hun­gers­not und zu Bau­ern­auf­stän­den geführt. Neue Klei­dung und ande­re Kon­sum­gü­ter waren fak­tisch nicht mehr erhält­lich. Das gewal­ti­ge Anschwel­len der Büro­kra­tie – schon drei Jah­re nach der Revo­lu­ti­on muß­te die zehn­fa­che Men­ge von Beam­ten im Ver­gleich zur Zaren­zeit ernährt wer­den – trug mehr zur Ver­schär­fung des Pro­blems als zu sei­ner Lösung bei. Lenin reagier­te 1921 mit der Ein­füh­rung der »Neu­en Öko­no­mi­schen Poli­tik« (NEP), die Klein­bau­ern und Gewer­be­trei­ben­den gewis­se Frei­hei­ten ein­räum­te. Zum Ärger der über­zeug­ten Bol­sche­wi­ki führt dies zu einem sofor­ti­gen wirt­schaft­li­chen Auf­schwung, aber auch zur Bil­dung einer Klas­se Neureicher.

In die­ser Zeit schrieb Bul­ga­kow nicht nur an sei­nem ers­ten Roman, son­dern konn­te auch eini­ge sati­ri­sche Erzäh­lun­gen ver­öf­fent­li­chen –, und ein Thea­ter­stück, in dem er sich kri­tisch mit der sowje­ti­schen Wirk­lich­keit aus­ein­an­der­setz­te. 1925 kam auch die Thea­ter­fas­sung der Wei­ßen Gar­de unter dem Titel Die Tage der Tur­bins auf die Büh­ne, von Bul­ga­kow auf mehr­fa­che Inter­ven­ti­on wider­wil­lig mit einem sowjet­freund­li­chen Ende ver­se­hen. Dann aber wur­de der Hahn zuge­dreht: Die Zeit­schrift, die Die wei­ße Gar­de bereits zu zwei Drit­teln ver­öf­fent­licht hat­te, wur­de ver­bo­ten, die Buch­aus­ga­be der ers­ten Erzäh­lun­gen Bul­ga­kows kurz nach der Ver­öf­fent­li­chung eingezogen.

Der bedeu­tends­te Text aus die­ser Zeit, Hun­de­herz, erschien über­haupt erst 62 Jah­re nach sei­ner Ent­ste­hung. Die Behör­den beschlag­nahm­ten das Manu­skript und auch Bul­ga­kows Tage­bü­cher, in denen die­ser aus sei­nem Haß auf die Sowjet­uni­on kei­nen Hehl gemacht hat­te. Nur einer Inter­ven­ti­on Maxim Gor­kis, der Bul­ga­kow als Schrift­stel­ler über­aus schätz­te, ist es zu ver­dan­ken, daß die­ser das Manu­skript wie­der zurück­er­hielt und Hun­de­herz 1987 ver­öf­fent­licht wer­den konn­te. Die­ser kaum 140 Sei­ten star­ke Kurz­ro­man ist eine Sati­re der beson­de­ren Art auf die sowje­ti­sche Gesell­schaft. Prot­ago­nist ist ein auch in der neu­en Gesell­schaft erfolg­rei­cher Pro­fes­sor, des­sen Schön­heits­ope­ra­tio­nen ihm die Unter­stüt­zung höchs­ter Krei­se garan­tie­ren. Die­ser stat­tet den Hund Scha­rik mit einer mensch­li­chen Hypo­phy­se und mensch­li­chen Gona­den aus. In der Fol­ge ver­liert der Hund sein Haar, beginnt auf­recht zu gehen, zu spre­chen – und ver­wan­delt sich über­haupt ganz in einen Men­schen. Das End­ergeb­nis läßt jedoch zu wün­schen übrig. Scha­ri­kow, wie sich der neue Sowjet­bür­ger nennt, geht auch als »neu­er Mensch« sei­ner ursprüng­li­chen Pas­si­on nach: Mit Leder­ja­cke, Pis­to­le und Schaft­stie­feln, in der Uni­form eines sowje­ti­schen Scher­gen, wid­met er sich als staat­li­cher Funk­tio­när der Ver­nich­tung streu­nen­der Kat­zen. Doch damit nicht genug: Sein Anspruchs­den­ken, sein pro­le­ta­ri­sches Beneh­men und sei­ne sich immer wei­ter stei­gern­de Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der kom­mu­nis­ti­schen Dok­trin las­sen ihn zur Bedro­hung für sei­nen Schöp­fer wer­den. Gemein­sam mit sei­nem Gehil­fen über­wäl­tigt ihn die­ser schließ­lich und macht die Ope­ra­ti­on rück­gän­gig. Weni­ge Tage spä­ter mel­den sich Mili­zio­nä­re auf der Suche nach dem Genos­sen Scha­ri­kow und ver­däch­ti­gen den Pro­fes­sor, ihn ermor­det zu haben. Doch der führt ihnen unge­rührt das sich wie­der lang­sam in einen Hund zurück­ver­wan­deln­de Wesen vor. Daß die­ser frü­her spre­chen konn­te, räumt er auf Nach­fra­ge ein und ruft aus: »Das bedeu­tet noch lan­ge nicht, Mensch zu sein!« In der Schluß­sze­ne des Buches genießt der ganz wie­der Hund gewor­de­ne Scha­ri­kow die Wär­me der geheiz­ten Woh­nung und beglück­wünscht sich, den ehe­ma­li­gen Stra­ßen­kö­ter, hier Auf­nah­me gefun­den zu haben.

Die Bot­schaft der Sati­re ist klar: Nicht ein­mal die Wis­sen­schaft kann ein Indi­vi­du­um auf ein höhe­res kul­tu­rel­les Niveau heben. Der Kom­mu­nis­mus, der damals gezielt Abkömm­lin­ge der unters­ten Schich­ten auf Lei­tungs­funk­tio­nen hob (sogar bäu­er­li­che Abkunft galt als Stig­ma!), wür­de schei­tern. Gesell­schaft­li­cher Auf­stieg läßt sich weder ideo­lo­gisch ver­ord­nen noch mit den Metho­den des heu­ti­gen »Mana­ge­ri­al Sta­te« (Paul Gott­fried) her­bei­füh­ren; er ist aus­schließ­lich Ergeb­nis eines mühe­vol­len Pro­zes­ses der Selbst­ver­ede­lung, zu der nur weni­ge imstan­de sind. Im Übri­gen gilt: Jeder an sei­nem Platz. Das Los eines her­ren­lo­sen Stra­ßen­kö­ters ist bemit­lei­dens­wert, der Hund, für den sein Herr sorgt, hat es gut. In solch pater­na­lis­ti­scher Wei­se sah der Dich­ter wohl auch die Auf­ga­ben des Staates.

Obwohl Bul­ga­kow ab Mit­te der 1920er Jah­re in der Pres­se zuneh­mend als »Reak­tio­när« gebrand­markt wur­de – Die Tage der Tur­bins ver­schwand den­noch nicht vom Spiel­plan. Dies lag wohl dar­an, daß das Schau­spiel einen ganz beson­de­ren Lieb­ha­ber gefun­den hat­te: Gan­ze fünf­zehn Male hat Josef Sta­lin selbst das Stück im Mos­kau­er Künst­ler­thea­ter gese­hen und mehr­fach des­sen Abset­zung ver­hin­dert. Mit mehr als ein­tau­send Auf­füh­run­gen war es ein Jahr­zehnt lang der größ­te Mos­kau­er Publi­kums­er­folg, durf­te jedoch in kei­ner ande­ren Stadt auf­ge­führt wer­den. Bul­ga­kow sah sich damit in sei­nem künst­le­ri­schen Anspruch bestä­tigt, »lei­den­schafts­los über den Roten und den Wei­ßen zu stehen«.

Unver­zagt schrieb er wei­ter Thea­ter­stü­cke für das Künst­ler­thea­ter. Sie wur­den jedoch ent­we­der nicht zur Auf­füh­rung zuge­las­sen oder bald abge­setzt. Sta­lin selbst bezeich­ne­te zwei der Stü­cke als »anti­so­wje­tisch« und als »Schund«. Die in der Pres­se gegen ihn for­cier­ten Kam­pa­gnen mach­ten dem Dich­ter zu schaf­fen, ver­schie­de­ne psy­cho­so­ma­ti­sche Erkran­kun­gen quäl­ten ihn. Mehr­fach bat Bul­ga­kow die Sowjet­re­gie­rung um Aus­wei­sung. Im April 1930 klin­gel­te das Tele­fon: Sta­lin war am Appa­rat. Bis an sein Lebens­en­de bereu­te Bul­ga­kow, auf Sta­lins Nach­fra­ge geant­wor­tet zu haben, er kön­ne es sich eigent­lich nicht vor­stel­len, als rus­si­scher Schrift­stel­ler außer­halb sei­ner Hei­mat zu leben und wür­de es vor­zie­hen, in Mos­kau zu blei­ben, wenn er nur eine ent­spre­chen­de Arbeits­mög­lich­keit hät­te. Dar­auf­hin sicher­te ihm Sta­lin einen Pos­ten als Dra­ma­turg am Künst­ler­thea­ter zu.

Eine gewis­se Ehr­furcht gegen­über dem Dik­ta­tor konn­te sich Bul­ga­kow damals nicht ver­sa­gen – ähn­lich wie Pro­kof­jew und Schost­a­ko­wich, die Ach­ma­towa oder Pas­ter­nak. Außer­dem ver­ban­den sich mit Sta­lins Wen­de vom sozia­lis­ti­schen Inter­na­tio­na­lis­mus zum natio­na­len »Sozia­lis­mus in einem Land« sowie der Abrech­nung mit Trotz­ki und ande­ren Alt­bol­sche­wi­ken kurz­fris­tig poli­ti­sche Hoff­nun­gen. In Wahr­heit war jedoch bereits der ers­te Vier­jah­res­plan von 1929 ein äußerst nega­ti­ver Wen­de­punkt in der Sowjet­ge­schich­te. Hat­te es wäh­rend der NEP noch 400000 regis­trier­te Pri­vat­un­ter­neh­men gege­ben, wur­den die­se nun mit büro­kra­ti­schen Maß­nah­men (extrem hohe Steu­ern, Ent­zug des Wahl­rechts etc.) ver­nich­tet. Zudem zer­stör­te die Kol­lek­ti­vie­rung der Land­wirt­schaft die jahr­hun­der­te­al­te dörf­li­che Lebens­wei­se in Ruß­land. Ver­bun­den mit der Ein­füh­rung der Kol­cho­sen war die Ver­fol­gung der soge­nann­ten Kula­ken, also der wohl­ha­bends­ten und damit meist tüch­tigs­ten Bau­ern. Jedem Dorf wur­de eine Quo­te von drei bis fünf Pro­zent von Fami­li­en auf­er­legt, die zu depor­tie­ren sei­en, völ­lig unab­hän­gig davon, wie die Besitz­ver­hält­nis­se in Wirk­lich­keit waren. Ins­ge­samt wur­den rund sechs Mil­lio­nen Men­schen in Arbeits­la­ger oder Son­der­sied­lun­gen ver­schickt. Die Fol­gen für die Land­wirt­schaft waren kata­stro­phal und führ­ten schließ­lich zu einer geplan­ten Hun­gers­not unter der Land­be­völ­ke­rung, der zwi­schen 4,6 und 8,5 Mil­lio­nen Men­schen zum Opfer fie­len. Auch die Zahl der Gulag-Häft­lin­ge ver­hun­dert­facht sich in kur­zer Zeit auf eine sie­ben­stel­li­ge Zahl. Mil­lio­nen Kin­der streif­ten als Wai­sen durchs Land, weil ihre Eltern ver­hun­gert oder depor­tiert wor­den waren. Allein die staat­li­chen Wai­sen­häu­ser beher­berg­ten mehr als 800000 Insassen.

Doch die Gesell­schaft änder­te sich noch in einer ande­ren Hin­sicht: Hat­ten die Bol­sche­wi­ki der ers­ten Gene­ra­ti­on die kom­mu­nis­ti­sche Armut des gan­zen Vol­kes noch weit­ge­hend geteilt, war die nächs­te Gene­ra­ti­on von Funk­tio­nä­ren dazu nicht mehr bereit. Ab 1931 wur­den wie­der abge­trenn­te Fami­li­en­woh­nun­gen gebaut, der zwei­te Fünf­jah­res­plan (1932–1937) setz­te ins­be­son­de­re auf Pro­duk­ti­ons­stei­ge­run­gen in der Kon­sum­gü­ter­in­dus­trie. Vie­le alte Rus­sen erin­nern sich an die­sen Zeit­raum als jenen, in dem sie als Kin­der ihr ers­tes Paar Schu­he beka­men. Aber auch Gram­mo­pho­ne, Par­fums und Cham­pa­gner wur­den wie­der in grö­ße­rem Maße produziert.

Für Bul­ga­kow schien die Exis­tenz anfangs gesi­chert. Opti­mis­tisch schrieb er Thea­ter­stü­cke, ein Dreh­buch und Opern­li­bret­ti. Zur Auf­füh­rung kam aber nur ein ein­zi­ges sei­ner Pro­jek­te – und es wur­de trotz gro­ßem Publi­kums­er­folg nach einem Ver­riß in der Praw­da abge­setzt. Die erneu­te Arbeit an einem Roman, des­sen ers­te Fas­sung er – ana­log zur Hand­lung sei­nes Titel­hel­den – 1930 noch ver­brannt hat­te, brach­te ihm aber schließ­lich Welt­ruhm ein. Erschei­nen konn­te Der Meis­ter und Mar­ga­ri­ta jedoch erst 1967 in einer zuerst stark zen­sier­ten Fas­sung. Trotz­dem war den rus­si­schen Intel­lek­tu­el­len sofort klar, daß sie ein Jahr­hun­dert­werk rus­si­scher Pro­sa aus der Feder eines längst ver­ges­se­nen Autors in Hän­den hiel­ten. Noch bis in die 1990er Jah­re soll­te es dau­ern, bis das Buch eine Mil­lio­nen­auf­la­ge in Ruß­land und schließ­lich auch welt­weit erfuhr und zum Kult­werk gera­de unter Jugend­li­chen wurde.

Der ers­te Hand­lungs­strang dreht sich um den Teu­fel, der unter dem Namen Voland um 1930 mit sei­ner Gefolg­schaft nach Mos­kau kommt, um dort sei­nen jähr­li­chen Satans­ball aus­zu­rich­ten. Die Begeg­nun­gen die­ser Trup­pe mit ver­schie­de­nen Reprä­sen­tan­ten der sowje­ti­schen Gesell­schaft zei­gen rasch, daß der kom­mu­nis­ti­sche Anspruch, einen »neu­en Men­schen« zu schaf­fen, fehl­ge­schla­gen ist: Die Mos­kau­er sind gie­rig, bestech­lich und kor­rupt wie eh und je, nichts hat sich geän­dert. In zahl­rei­chen gro­tes­ken Epi­so­den wird die­se Erkennt­nis vor­ge­führt. Eines ist aber neu: Unter den Intel­lek­tu­el­len hat sich der Athe­is­mus breit­ge­macht. Daß man Gott, ja ihn selbst für eine Fik­ti­on hält, belus­tigt den Teu­fel beim Gespräch mit dem Vor­sit­zen­den der wich­tigs­ten Mos­kau­er Autoren­ver­ei­ni­gung. Wie kön­nen Men­schen glau­ben, ihr Schick­sal in der Hand zu haben, wenn sie nicht ein­mal wis­sen, ob sie in einer Stun­de noch am Leben sein wer­den? Sei­nem Gesprächs­part­ner sagt der Satan den unmit­tel­bar danach erfol­gen­den Tod prä­zi­se vor­aus. Damit wird frei­lich auch der Anspruch der sozia­lis­ti­schen Plan­wirt­schaft, die Zukunft prä­zi­se berech­nen zu kön­nen, ad absur­dum geführt.

Bei die­sem Gespräch berich­tet Voland eben­falls von der Begeg­nung Jesu mit Pila­tus, deren gehei­mer Zeu­ge er behaup­tet gewe­sen zu sein. Jesus wird als beein­dru­cken­der Phi­lo­soph der Men­schen­lie­be geschil­dert, durch­aus jedoch nicht als Got­tes Sohn mit über­mensch­li­chen Fähig­kei­ten. Sei­ne Erzäh­lung geht naht­los in den Jesus-Roman des »Meis­ters« über, der den zwei­ten Hand­lungs­strang des Buches bil­det. Am Ende von Meis­ter und Mar­ga­ri­ta hebt Bul­ga­kow (der für sich ein kirch­li­ches Begräb­nis ablehn­te) die­se Sicht­wei­se jedoch auf: Chris­tus erscheint nun als Herr­scher des Lichts, des­sen Wün­schen sich auch der Teu­fel fügt.

Obwohl Bul­ga­kows Satan sich wie Goe­thes Mephis­to »Voland« nennt, ist sei­ne Funk­ti­on eine ganz ande­re. Wäh­rend Mephis­to Gott die Dumm­heit und Schwä­che sei­nes Geschöpfs vor Augen füh­ren möch­te, ver­steht sich Bul­ga­kows Voland als Teil der gött­li­chen Welt­ord­nung und straft Übel­tä­ter mit­leid­los. Dies wird auch bei dem gro­ßen Ball deut­lich, den er in Mos­kau ver­an­stal­tet. Durch Magie ver­wan­deln sich die Zim­mer einer klei­nen Woh­nung in fest­li­che Hal­len, die zehn­tau­sen­den Gäs­ten aus dem Jen­seits Platz bie­ten. Nicht nur Mör­der und Übel­tä­ter, auch Macht­men­schen und Kar­rie­ris­ten erschei­nen und sind für die­se eine Nacht des Jah­res von ihren Qua­len befreit. Sei­nen Gäs­ten prä­sen­tiert Voland den abge­trenn­ten Kopf eines sowje­ti­schen Kul­tur­funk­tio­närs und über­zeug­ten Athe­is­ten. Noch immer ver­mag der Tote jedoch zu sehen und zu hören. »Jedem geschieht gemäß sei­nes Glau­bens«, erklärt ihm Voland. »Nun denn, möge es so sein! Sie gehen in den Zustand des Nicht-Seins über, ich indes wer­de mich glück­lich schät­zen, aus dem Kelch, in den ich sie ver­wan­deln wer­de, zu trin­ken: Auf den Zustand des Seins!« Das Grund­the­ma des Romans ist die con­di­tio huma­na, die mensch­li­che Exis­tenz zwi­schen End­li­chem und Unend­li­chem, Gutem und Bösem. Die Leug­nung abso­lu­ter irdi­scher Wer­te und einer Welt des Über­sinn­li­chen stell­te für Bul­ga­kow das schwers­te Ver­ge­hen der kom­mu­nis­ti­schen Ideo­lo­gie dar.

1937/38 begann der »gro­ße Ter­ror«, der sich vor allem gegen die Bol­sche­wi­ki selbst rich­te­te. Je höher der Rang eines Par­tei­mit­glieds, des­to wahr­schein­li­cher war des­sen Eli­mi­nie­rung. Ins­ge­samt wur­den in die­sen bei­den Jah­ren 1,3 Mil­lio­nen Men­schen ver­haf­tet und mehr als die Hälf­te von ihnen erschos­sen. Auch vie­le von Bul­ga­kows Fein­den wur­den liqui­diert oder in den Gulag ver­bannt. Bul­ga­kow trug dar­über nie­mals sei­ne pri­va­te Genug­tu­ung als Tri­umph an die Öffent­lich­keit. Der Glau­be an sei­ne künst­le­ri­sche Potenz und Inte­gri­tät ver­ließ den Dich­ter auch damals nicht. 1939 nahm er einen Auf­trag des Künst­ler­thea­ters an, ein Stück über den jun­gen Sta­lin zu schrei­ben und fuhr zu Recher­che­zwe­cken nach Geor­gi­en. Dort erreich­te ihn die Nach­richt, daß der Dik­ta­tor das Stück kei­nes­falls voll­endet sehen woll­te. Die­sen Schlag ver­kraf­te­te Bul­ga­kow nicht mehr. Schon auf der Rück­fahrt erwar­te­te er Depor­ta­ti­on und Tod, doch bei­des blieb ihm erspart. Jedoch brach bei ihm jene Nie­ren­krank­heit aus, die schon sei­nen Vater, einen Theo­lo­gen, in jun­gen Jah­ren das Leben gekos­tet hat­te. Nach meh­re­ren Mona­ten des Lei­dens starb Bul­ga­kow, nur 49 Jah­re alt, am 10. März 1940 in Moskau.

Alle 20 Schaf­fens­jah­re hat Bul­ga­kow unter Sowjet­herr­schaft zuge­bracht. Sein ein­zi­ges Ziel war, im Strom der gro­ßen rus­si­schen Lite­ra­tur einen geach­te­ten Platz ein­zu­neh­men. Daß er sich trotz öffent­li­cher Äch­tung künst­le­risch nie ange­paßt hat, macht ihn zum letz­ten Klas­si­ker der rus­si­schen Prosa.

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