Die zeitgenössische deutsche Linke ist überwiegend langweilig und systemstabilisierend. Mit einem Terminus des überaus populären kommunistischen Intellektuellen Slavoj Žižek kann man sie als »fukuyamanisch« bezeichnen, da sie zu keinen grundsätzlichen Interventionen gegen den globalen Kapitalismus und seine mannigfaltigen Strukturen bereit ist, sondern sich im liberalkapitalistischen »Ende der Geschichte« Francis Fukuyamas eingerichtet hat. Die bestehenden Verhältnisse werden als das maximal Mögliche akzeptiert, man versucht lediglich, die Gesellschaft sozial gerechter und »toleranter« zu machen (vgl. Žižek: »Wie man vom Anfang beginnt«, in: C. Douzinas/S. Žižek: Die Idee des Kommunismus, Bd. 1, Hamburg 2012, S. 251–270). Der im Grenzbereich zwischen Ideengeschichte, Lacanscher Psychoanalyse, Philosophie und Agitprop wirkende Slowene (Jahrgang 1949) trifft die Ratlosigkeit einer postmodernen Linken, die zwar moniert, »die westliche ›verwaltete‹ Gesellschaft« sei »Barbarismus in Gestalt von Zivilisation, der höchste Punkt von Entfremdung«, die aber resigniert habe und meine, »alle anderen soziopolitischen Regime seien schlimmer, so daß man es vergleichsweise dennoch zu unterstützen habe.« (Willkommen in interessanten Zeiten!, Hamburg 2012). Diese Diagnose gilt im besonderen für jene Strömungen der Linken, die sich derzeit im »Refugees-Welcome«-Sound Gehör verschaffen und die im Mainstream gängigen Forderungen auf die Spitze treiben. Die Koinzidenz zwischen der Affirmation des freien Marktes und offener Grenzen entgeht ihnen. Sie wollen – wie das Gros der Apologeten des Kapitalismus – die multikulturelle Gesellschaftsordnung. Dabei wagen sie es nicht einmal zaghaft, eine naheliegende Frage zu formulieren, die Žižek früh in den Raum stellte: Was ist, »wenn dieser entpolitisierte Multikulturalismus die Ideologie des globalen Kapitalismus ist?« (Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien 1998, mittlerweile 6. Auflage).
Die Linke ist – zumindest in bezug auf elementare Fragen – zahm geworden, sie konzentriert ihr politisches Bemühen auf den »Kampf gegen Rechts« und die Fetischisierung bisweilen grotesker Minderheitenanliegen. Gänzlich betäubt vom süßen Gift der sie alimentierenden Zivilgesellschaft entgeht ihr, daß sie das Koordinatensystem des Kapitalismus angenommen hat und auf diesem Terrain lediglich die konkrete Ausgestaltung des Alltags ändern will. Das Wirken des Kapitals bei der Forcierung hybrider Identitätsbildung und der Schaffung immer neuer Minderheiten bleibt ihr fremd. Desgleichen die Tatsache, daß »eine solche unablässige Diversifikation nur möglich und denkbar vor dem Hintergrund der kapitalistischen Globalisierung ist«, daß also in der Konsequenz »der Begriff des ›Multikulturalismus‹ perfekt in die Logik des globalen Marktes« passe (Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt a.M. 2002).
Denn die »einzige Verbindlichkeit zwischen diesen multiplen Gruppen« sei »die Verbindlichkeit des Kapitals selbst, immer bereit, die spezifischen Forderungen jeder Gruppe und Untergruppe zu befriedigen«. So wie das globale Kapital die Bedürfnisse von immer neuen Minderheiten weckt und stillt, so kreativ ist es bei der Anpassung an örtliche Religionen und Traditionen. Da es, so betont Žižek wiederholt, keine kapitalistische Weltanschauung als solche gibt, die daher auch keine einheitliche kapitalistische »Kultur« hervorbringen kann, besteht die grundsätzliche Lehre der derzeitigen Globalisierungsprozesse »darin, daß sich der Kapitalismus selbst allen Kulturen anzupassen vermag« (Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen, Hamburg 2011).
Mit Žižek ist – ohne ihn unhöflicherweise seines kommunistischen Bekenntnisses und des universalistisch-egalitären Elans zu berauben – weder die gegenwärtige multikulturelle kapitalistische Gesellschaft, noch die Erhebung der »Refugees« zum »revolutionären Subjekt«, noch die sofortige Öffnung aller Grenzen zu machen. Diejenigen, die letztgenanntes fordern, bezeichnet Žižek in seinem jüngst veröffentlichten Kompendium als die »größten Heuchler«, da sie insgeheim wüßten, daß diese Forderung nicht realisierbar sei (Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror, Berlin 2015).
Multikulturalismus brandmarkt er als »eine verleugnete, verkehrte, selbstreferentielle Form des Rassismus«, und zwar eines solchen »Rassismus, der seine eigene Position von jeglichem positiven Inhalt freigemacht hat«. Das enfant terrible des neoleninistischen Kommunismus hat trotz solch offenkundig neurechter Anwandlungen gebührliche Resonanzräume an Universitäten und in Feuilletons. Um so wichtiger ist es, Žižeks Logik partiell zu adaptieren, gilt doch speziell für die nichtliberale Rechte die aufzuhebende Problematik, daß der linksliberale Multikulturalismus im Rahmen der kapitalistischen Ordnung »als Ideologie hegemonial ist« (Auf verlorenem Posten, Frankfurt a.M. 2009, mittlerweile 6. Auflage).
Für Žižek ist es nicht »wahr«, nicht Sinn und Zweck des menschlichen Daseins, als Konsument und Ware (durch Verkauf seiner selbst als Arbeitskraft) über den Globus zu zirkulieren wie ein bindungsloses, austauschbares Objekt. Die entstandene »neue globale Klasse« der »Weltbürger« – etwa mit »einem indischen Paß, einem Schloß in Schottland, einer Zweitwohnung in New York und einer Privatinsel in der Karibik« –, die in privaten, bewachten Wohnanlagen verkehrt, nde ihr Gegenstück in den Slums der Megastädte und den Flüchtlingsströmen: »Es sind zwei Seiten derselben Medaille, die beiden Extreme der neuen Klassenteilung.«
Anders als viele Linke will Žižek das globale Armutsproblem nicht lösen, indem alle Weltprobleme nach Europa importiert werden; sein Anspruch beinhaltet nichts weniger als das gewiß utopische Ziel, »die Basis der Gesellschaft weltweit so umzugestalten, daß keine verzweifelten Flüchtlinge mehr auf diesen Weg gezwungen werden« (Der neue Klassenkampf). Žižek weiter: »Der erste Schritt ist selbstverständlich, die eigentliche Ursache ebenso in den Dynamiken des globalen Kapitalismus ausfindig zu machen wie in den Abläufen militärischer Interventionen. Kurzum, im anhaltenden Durcheinander der ›Neuen Weltordnung‹, dem wahren Gesicht unserer Zeit.« Hier wie im folgenden ist Žižek zuzustimmen, daß als das primäre
Problem für die wandernden Völkermassen die horrende Anzahl »gescheiterter Staaten« anzusehen ist, deren Kollaps meist infolge internationaler Wirtschaft und Politik herbeigeführt wird. Diese gewaltige Problematik kann weder mit Hilfe der Europäischen Union noch der reichen sunnitischen Golfstaaten – etwa Saudi-Arabien oder Katar – gelöst werden. Die »Außenposten des westlichen Kapitals« sind wesentlich für die Krisen dieser Tage verantwortlich, ob es um das »Aufkommen einer neuen Sklaverei« oder um die Verursachung von Flüchtlingsströmen durch Entfesselung von Kriegen – etwa gegen Syrien oder im Jemen – geht.
Es handelt sich bei dieser globalen Problemstellung um die explosive Komplizenschaft zwischen Liberalismus (dem »Westen«) und religiösem Fundamentalismus (Saudi-Arabien et al.) unter der Dominanz des Kapitals. Daher sind die Bausteine der Weltwirtschaft der »Schlüsselbereich, dort wird die Schlacht entschieden werden, es gilt, den Bann des globalen Kapitalismus zu brechen – aber die Intervention muß politisch sein, nicht ökonomisch« (Die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012).
Diese im Kern richtige These führt indes zu jenem Punkt, an dem der gemeinsame Weg mit Žižek endet. Ihn interessiert zuallererst der globale Klassenkampf, der die Widersprüche der kapitalistischen »NWO« aufheben solle. Es liegt ihm nichts am Versuch einer Bewahrung des Bewahrenswerten und am Überleben souveräner Staaten.
Freilich kann es ohnehin nicht um vollständige Kongruenz mit einem abstrakten kommunistischen Abenteurer wie Žižek gehen. Entscheidend ist vielmehr die Schlußfolgerung, daß es für Konservative nötig ist, – in Žižeks Sprache gesprochen – die stupende Analyse der Antagonismen des globalen Kapitalismus und seiner regionalen Zentralen aufzugreifen, um die herrschenden Zustände langfristig zu ändern. Žižek hilft, über den Rahmen der vorliegenden Konstellation hinauszudenken, er beherrscht die Kunst widerständiger Träume, die nötig sind, um theoretische und praktische Streifzüge jenseits des Durchschnittlichen zu wagen.
Jede politische Intervention ist ein Sprung ins Unbekannte (vgl. Das Jahr der gefährlichen Träume, Frankfurt a.M. 2013). Aber was macht das aus in der momentanen Lage, in der selbst das unmittelbare politische Morgen völlig unbekannt sein muß? »Die Leute rebellieren nicht, wenn die ›Dinge wirklich schlecht stehen‹, sondern wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden«, konstatiert der polyglotte Provokateur (Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2015). Vielleicht sollte man der bundesdeutschen Nomenklatura daher trotz der akuten Krisensituation einfach Zeit schenken; Zeit, die gesetzten Erwartungen (»Wir schaffen das!«) gehörig in den Sand zu setzen.