Lenins vor exakt einhundert Jahren geschriebenes Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus war – und ist in Teilen immer noch – die Schlüsselschrift des Antiimperialismus. Indes: Der Schrift gehen, speziell in Deutschland, die Leser aus. Dieser Umstand hat mehr mit der rasanten Transatlantisierung und Verwestlichung der hiesigen Linken zu tun als mit einem generellen Überholtsein der Leninschen Thesen zu globalen Entwicklungen des Kapitalismus und der Aufteilung der Welt.
Die marxistische Tageszeitung junge Welt (jW) – einst Organ der Freien Deutschen Jugend (FDJ), heute so etwas wie das letzte Relikt des Antiimperialismus, nachdem sich auch die Konkurrenz neues deutschland (nd) außenpolitisch fit für das Projekt »Rot-Rot-Grün« macht – legte daher im Rahmen der diesjährigen Leipziger Buchmesse eine kommentierte Edition des Lenin-Schlüsselwerks vor. Der Verlag der jW stellt unter Beweis, daß er den antiimperialistischen Wurzeln des Hauses treu bleiben möchte. Allein: Nicht nur Lesermassen fehlen, sondern dem Periodikum gehen auch die dezidiert antiimperialistischen Redakteure und Autoren aus. 2014 verstarb mit Werner Pirker das Sturmgeschütz der Zeitung, der wiederholt vor einem Schwinden des Alleinstellungsmerkmals »Antiimperialismus« warnte, und im Februar ging der jW nun zunächst der stellvertretende Chefredakteur Rüdiger Göbel von Bord, bevor wenige Tage später mit dem ehemaligen DDR-Meisterspion Rainer Rupp (Deckname »Topas«) der nächste Altbewährte den Dienst quittierte. Gewiß: Das Personaltableau wäre für sich genommen uninteressant. Aber: Rupps Beweggründe zeigen deutlich, daß die heutige antiimperialistische Bewegung vor einem Scherbenhaufen steht.
Rupp fiel beim Führungsduo Dietmar Koschmieder und Arnold Schölzel in Ungnade, weil er – entgegen einem regelrechten »Bann« – weiterhin Kontakt mit dem ehemaligen Radiomoderator Ken Jebsen (»KenFM«) hält, der aufgrund vermeintlicher oder tatsächlicher »Rechtsentwicklungen« in der Kritik steht. Jebsen ist dabei freilich nur die Personifzierung eines Prozesses, der das Milieu rund um Friedensbewegung und jW seit Jahren mit sich selbst beschäftigen läßt. Die Streitfrage ist, inwiefern imperialismuskritische Initiativen (etwa die »Friedensmahnwachen«) nach »rechts« geöffnet sind und einer »Querfront« dienen. Rupp will es sich nicht verbieten lassen, seine Gesprächspartner selbst auszusuchen. Die jW will ihren eingeschlagenen Weg – klare Kante gegenüber jedem potentiellen Hürdenabbau nach »rechts« – nicht verlassen. Die Gefahr für letztere ist hierbei, die Grenze des politisch Sagbaren und personell Tragbaren immer enger zu ziehen und somit ein weites Feld eigentlich ihr nahestehender Akteure im luftleeren Raum agieren zu lassen. Die strikte Haltung der jW rührt aus der Urangst, aufgrund bestimmter Positionen selbst in die Nähe rechter Denkschemata gerückt zu werden. Und diese Angst ist verständlich, denn ein zeitgemäßer Antiimperialismus, der Kapitalismuskritik, Interventionskriege und Migrationsbewegungen gleichermaßen kritisch untersucht, muß heute zwangsläufg ins Rechte übergehen, wenn er konsequent zu Ende gedacht wird.
Die Ausgangsbasis des linken Antiimperialismus ist dabei nicht zu beanstanden und heute ebenso aktuell wie vor einhundert Jahren. Von Lenin stammt die Erkenntnis, daß Imperialismus Gewaltpolitik zur Erweiterung der Hegemonie kapitalistischer Großmächte ist. Und sein Weggefährte Nikolai Bucharin definierte Imperialismus als jene Politik, durch die die Welt der Herrschaft des Finanzkapitals unterworfen wird, Finanzkapital dabei – in der Nachfolge der Analysen Rudolf Hilferdings – als Komplex aus Industrie und Banken verstehend. Deutlich wird, daß auch 2016 das Wesen des Imperialismus unverändert ist. Ohne weiteres kann die zeitgenössische Wirtschaftsordnung als Finanzmarktkapitalismus bezeichnet werden, wobei Lenins alte Theorie des Übergewichts von Finanzkapital gegenüber anderen Formen des Kapitals und der globalen Vorherrschaft der Finanzoligarchie gar nicht alt erscheint. Richtig ist auch, daß der Staat aufgrund dieser Umstände zum »direkten Erfüllungsgehilfen« des transnationalen Finanzkapitals »im Kampf um die Neuaufteilung der Welt« herabgesetzt wird, wie die Wirtschaftshistorikerin Gretchen Binus akzentuiert. Selbst Rosa Luxemburg ist recht zu geben, wenn sie 1913 in der Akkumulation des Kapitals den – heute als Gemeinplatz anzusehenden – Umstand nachweist, daß der Kapitalismus wesensgemäß zu Imperialismus führen müsse, weil er ohne stete internationale Expansion nicht überleben könne.
Antikapitalismus und Antiimperialismus sind folgerichtig nicht voneinander zu trennen, das eine bedingt das andere. Dessenungeachtet haben sich selbst als links definierende Theoretiker sich dem Imperialismus und dem interventionistischen »Freiheitsexport« verschrieben: Sie erkennen die »Pax Americana« an, sprechen von einem »guten Imperialismus« (Michael Walzer) oder affirmieren den »Menschenrechtsanwalt als Imperialist« (Michael Ignatieff). Dieser dem US-Neokonservatismus ähnlichen Lesart eines »ethischen Imperialismus« folgen etliche linke Strömungen. In Deutschland befinden sich darunter weite Teile der linken Presselandschaft (von Jungle World bis zur taz), aber auch der Linkspartei-Jugend sowie der Mutterpartei. Sich als »antideutsch« deklarierende Kreise verpflichten sich der »menschenrechtsimperialistischen Doktrin des Westens« (Susann Witt-Stahl/Michael Sommer) und drängen hysterisch jene linken Akteure an den Rand, die weiterhin politische Theorie und Praxis am Zwillingspaar Antikapitalismus/Antiimperialismus ausrichten. Die erforderliche Kritik des »parasitären«, weil nicht selbst produktiven Bank- und Finanzkapitals wird seitens der prowestlichen Linken als »antisemitisch« denunziert, US-Hegemonie als Schutz vor der Barbarei empfunden, Kriegsgegner und Antiimperialisten jeder Couleur – Spannbreite: von Xavier Naidoo bis Sahra Wagenknecht – nicht selten als Kryptorechte gebrandmarkt. Exakt diese permanente Drangsalierung antiimperialistischer Kreise durch ihre mächtigen transatlantischen Gegenspieler innerhalb der Linken läßt keine Einheit der Antiimperialisten zu; die von außen injizierte Lähmung verläuft erfolgreich. Analog zu vergleichbaren ideologischen und persönlichen Ränkeschmiedereien innerhalb der Rechten bindet die Abwehr von Vorwürfen stets Ressourcen. So wird innerhalb der linken Friedensbewegung und des Antiimperialismus mehr Zeit damit verbracht, sich gegenseitig abzulehnen, um selbst nicht in den Ruch des Diabolischen (»Querfront!«) zu geraten – siehe beispielsweise Causa Rupp/Jebsen –, anstatt die Forcierung eines zeitgemäßen Antiimperialismus betreiben zu können.
Dabei wäre in der aktuellen Situation genau dies eine Option. Diether Dehm (MdB, Die Linke) artikulierte daher während einer Veranstaltung (»Antiimperialismus heute«) in Berlin am 9. Januar 2016, daß ein zu eng gefaßter linker Antiimperialismus neurechten Bewegungen zugute käme. Darauf darf man in der Tat hoffen, denn durch den stetigen Säuberungsprozeß schaffen junge Welt und Co. ein enormes Vakuum, in das zu stoßen die Aufgabe einer nichtimperialistisch und nichtwestlich gesonnenen Neuen Rechten sein könnte. Denn Imperialismus bleibt auch nach dem »Katastrophenzeitalter« (Eric Hobsbawm) 1914 bis 1945 und nach dem bipolaren Kalten Krieg ein Schlüsselthema der Weltpolitik. Innerimperialistische Interessengegensätze wachsen, der unipolare Anspruch der USA wird herausgefordert, China und Rußland werden selbst – in deutlich geringerem Umfang als die USA – imperialistische Faktoren, während die meisten Staaten der Europäischen Union (EU) durch NATO-Strukturen und wirtschaftliche Bindungsmittel wie TTIP fest an den Großen Bruder gebunden bleiben. In Washington werden die Spielregeln für das globale Finanzsystem festgelegt, nicht in Brüssel. In diesem Sinne sind die Rußlandsanktionen auch weniger Machwerk der EU, als vielmehr Resultat des Gehorsams den USA gegenüber, die Rußland als Störer ausgemacht haben, da Putins Nation die westlich implementierte Hegemonialordnung nicht mehr widerspruchslos hinnimmt und – im Sinne Carl Schmitts – eine multipolare Weltordnung respektive ein »Pluriversum« anstrebt.
Dabei kann der russische Präsident im übrigen bequem darauf verweisen, daß die imperialistischen Kriege der letzten Jahre ausnahmslos von USA und NATO sowie ihren Satrapen wie Saudi-Arabien angezettelt wurden: Dieser Befund zählt für Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und zuletzt für den »vergessenen Krieg« im Jemen gleichermaßen. Die Liberalkonservativen auf der Rechten in Deutschland schweigen an dieser Stelle beharrlich, was einen guten Grund hat: Man ist selbst Fleisch vom Fleische und eng verzahnt in der transatlantischen Fronde. Auch als »konservativ« geltende Bundespolitiker, etwa Atlantik-Brücke-Kader und Hoffnung jungfreiheitlicher Medien wie Friedrich Merz (CDU), stellen im Zweifelsfall niemals das Primat der Beziehungen zu den USA in Frage. Man berührt hier auch den schwierigen Punkt eines »deutschen« Imperialismus. Daß der »Hauptfeind« im eigenen Lande steht, wie Karl Liebknecht einst meinte, hat grosso modo erst heute, einhundert Jahre später, faktische Relevanz. Mit dem Angriffskrieg gegen Serbien im Kosovokonflikt 1999 ist die Geburt des Imperialismus Marke Bundesrepublik verknüpft. Dieser wesensgemäß antinationale Imperialismus ist zwar eine genuin rot-grüne Schöpfung, wird aber von der Großen Koalition in Treue fest weiter betrieben. Denn siebzehn Jahre nach der Bombardierung Belgrads mischt die Bundeswehr nun als Gehilfe der NATO in Syrien mit, wo es, so die Journalistin Karin Leukefeld treffend, um Einfluß in einer geostrategisch wichtigen Region geht, die einerseits über Öl, Gas und Wasser verfügt, andererseits über strategische Transportwege. Es handelt sich hierbei um einen Imperialismus neuen Typs: Er ist nicht nationalistisch-chauvinistisch bis rassistisch wie im 19. und 20. Jahrhundert, sondern ökonomisch, menschenrechtlich und dem Wesen nach antinational. Neben der verhängnisvollen Selbstzerfleischung ist die Leugnung dieses Faktums die zweite große Schwachstelle des linken antiimperialistischen Lagers. Man ist auf der Linken nicht in der Lage wahrzunehmen, daß es keine Traditionslinie eines wie auch immer gearteten deutschnationalen Imperialismus von 1914 bis heute gibt, sondern daß auch der Imperialismus als jüngstes Stadium des Kapitalismus die Wesenszüge desselben teilt: flexibel und anpassungsfähig die Zeiten zu überdauern.
Dabei war und ist man im antiimperialistischen Lager der nationalen Frage nicht gänzlich abgeneigt, wie die Fälle Kurdistan, Bolivien, Venezuela, teilweise Syrien oder Kuba zeigen. Alle diese Länder sind Beispiele für die Verschmelzung eines nichtimperialistischen Nationalismus mit sozialistischen bis marxistischen Ideen. In Kubas Staatsideologie fnden sich Lenin und der Nationaldichter José Martí gleichrangig vertreten, der Nationalfeiertag wird am 26. Juli als »Tag der nationalen Rebellion« begangen, und Salvador Allende nannte Fidel Castros Umsturz mit gewisser Berechtigung eine »authentische nationale Revolution«. Kuba ist also das Musterbeispiel für den Zusammenfall sozialer und nationaler Fragen, und als solches wird die Inselrepublik von jW oder dem linken Netzwerk »Cuba Sí« gewürdigt. Der antipatriotische Affekt, den ein Werner Pirker zu Lebzeiten noch geißelte, als er vor den »antinationalen Schmuddelkindern des Neoliberalismus« (in Form der antideutschen Szene) warnte, wird allerdings auch in der jW dann bedient, wenn es um Deutschland geht. Dieses Verhalten ist insofern konsequent, als ihre Autoren in der Tradition der marxistischen Dualität »unterdrückende« versus »unterdrückte« Völker stehen und Deutschland und die bundesrepublikanische Nomenklatura im Rahmen der Austeritätspolitik als »unterdrückend« defnieren. Damit setzen sie aber Deutschland und seine Menschen mit der politischen und wirtschaftlichen Elite gleich. Man hat von rechts häufig versucht, der politischen Linken bewußt zu machen, daß auch Deutschland wie jedes andere Land vom globalen Kapitalismus unterjocht wird; am eifrigsten und zugleich inhaltlich radikalsten waren sicherlich die Anhänger Otto Strassers in den 1930er Jahren. Strassers Ablehnung jedweder Herrschaft eines Volkes über ein anderes sowie die wiederholt betonte wesensgemäße Verknüpfung von Imperialismus und Kapitalismus, von Überproduktion und der Eroberung neuer Absatzmärkte, stieß außerhalb nationalrevolutionärer Kreise der Konservativen Revolution auf taube Ohren. Obwohl nachdrücklich gegen Imperialismus Stellung bezogen wurde, blieb man im Niemandsland zwischen den parteipolitischen Extremen von KPD und NSDAP gefangen. Es gelang zwar, dem Rassenwahn fernstehende Nationalsozialisten für die antiimperialistische Strasser-Richtung zu gewinnen, und es gelang ebenso, einigen heimatbewußten Linken die Notwendigkeit des dynamischen Zusammengehens schmackhaft zu machen – aber im selben Maße, wie von ganz rechts und ganz links politische Aktivisten hinzustießen, verließen zahlreiche Anhänger Otto Strassers Gruppe, um bei Kommunisten oder Nationalsozialisten in einer größeren Bewegung zu stehen. Das »Querfront«-Bemühen auf theoretischer Basis schlug ebenso fehl wie das praktische Bemühen seines Bruders Gregor Strasser, 1932 eine »Querfront« aus Gewerkschaften, Militärs und »linken« Nationalsozialisten zur Verhinderung Hitlers zu formieren.
Wird bedacht, daß die damalige Linke wesentlich nationalorientierter gewesen ist als die heutige, und läßt man zudem den Blick über den linken Horizont der Bundesrepublik schweifen, wird schnell evident, daß jedwedes Querfront-Bemühen seitens einer »Neuen Rechten« zum Scheitern verurteilt ist. Vielmehr gilt es, durch eigene Themensetzungen und Proflierungen die Reste des linken antiimperialistischen Lagers überflüssig zu machen. De facto erledigen diese sich ohnehin von selbst:
- weil man (von Ausnahmen abgesehen) verkennt, daß in Zeiten der kapitalistischen Globalisierung die Nation als Schauplatz von sozialen und nationalen Kämpfen wieder relevant wird;
- weil teilweise im Bann von Benedict Anderson und vergleichbaren Theoretikern davon ausgegangen wird, daß Nationen »erfunden« sind;
- weil weitgehend die nationale Frage negiert und patriotisches Erleben zum bloßen Ressentiment erklärt wird;
- weil schließlich die antiimperialistische Linke eine eventuelle geistig-kulturelle Hegemonie im Bereich der Imperialismuskritik ebenso verlieren wird wie die Nähe zum »Kleinen Mann«, die aufgrund der Leugnung nationaler Besonderheiten bereits verloren gegangen ist.
Transnationale Konzerne und der Finanzkapitalismus sowie mittels Kriegen Hegemonie ausübende Allianzen zerstören heute die Lebensgrundlagen der Staaten und Völker. Weil diese beiden Pole – Kapitalismus und Imperialismus – aber untrennbar sind, weil beide die bewahrenswerte Vielgestaltigkeit der Welt auslöschen, muß die Rechte heute antikapitalistisch und antiimperialistisch sein: Sie hat etwas zu verlieren, das sie liebt; die Linke hat nichts, für das sie kämpft, noch nicht einmal mehr ein »revolutionäres Subjekt«. Daran können auch Projektionsflächen wie »Rojava« oder Kuba nichts ändern.
Ein Antiimperialismus von rechts hat hingegen gute Chancen:
- weil weite Teile der Linken »proimperialistisch« gewendet erscheinen bzw. »neoliberalisiert« wurden;
- weil der antiimperialistische Rest offenkundig mit internen Verwerfungen zu tun hat;
- weil nun ein politisches Vakuum entsteht, das die Rechte nutzbar machen kann, indem sie die eklatanten Widersprüche des liberaldemokratischen Kapitalismus sowie imperialistische Rechtfertigungsideologien aufdeckt und in einen größeren Zusammenhang stellt. Dies erfordert von der Rechten freilich einen neuen Blick auf die Flüchtlingskrise und ihre Auslöser.