Denn nach der Entscheidung der Briten für den Brexit und der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA wird auf Seiten der sich in ihrer Komfortzone langsam gefährdet sehenden Eliten offen darüber nachgedacht, nur noch solche Bürger an die Wahlurne zu lassen, die sich ihrer Verantwortung als Wähler bewußt sind.
In Brennans Plädoyer für eine Wahlrechtsbeschränkung zugunsten des Machterhalts der derzeitigen Eliten spielen die „besser informierten“ Wähler eine zentrale Rolle. „Besser informiert“ sind jene Wähler, die begreifen, daß das herrschende System nicht nur mit Blick auf ihre individuelle Situation, sondern auch mit Blick auf das große Ganze (also das Wohl der amtierenden Elite) alternativlos ist. Der Wahlakt läuft mithin zwangsläufig auf eine Bestätigung der herrschenden Verhältnisse hinaus, die überraschende oder ungeplante Abwahl einer Regierung ist nicht vorgesehen.
Damit nichts schiefläuft, sind die „besser informierten Wähler“ zuvor durch eigens erstellte Informationen (das ist mehr als nur ein Wortspiel) in Formation zu bringen. Erst dann dürfen sie – im amtlich bestätigten Vollbesitz ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung – wählen.
Während ähnliche Überlegungen in Deutschland noch noch vergleichsweise grobschlächtig einen Multiple-Choice-Test auf Basis einer Handreichung der Bundeszentrale für politische Aufklärung vorsehen und damit über einen stümperhaften Idiotentest nicht hinauskommen, sind Brennans Überlegungen schon weiter gediehen. Ihm schwebt eine Epistokratie vor, eine Weiterentwicklung der Demokratie zur Herrschaft der Wissenden. Im Klartext heißt das nichts anderes als: Der Demos, das Volk, ist unwissend – also sollte man diesen Leuten keine Einflußmöglichkeiten einräumen.
Um das Verfahren der Wahl zu vereinfachen, könnte man, wie vom mexikanischen Philosophen Claudio López-Guerra vorgeschlagen, 20.000 Leute auslosen, diese wären dann repräsentativ für das Land. Vor der endgültigen Zulassung zur Wahl müssten diese erlesenen 20.000 sich schulen lassen. Sollte der Anreiz einer Wahl zum Wähler nicht ausreichen, schlägt Brennan vor, korrekt beantwortete Fragen des Wissenstests mit Steuerfreibeträgen zu belohnen (früher nannte man das: „Wes Brot ich eß, des Lied ich sing“).
Damit erst gar keine Zweifel aufkommen können, welche Antworten die richtigen sind, wird Brennan noch deutlicher: Die „besser informierten Wähler“ sind „für Freihandel, für Einwanderung und Schwulenrechte, sie sind für das Recht auf Abtreibung… Sie wollen Steuern erhöhen, um das Staatsdefizit abzubauen. Sie wollen etwas gegen den Klimawandel tun und lehnen militärische Interventionen ab. Und sie achten auf Bürgerrechte.“
Liest sich das – mit Ausnahme der Sache mit dem Freihandel – nicht wie ein Auszug aus dem Wahlprogramm der deutschen Grünen? Denen würde dann innerhalb einer künftigen Epistokratie wohl die Rolle einer Priesterkaste zukommen.
Im Kern basieren Brennans Gedanken auf durchaus nachvollziehbaren Überlegungen: Die meisten Wähler in einer Massendemokratie haben in der Tat kaum eine Ahnung, was genau sie wählen, wenn sie denn wählen. Sie entscheiden in der Regel ohne Faktenwissen, mehr oder weniger aus dem Bauch heraus und kaum jemals aus echter Sorge um das Gemeinwohl, sondern meist geleitet durch kurzfristiges Eigeninteresse.
Diese Interessen beschränken sich im Wesentlichen auf die Sicherstellung ihrer materiellen Bedürfnisse (voller Kühlschrank, schnelles Auto, günstige Urlaubsreise usw.) und – zum Zwecke der Dauersedierung – die Bereitstellung eines 24-Stunden-Unterhaltungsangebotes. Anders sind etwa die unverändert hohen Zustimmungswerte für die Altparteien in Deutschland nicht nachvollziehbar.
Hat Brennan also recht, wenn er bestimmte Zugangsvoraussetzungen für Wahlen einrichten will? Die Beantwortung der Frage hängt natürlich ganz entscheidend von der Beschaffenheit dieser Zugangsvoraussetzungen ab. Im alten Athen, der Wiege der Demokratie, durfte bekanntlich auch nicht jeder wählen.
Das preußische Dreiklassenwahlrecht kannte die Differenzierung ebenfalls. Ist die Parole „gleiches Wahlrecht für alle“ nicht wirklich fragwürdig? Denn warum sollten die Stimmen von Eltern noch nicht wahlberechtigter Kinder nicht mehr Gewicht haben als die von Kinderlosen – immerhin wissen sich Eltern in einer ganz besonderen Verantwortung für ihren Nachwuchs.
Und wieso sollten die Stimmen von Steuer- und Abgabenzahlern nicht mehr zählen als die von reinen Leistungsempfängern – schließlich bezahlen sie den ganzen Zirkus und wissen das auch. Und müßte nicht derjenige, der als Unternehmer durch sein spezielles Wissen Leute in Lohn und Brot bringt, mehr Stimmrecht haben als der bei ihm abhängig Beschäftige?
Seltsame Gedanken? Es kommt eben ganz darauf an, welche Kriterien man zugrunde legt, wie man „Wissen“ definiert: Geht es um ein im Sinne der Eliten normiertes Wissen oder um das Wissen von persönlicher Verantwortung für Familie, Kultur und auch das Soziale? Man kann also durchaus mit Brennan gegen Brennan argumentieren.
Doch während Brennans „Wissen“ inhaltlich den gelenkten Common sense unserer Tage spiegelt und von daher im Jedermannsverständnis wie eine Ansammlung vertrauter Gemeinplätzen wirkt, würden die eben aufgeführten Überlegungen aus konservativer Sicht auf breiten Widerstand treffen.
Gegeneliten haben es eben nicht leicht. Für die gegenwärtige Machtelite wäre es sehr einfach, deren Gedanken als verantwortungslos, gefährlich und außerordentlich unsympathisch darzustellen. Die Gegeneliten hätten im Nu die Massen gegen sich. Ist vielleicht das Elitäre selbst der Irrtum?
Die Alternative zum mühsamen und wohl auch vergeblichen Kampf für ein etwas anders verstandenes Wahlrecht wäre das Plädoyer für Basisdemokratie, für Volksentscheide, für die Abschaffung der Parteiendemokratie zugunsten direkter Demokratie. Also doch lieber mehr Demokratie wagen und der elitären Epistokratie den Kampf ansagen?
Es läuft auf die Frage hinaus, ob die Massen wirklich so dumm sind, wie von Brennan unterstellt. Vielleicht sind sie schlauer, als von Brennan gedacht, und können den Nutzen für die Elite durchaus unterscheiden vom Nutzen für das Gemeinwohl und die Individuen. Die anstehenden Wahlen werden es zeigen.
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Jason Brennan: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen, Berlin 2017. 464 Seiten, 24 Euro – bestellen!
Hartwig aus LG8
""Die anstehenden Wahlen werden es zeigen.""
Die meisten wissen noch, das der "Wähler" wie ein Blatt im Winde ist, der schon 'flattert', wenn sich ein Bundeskanzler ein Paar Gummistiefel überzieht. Dennoch sollten die Wahlen des Jahres 2017 ganz nüchtern als Bestandsaufnahme der Kräfteverhältnisse gesehen werden. 20 bis 30 Prozent Nichtbeteiligung und 80 bis 90 Prozent für die Blockparteien sind - wenn es so kommen sollte - ein Votum für ein 'Weiter so'.
Zu Brennan: Zu wissen, dass die Wählerstimme des einen oder anderen Zeitgenossen genau so viel wiegt, wie meine eigene, ist schon Grund genug, das System in Frage zu stellen. Ich habe aber weniger den Sozialleistungsbezieher in der Dauer-TV-Schleife vor Augen, sondern ganz konkret ein paar Jungakademiker meines beruflichen Umfeldes, die hier ganz treffend charakterisiert werden:
https://www.youtube.com/watch?v=6ZcIUAe-DdI