Sieferle sei seit 2014 nicht mehr der Alte gewesen, referiert Grossarth, der sich in seinem Artikel immer wieder auf “Freunde” des Wirtschaftshistorikers und Kulturphilosophen bezieht (leider wollen diese Freunde allesamt anonym bleiben).
Er sei nicht mehr der Alte gewesen, sondern “verbittert, todernst, vereinsamend”. Aus dieser persönlichen, teils krankheitsbedingt aussichtslosen Lebenssituation heraus hätten dann Texte wie Das Migrationsproblem oder eben Finis Germania entstehen können, und Sieferle habe, da er sich im September 2016 umbrachte, gar nicht wissen können, daß und wo sein letztes Werk erscheinen würde.
Dieser Satz klingt ein bißchen nach Kafka und Max Brod: Wo Kafka nicht verbrannt hatte, was nie gedruckt hätte werden sollen, lag eine Veröffentlichung im Ermessen seines Nachlaßverwalters Brod, der sich über den Wunsch Kafkas auf Vernichtung seines Werkes hinwegsetzte.
Und Sieferle? Hatte er bloß vergessen, das, was an ihm “nicht mehr der Alte” war, in den Papierkorb zu verschieben und ihn hernach zu entleeren? Mitnichten: Sein Rechner sei aufgeräumt gewesen, gelöscht all das, was für eine Veröffentlichung nicht vorgesehen war, berichtet ein nichtanonymer Freund Sieferles, Raimund Th. Kolb, im Nachwort zu Finis Germania.
“Das letzte Buch hätte er niemals schreiben dürfen”, zitiert Grossarth aber wiederum einen Freund, wiederum anonym, und er ist sich sicher: Am Grab jedenfalls habe die Wissenschaft “um den alten Sieferle” geweint und nicht um jenen, dessen geistige Schlußsteine seine Witwe uns Verlegern anvertraute.
Das alles – die Wertung, der Ton, die Herleitung der späten Schriften aus Krankheit und Kränkung – ist ziemlich arrogant von Jan Grossarth. Er steht mit dieser Arroganz aber nicht allein da, sondern darf sich in Gemeinschaft wissen mit den vielen anderen Intellektuellen und Köpfen, die spätestens 2014, 2015 ihr Denken einer besonders krasse Form der geistigen Parteidisziplin unterworfen haben.
Nicht, daß es zuvor besonders viel Unabhängigkeit und Bandbreite in den Geistes‑, also Deutungswissenschaften gegeben hätte. Daß aber ein Staatsstreich von oben, ein rechtlicher Epochenwechsel, eine Willkommenstaumel bar jeder Vernunftsgrundlage und ein nachgereichtes, mittlerweile bereits ein gutes Jahr andauerndes Geheuchel der Verantwortlichen von der universitären Welt beinahe lückenlos begrüßt, unterstützt, zurechtgelogen, verteidigt und mit Tabus bewehrt wurde und wird, ist ein Offenbarungseid, und vielleicht sollte man den Begriff der geistigen Parteidisziplin noch steigern und von einer Art gegenseitiger Gleichschaltung sprechen:
Ganze Fachbereiche sind gesäubert von jenen, die eine abweichende Sicht einnehmen könnten. Als neu und gewagt gilt nicht mehr der Widerspruch (er ist unstatthaft!), sondern die Steigerung des Applauses ins Irrwitzige: Parteitagsatmosphäre, geglättetes Denken, 102% Zustimmung.
Jede Überspannung aber führt zur Erschlaffung, daher: Grossarths Arroganz und die Arroganz der vielen anderen, die meinen, man könne über Gesellschaftsschwellen hinwegsteigen und müsse hernach doch bitte noch immer “der Alte” sein, ist die Haltung jener, die den Paradigmenwechsel verpassen werden. Dies klingt gewagt, aber Grossarth selbst gibt uns in seinem Text einen Hinweis. Einer der anonymen Freunde wird mit den Worten zitiert:
Ich respektiere, daß er durch Nachdenken und die Analyse seiner Gegenwart zu manchen dieser Schlüsse gekommen ist. Ich habe Peter Sieferle für einen der klügsten Deutschen der letzten 20 Jahre gehalten, und wenn er zu diesen Schlüssen kommt, ist das nicht trivial.
So etwas zu konstatieren ist redlich: Der Freund, dem man auf seinem Denkweg folgte, zieht Schlüsse, die einem nicht egal sein können, weil man bisher nie enttäuscht wurde und vor allem frappiert vor soviel Geist, Gelehrsamkeit und Unbestechlichkeit stand.
Sieferle war nicht erfolgreich im dauerpräsenten Sinne, sondern trotz aller Sprach- und Wortschöpfungsgewalt ungeschmeidig, und er siedelte zwischen den Lagern: zu konservativ für die Grünen, zu ökologisch für die Christdemokratie, zu gebildet für jedermann, zu interdisziplinär und zu wenig knetbar für eine Karriere.
Dies alles weiß und meinte der Freund, der Sieferles Denkbewegung nicht auf die leichte Schulter nehmen oder sie als krankheitsbedingten Altersradikalismus abtun wollte.
Aber es kommt noch besser, denn es findet sich in Grossarths Text noch ein Zitat, noch so ein Satz; er ist lapidar und deswegen wichtig und mehr: die Markierung eines Zustands, eine intellektuelle Wegmarke. Er lautet:
Wir drehen derzeit fast alle nach rechts.
Ja, so ist es wohl. Bißchen spät vielleicht, Sieferle war schon viel früher in der Lage, die Zeichen der Zeit, die Fakten, die blauäugige, verfrühte Freude über den liberalen Endsieg zu begreifen, zu deuten und skeptisch zu hinterfragen oder gar zurückzuweisen. Aber egal: nun drehen derzeit also fast alle nach rechts, das können wir bestätigen, denn manche davon stehen einfach vor unserer Haustür und wollen reden, in der Sicherheit des Schweigens reden. Dann reden wir.
Es könnten nicht zuletzt die nachgelassenen Werke Sieferles sein, die jene, welche sich drehen, darin bestärken, daß sie sich zu Recht von dem abwendeten, was sie bisher für geistige Nahrung, eine stimmige Deutung oder gar die Realität hielten.
Finis Germania: Sieferle sammelte die Gärung für dieses Büchlein an, es ist eine Essenz seiner Schlußfolgerungen aus einem jahrzehntelangen, intensiven, produktiven Lektüreleben. Was Grossarth in diesem Buch so rechts und radikal und die Schmerzgrenze der berühmten Zivilgesellschaft überschreitend hält, hat Michael Klonovsky in seinen Acta diurna bereits an den tatsächlichen Textstellen abgeglichen.
Raimund Th. Kolb faßt die Stoßrichtung in seinem Nachwort zusammen:
Wir werden dominiert von instabilen, verhaltensunsicheren und arm an Selbstbewußtsein agierenden „Herrschaftseliten“ mit einem vom tief-verwurzelten Sozialdemokratismus geprägten „kleinbürgerlich-amorphen Politikstil“. Ein in alle Lebensbereiche sich hineinfressender Relativismus und eine zivilreligiös mit „Auschwitz“ aufgeladene Kollektivschuld inklusive dem Gebot permanenter Buße bedrängen unser ohnehin zu Furcht, Angst und gelegentlich Panik neigendes „Hühner-Volk“, das Volk der Nazis, das als „negativ auserwähltes Volk“ seine einzige Bestimmung im Verschwinden aus der realen Geschichte findet und sich entsprechend zu fügen weiß.
Damit ist auch Deutschlands Rolle in der Weltgeschichte besiegelt. Die einst bürgerliche Gesellschaft erreicht mit der Negation des Eigenen ein naturwüchsiges Stadium: „Nachdem das Aas des Leviathan verzehrt ist, gehen die Würmer einander an den Kragen.“ – Gemeint ist ein Rückfall auf das Niveau von Multitribalismus und der ihm inhärenten Agonalität.
Ja, dieses Buch ist erschütternd, es ist nackt und es ist – man muß das so sagen – für diejenigen geschrieben, die den Raum politischer Hoffnungen bereits verlassen haben – trotz aller Widerstandsprojekte, publizistischen Wellen und trotz der neuen Partei.
Noch einmal Kolb, die Stimmung aus seinen Gesprächen mit Sieferle zusammenfassend:
Aus der intensiven Korrespondenz und den Gesprächen mit ihm geht wohlbegründet und klar hervor, daß wir nach seiner Überzeugung den Folgen einer demographischen Überwältigung der ethnisch-deutschen Bevölkerung zugunsten einer Multikulti-Gesellschaft und dem infantil-utopischen Finalkonstrukt einer „weltbürgerlichen Kollektivität“ entgegensehen und alles, was uns heute noch lieb und teuer ist, in absehbarer Zeit verschwunden sein wird.
Aber auch vor dieser schwarzen Wand ist das ewige Pendelgesetz, das alternierende Prinzip wirksam, das jeder kennt, der leiden kann und Leidenschaft hat: Es sind nicht wenige, die nach der Lektüre ausgebeinter Lageanalysen zum Widerstand gegen das Geschwätz und zur Würde des klaren Denkens finden und die Rückstellkräfte wirksam werden lassen: Denn endlich war da einer, der sich nicht drückte, während er dachte, schrieb und ging.
Dieser Geist kann nicht mehr in die Flasche zurückgepreßt werden. Und wenn Grossarth ihn einen Molotowcocktail gegen die Demokraten nennt, bitte, es gibt eben Bücher, die halbe Regalmeter überflüssig machen. Lesen kann brutal sein, wir haben kein Mitleid. Man weiß ja nicht, was Grossarth lieber liest. Richard David Precht? Carolin Emcke? Das wäre mal einen Artikel wert: Herr Grossarths Gespür für Schnee von gestern.
Uninteressant.
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Die beiden von Grossarth angefaßten, nachgelassenen Bücher Sieferles:
Finis Germania. Verlag Antaios, 104 Seiten, mit einem Nachwort von Raimund Th. Kolb, 8.50 €, hier bestellen.
Das Migrationsproblem. Werkreihe Tumult, Band 1, 136 Seiten, 16 €, hier bestellen.
Ich bitte ausdrücklich um Bestellung über unseren Verlag. Amazon hat Finis Germania vor einigen Tagen aus dem Direktverkauf entfernt, es ist dort nur noch über Zweitanbieter erhältlich.
Ellen Kositza hat Sieferles Finis Germania übrigens in einem Video-Blog besprochen. Hier ist er.
Der_Jürgen
Vielen Dank für diesen Artikel, Götz Kubitschek. Es stimmt einen traurig, dass Rolf Peter Sieferle nicht mehr die Kraft hatte, durchzuhalten. Begreifen kann man es freilich.
Die beiden am Schluss angeführten Zitate von Raimund Kolb sind schlicht grossartig. So formulieren können nur ganz wenige.